So, jetzt hab ich sie auch gesehen, die Blutsbrüder. Selten war die Anspannung größer, denn zum einen kannte ich das Musical gar nicht, und zum anderen waren die Aussagen dazu in der Gruppe sehr sehr spärlich. Das ist prinzipiell eher ungewöhnlich. Für mich ließ das nur den Schluss zu, dass es nix taugt und sich das keiner sagen traut. Ich bin trotzdem wieder mal 5 Stunden Zug gefahren, um es zu sehen – naja, um ihn zu sehen (davon nachher mehr.) Und ich bin nicht enttäuscht worden. Es war… intensiv, herausfordernd, rührend, bisweilen richtig komisch und sehr sehr tragisch. Aber ich muss das in mehreren Teilen besprechen, sonst werde ich dem Stück nicht gerecht.
Das Musical
Das ist überhaupt der Knackpunkt an dem Ganzen und möglicherweise auch der Grund, warum es – gemessen an den Reaktionen in der Musical-Gruppe – eher untergeht: Man kann es eigentlich nicht ernsthaft als Musical bezeichnen. Ja, es wird gesungen. Aber sehr sehr wenig. In der Hauptsache ist es Sprechtheater. Sehr gutes Sprechtheater, aber nicht das, was der allgemeine Musicalfan erwartet, wenn er Karten kauft für etwas, das Musical genannt wird.
Inhalt
Trennung
Aber zunächst zum Inhalt: es geht um Zwillingsbrüder, die bei der Geburt getrennt werden. Die leibliche Mutter der Zwillinge Mrs. Johnstone kommt finanziell nur sehr knapp mit ihrer schon 5 Kinder fassenden Familie – der Mann hat sie verlassen – über die Runden. Als klar ist, dass sie Zwillinge erwartet, schließt sie einen Pakt mit ihrer Chefin: Mrs. Lyons ist in den 40ern, reich und kinderlos. Diese täuscht eine eigene Schwangerschaft vor und nimmt einen der Zwillinge zu sich. Es wird ausgehandelt, dass die Kinder nie voneinander erfahren dürfen. Der Aberglaube sagt, dass beide an dem Tag sterben werden, an dem sie erfahren, dass sie Zwillinge sind. So wächst der eine – Mickey – in sozial schwierigen Verhältnissen, aber geliebt von seiner herzensguten Mutter auf. Die reiche Mrs. Lyons freut sich über ihr Kind zunächst unbändig, wird aber im Laufe des Stückes die Angst nie los, dass der Sohn ihr nie so ganz gehören wird. Diese Angst steigert sich ins manische und zerstört die Frau zunehmend psychisch. So wächst ihr Sohn – Edward – in wohlhabenden Verhältnissen auf. Allerdings bekommt man schon eine Ahnung, dass das auch nicht das Gelbe vom Ei ist. Herzenswärme und bedingungslose, weil angstfreie Liebe erfährt Edward leider nie. Und schlussendlich landet er sogar auf einem Internat. Wo man sich als Zuschauer schon wundert: Zuerst will sie unbedingt ein Kind, dass schickt sie es auf ein Internat. Aber möglicherweise war die Angst vor Mrs. Johnstone, die immer in relativer Nähe gewohnt hat (auch ein Umzug hat da wenig genützt) als auch der Standesdünkel maßgeblich.
Wieder zusammen
Die beiden Kinder lernen sich im Alter von 7 Jahren („fast 8“ 😉 )kennen, befreunden sich, schließen Blutsbrüderschaft. Die frühere Kindheit ist dadurch auch für Edward eine, wie sie sein sollte und das wird in einer liebevollen Szene grandios dargestellt: Kinder, die miteinander spielen, sich mögen, sich zoffen und sich einfach nur frei entfalten können. Durch den besagten Umzug verlieren sie sich zwar aus den Augen, nicht aber aus dem Herzen. Und schließlich treffen sie wieder aufeinander. Mitten in der Pubertät mit 14 Jahren, das Leben vor sich. Die Freundschaft bleibt. Mit 18 dann muss der eine stupider Fabrikarbeit nachgehen, während der andere an der Universität das Leben und sich selbst feiert. Mickey hat mittlerweile Linda geheiratet, das Mädchen, das zusammen mit den Jungs immer ein Dreigestirn gebildet hat und die ihn seit Beginn der Freundschaft liebt. Sie ist schwanger. Als Mickey seinen Job verliert, versucht er zunächst noch fleißig, einen neuen zu finden. Doch das ist für einen wie ihn nicht so leicht. Als er dann auf Edward trifft, der Weihnachten feiern will, entzweien sich die Blutsbrüder. Feiern? Was sollte Mickey denn groß feiern? Da hilft es ihm nicht, dass Edward ihm Geld geben will. Für Mickey gibt es schlicht nichts, auf was man anstoßen könnte. Aus Verzweiflung lässt sich Mickey von seinem Bruder Sammy überreden, bei einem Überfall Schmiere zu stehen. Doch es geht schief und Sammy erschießt einen Menschen. Mickey wird ebenfalls verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Im Knast erhält er vom Arzt Pillen gegen seine Depressionen. Selbst, als er wegen guter Führung entlassen wird, kommt er nicht von den Tabletten weg und verfällt zusehends.
Tragisches Ende
Die geplagte Linda, die ihn trotz allem noch immer über alles liebt, wendet sich in ihrem Schmerz ihrem Kumpel und Freund Edward zu, der den beiden ohne Mickeys Wissen auch finanziell auf die Beine helfen will. Als Mickey das erfährt, kommt es zum Showdown. Mickey bedroht Edward mit einer Pistole und aus ihm bricht sein ganzer Schmerz. Mrs.Johnstone kommt hinzu und möchte Mickey aufhalten, indem sie ihm die Geschichte der Trennung erzählt. Das macht alles nur noch schlimmer. Denn jetzt stellt sich für Mickey noch viel mehr die Frage: Warum gerade ich? Er schreit seine Mutter an: Wieso hast du mich nicht weggegeben? Dann hätte ich ein tolles Leben führen können.
Mickey erschießt seinen Bruder Edward und wird daraufhin von Scharfschützen erschossen. Der Kreis hat sich geschlossen und der Aberglaube gesiegt: Ihr Leben lang getrennt, hat nur Geburt und Tod sie vereint.

Musik
Wie schon oben erwähnt: Für ein Musical wird relativ wenig gesungen. Das möchte ich hier nicht positiv oder negativ werten. Ich persönlich habe eine große Ehrfurcht vor durchkomponierten Musicals. Davon sind die Blutsbrüder weit entfernt. Gestört hat mich das überhaupt nicht. Der Eingangssong „Marylin Monroe“ kommt auch zu Beginn des zweiten Aktes und am Ende wieder. Ich fand ihn pfiffig im Text und auch melodisch gut gemacht. Und jedesmal war er einfach perfekt gesungen und schauspielerisch herzerwärmend umgesetzt. Dass er Song den zweiten Akt eröffnet ebenso wie den ersten hat mir als Zuschauer geholfen, mich nach der Pause gleich wieder ins Geschehen einzuhaken.
Ein Erzähler bringt die Story dem Publikum nahe und fungiert darüberhinaus wahlweise als schlechtes Gewissen, aber auch als alles Mögliche andere: Milchmann, Frauenarzt, Fahrkartenverköufer im Bus… Er hat ein Lied: Schuhe auf dem Esstisch, dass ebenfalls mehrmals vorkommt. Ansonsten ist er tatsächlich „Erzähler“ mit genügend Sprechtext, der stellenweise sogar gereimt daherkommt. Er kommentiert, tadelt und begleitet das ganze Geschehen mit und für den Zuschauer. Ich mag diese Art des Erzählens und die Rolle war perfekt besetzt.
Mrs. Johnstone gibt mehrere Lieder zum besten, keines ist mir aber leider im Gedächtnis geblieben. Mrs. Lyons wird musikalisch eher wenig bedacht, schade. Ich mag Ann Mandrellas Stimme.
Doch sowohl die übrigen Kinderrollen (Kinderspiel -oben schon erwähnt) als auch Mickey und Edward haben tolle Lieder: Mein bester Freund und Wie er sein. Trotzdem bleibt das Stück ungeheuer schauspiellastig.
Mir persönlich, die ich früher eher dem Schauspiel/ Sprechtheater verhaftet war, hat es eminent gut gefallen: Stimmen, die außergewöhnlich gut singen, sprechen auch schön, und die Schauspielarbeit war wahnsinnig intensiv. Und ich hätte es mir aus mehreren Gründen nochmals angeschaut. Einer davon ist die Art der
Inszenierung:
Maya Hakvoort ist Profi durch und durch und holte auch für ihre erste eigene Musicalproduktion nur ebensolche mit nach Brunn: Dean Welterlen zeichnet sich verantwortlich für die Regie, Jeff Frohner für die Musik. Da kann wenig schief gehen und ist es meiner Ansicht auch nicht.

Bühnenbild
Die Bühne in Brunn ist klein, sehr klein. Da muss das Bühnenbild gut durchdacht sein. Ganz minimalistisch gehalten mit links und rechts angedeuteten Häusern und im hinteren Teil der Bühne einem erhöhten Podium mit Geländer, darunter haben die Musiker Platz genommen.
Wahlweise werden Hausfassaden einfach umgeklappt und Möbel vom Ensemble hin- und hergeschleppt. Die Hausfassaden-Wände sind mit Tafellack bemalt, was immer wieder sehr nett genutzt wird (Mickey steht vor der Haustür, malt eine Glocke neben die Haustüre. Als er draufdrückt ertönt sofort das Ring). Das während des Spielens für alle sichtbar umgebaut wird vom Ensemble mag ich persönlich sehr. Die Geschichte ist für mich dadurch nicht steril verpackt, sondern ich hab das Gefühl, jemand gibt sich Mühe, mir die Geschichte auch eindringlich zu erzählen. Funktioniert übrigens auch -eben erst gesehen- bei Großproduktionen (Der Glöckner von Notre Dame, Stuttgart) bestens. Da es hier ja sogar die Figur des Erzählers gibt, erscheint das alles wie aus einem Guss.
So kleinen Bühnen mit abgespeckten Bühnenbild tritt man ja – trete ich – gerne skeptisch gegenüber. Sieht halt zu Beginn immer ein bisschen wie Schultheater aus. Aber dieser Eindruck weicht sehr schnell einem anderen, nämlich höchst professionellem. Alles war so toll durchdacht und griff wunderbar ineinander. Und die Selbstverständlichkeit, mit denen sich die Profis dazwischen bewegen, macht aus dieser Bühne ganz großes Kino.
Choreographie
Auf so kleinen Bühnen müssen die Wege stimmen, jeder muss seinen Platz exakt einhalten. Dazu braucht es sauber durchchoreographierte Szenen. Das war fabelhaft gelöst. Nie hatte man das Gefühl, sie stehen sich auf den Zehen, die Räume wurden toll genutzt und alles bespielt, was es zu bespielen gibt. Mir persönlich ist choreographisch die Szene im Gedächtnis geblieben, wo sich Milchmann, Polizist und Lehrer freuen, dass die Familie Johnstone endlich wegzieht. Ganz wunderbar auf die Musik choreographiert, mit viel Witz und Esprit war das gemacht, ebenso wie die Kinder-Spiel-Szenen.
Musik / Ton
Die Musiker hatten nicht so sehr viel zu tun wie in herkömmlichen Musicals. Aber das, was man hörte, war gekonnt arrangiert und souverän aufgeführt. Nicht immer war die Aussteuerung perfekt und es gab schon etliche Momente, wo ich den gesungenen Text nicht verstehen konnte. Aber das war für mich noch im Rahmen. Zweimal war Maya Hakvoort dem Ton voraus und ihr Mikro wurde erst auf die zweite Silbe hochgedreht – geschenkt.
Licht
Die Lichtregie war ungemein auf Zack. Der Erzähler unterbricht hin und wieder die Handlung, um zu kommentieren, und „schnipst“ sie wieder an. Das hat jedesmal perfekt funktioniert: Drew schnipste und das Licht ging an oder änderte sich. Das war so ein Detail, was mir irre Spaß gemacht hat. Es fängt mich immer wieder, wenn sich jemand Mühe gibt, eine Geschichte tatsächlich zu „erzählen“.
Intention / Moralkeule?
Ich hab darüber gelesen, was die Darsteller und die Produzentin über das Stück sagen. Hauptsächlich geht es um die Frage, welche Chance uns ermöglicht oder verbaut werden durch die Familie oder finanzielle Situation, in die wir geboren werden. Die Kluft zwischen arm und reich ist schon offensichtlich Thema. Allerdings habe ich das nicht so entscheidend gefunden, wie es zum Beispiel Ann Mandrella in einem Interview bewertete. Das Thema arm/ reich ist auf alle Fälle der Aufhänger für die Geschichte. Allerdings erscheinen beide Seiten durchaus durchlässig. Denn arm und reich gelten als Adjektive ja nicht nur für die finanzielle Situation. Wo der eine zwar „arm“ im herkömmlichen Sinn ist, ist er dafür reich an Geschwistern (auch nicht immer ein Vorteil, wie man an Bruder Sammy sieht) und wird überschüttet mit Liebe und Wärme. Emotional arm hingegen geht es im Elternhaus des anderen Bruders Edward zu. Die Ehe der Zieheltern ist unterkühlt, die Mutter schafft es nicht, ihrem Edward einen Reichtum an Gefühlen zu Teil werden zu lassen. Das klingt auf den ersten Blick alles sehr platt und kann natürlich auch so wahrgenommen werden. Aber es erschien mir mitnichten jeder Weg starr vorgezeichnet. Wenn es um die Frage geht, ob Kinder aus einem sozial schwachen Milieu tatsächlich keine Chance haben, ist Mickey eindeutig nicht das richtige Beispiel. Denn Mickey mach lange Zeit sehr viel richtig. Er geht zur Schule. Zwar nicht mit größtem Enthusiasmus, aber welcher Jugendliche tut das schon (auch Edward geht nicht gern zur Schule). Er findet eine Job und strengt sich an. Er versucht sogar noch lange genug, einen neuen Job zu finden, um seiner Verantwortung als werdender Vater gerecht zu werden. Bei Sammy hingegen ist die Entwicklung sehr platt gezeichnet: Als Kind auf den Kopf gefallen, von kleinauf auffällig und Autoritäten gegenüber immer abschätzig: diese Entwicklung ist von Anfang an klar. Aber gerade das macht die Figur des Mickey wahnsinnig interessant und man hat lange das Gefühl, er würde die Kurve kriegen. Er hätte die passende Frau an seiner Seite. Die Geschichte legt es zwar darauf an, dass am Ende doch die Idee alles überstrahlt, dass die Gesellschaft dem „armen“ Kind keine andere Wahl lässt, als Verbrecher zu werden. Aber ganz so schwarz/ weiß gezeichnet empfand ich es nicht. Jeder hatte immer auch die Möglichkeit, seine Entscheidung anders zu treffen. Auch in diesen Dingen sind die Menschen mit Sicherheit herkunftsgeprägt. Aber die Chance, etwas anderes zu machen, bietet sich täglich. Und so geht es in dieser Geschichte für mich ebenso um falsche Entscheidungen und nicht nur um einen durch das Milieu vorgezeichneten Weg.
Für eine Geschichte, die sich also an einem relativ platten Grundthema aufhängt, konnte ich für mich sehr viel mehr darin entdecken. Ich empfand es als vielschichtig und atmosphärisch sehr dicht, den 2. Akt noch deutlich mehr als den ersten.
Darsteller
Oh mein Gott, wo soll ich anfangen? Da war kein, aber auch kein Ausfall dabei. Nicht mal ansatzweise und auch die Kinder waren von einem Niveau. Unglaublich.
Kinderdarsteller
Hannah Hruska, Lili Beetz und Jonas Peter Zeiler gaben wahlweise die Kinder von Mrs. Johnstone oder später die ihrer erwachsenen Tochter und waren als Teil des Ensembles wirklich viel auf der Bühne. Alle haben eine beeindruckende Art, zu singen, zu spielen und sich in ihre Rolle einzufinden. Zwischen 11 und 14 Jahre alt, habe ich höchsten Respekt vor diesen jungen Talenten. Bravo!
Matthias Trattner
…hat die verstörendste Rolle: Die des Sammy Johnstone.

Er ist das schwarze Schaf der Familie, der Unsympath, der, der Mickey mitreißt und der schließlich einen Menschen erschießt. Er kommt auf die Bühne und man möchte ihm schon in den ersten beiden Minuten eine scheuern. Dieses Gefühl bleibt einem in jeder Szene, die er auf der Bühne zubringt. Also: super gespielt. Bravourös wandelt er sich dabei zunächst vom durchaus stellenweise bemitleidenswerten Arschlochkind zum Schwarzfahrer, Schulverweigerer und schließlich vom Kleinkriminellen zum Schwerverbrecher. Hier kann ich nur den Hut ziehen.
Ann Mandrella und Thomas Weissengruber
…spielten das ungewollt kinderlose Ehepaar Lyons.

Ann Mandrella nimmt man die eher unterkühlte Upperclass-Frau sofort ab. Die Angst, ihr „gekauftes“ Glück irgendwann noch teurer zu bezahlen, macht sie zu einer manisch verängstigten Frau, die jegliches Einfühlungsvermögen in ihr Kind vermissen lässt. Vor allem in der Tiefe ihrer Singstimme gefällt mir Ann unwahrscheinlich gut. In ihrem Spiel ist sie stellenweise sehr stark gestikulierend, was durchaus seine Berechtigung hat, aber nicht das Meine ist. Thomas Weissengruber macht seine Sache gut, ist aber das Stück hindurch hautsächlich nur Stichwortgeber für seine Frau.
Missy May
…liefert eine wunderbare Performance ab: Linda ist das Mädchen, das alle Jungs lieben würden. Weder zickig noch rosaroter Mädchentraum ist sie einfach nur sie selbst und selbstverständlich ein Teil dieses Dreigespannes mit den Blutsbrüdern.

Toll lässt auch sie und teilhaben an ihrer Entwicklung vom Mädchen zum verliebten Teenager bis zur verheirateten Frau, der man durchweg die Liebe zu Mickey abnimmt. Dabei bedient sie sich fein abgestimmter Gestik: Als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene geht sie so gezielt mit ihren Bewegungen um, dass es niemals angestrengt wirkt im Spiel. Ich empfand das als sehr außergewöhnlich: Die Unbedarftheit des Kindes weicht der emotional unsicheren und erwachenden Jugend und wandelt sich in Rationalität und Realität einer Frau, die auch zu ihrem Mann stehen kann, nachdem er im Gefängnis saß. Und auch, dass sie sich Edward zuwendet, ist mir kein Rätsel. Es erscheint als vollkommen logische Folge, da ihr die Situation total aus den Händen gleitet und sie keine Möglichkeit mehr sieht, zu Mickey durchzudringen. Sowohl toll gespielt als auch grandios gesungen. Vielen Dank, Missy May!
Drew Sarich
…gibt den Erzähler. Und er macht als Erzähler genau das, was er tun soll in dieser Rolle: Er trägt die Geschichte. Er trägt sie vor sich her, er nimmt sie und bereitet sie dir so vor, dass du sie nur annehmen musst. Er legt sie dir quasi vorgekaut vor die Füße. Dabei kann er ironisch, er kann fordernd, er kann belustigt. Er hilft dir passenden durch die Wendungen und begleitet sie stets selbst erschrocken, amüsiert oder staunend. Volltreffer – mal wieder von Herrn Sarich. So sind wir das gewohnt und nichts anderes haben wir erwartet. Der Mann ist wie ein Uhrwerk. Präzise und auf den Punkt, aber immer mit seiner ganzen Persönlichkeit.

Und er ist noch so viel mehr. Wie schon erwähnt, schlüpft er in alle erdenklichen Kleinstrollen. Er ist der Milchmann, dem Mrs. Johnstone Geld schuldet, in der nächsten Szene ist er ihr Gynäkologe („Ich bin nicht mehr im Milchgeschäft tätig, ich habe umgesattelt auf Medizin.“ – ein köstlicher Kommentar). Und dann ist Drew auch derjenige, der von Sammy bei dem besagten Raubzug erschossen zu Boden geht.
Die Wechsel gehen kostümtechnisch und in Drews Schauspiel so einfach und leicht ineinander über, dass man immer nur erstaunt ist, wie wenig ein guter Schauspieler braucht, um zu faszinieren. Dem Stück wird dabei ein wunderbarer Fluss verliehen und bleibt seinem eigenen Erzählstil die ganze Zeit treu.
Immer nur Drew
Nicht-Drew-Fans (gibt es das tatsächlich?) dürfen den folgenden Absatz gerne überspringen…
Ohne seine Leistung in diesem Stück zu schmälern: Können wir uns mal in Ruhe über die Erscheinung eines Drew Sarich unterhalten?
Was ist das für ein bildschöner Mann?! Was für eine Erscheinung! Der trägt das ganze Stück nur durch seine Ausstrahlung, da muss er noch nicht mal den Mund aufmachen dazu. Wie er da steht, so groß und wohlproportioniert. Die lange , schlanken Arme und Beine. Die zartgliedrigen Hände. Ich mag Drew Sarich einfach immer nur anschauen. Die schwarze Jeans und das schwarze Hemd stehen im sooo gut. Und egal, welche Pose er auch einnimmt als Erzähler, ob lässig oder gespannt, er sieht immer aus wie gemalt. Und wie der sich bewegen kann. Er hat ja selber schon oft gesagt, dass er Tanzen in der Ausbildung gehasst hat. Schade! Denn ich würde das gerne öfter sehen. Der hat nämlich nicht nur einen Traumkörper, sondern kann ihn auch noch wirklich gut bewegen. Viel Choreo war ja nicht drin. Aber die kurzen Stellen waren genial. Ich stehe offen zu der Tatsache, dass der Mann für mich das Attraktivste ist, was diese schöne Welt hervorgebracht hat.
Und sein Spiel, Kinders… das größte an Drew Sarich für mich ist das Schauspiel. Gestern hat er es geschafft, mir dieses Stück als Erzähler nahezubringen. Und dabei war er in keiner Sekunde unbeteiligt. Er hat selber so aufmerksam die ganze Szene verfolgt, als sähe er es zum ersten Mal. Er hat nicht nur erzählt und kommentiert, er hat mitgeliebt, mitgeeifert und mitgelitten. Und das aber so deutlich und dennoch so zurückhaltend, dass das Stück nicht beeinträchtigt wurde. Eine Meisterleistung der Gratwanderung. Meine Lieben, ich kann nicht anders als zugeben, dass ich diesem Mann hoffnungslos verfallen bin.
Maya Hakvoort
…ist knuddelig und prädestieniert für die Rolle als Mutter von sechs Kindern. Ihr haftet so etwas liebevolles an. Ein stückweit hat man schon die Idee, dass den Kindern stellenweise eine starke Hand gefehlt hat in der Erziehung. Sie herzt ihre Kinder, sieht ihnen vieles nach und verzeiht. Ganz liebende Mutter.

Ich war auch sehr angetan davon, wie sie die Schlichtheit dieser Frau dargestellt hat. Ganz deutlich hob sie sich ab als einfache Frau im Gegensatz zu Anns Mrs. Lyons. Jeder Widrigkeit des Lebens stellt sie sich entgegen und kämpft, dabei aber so viel weniger verbissen als Mrs. Lyons. Dabei muss Mrs. Johnstone um ihre Existenz kämpfen und Mrs. Lyons „nur“ für ihren Traum und mit sich selbst. Gesangstechnisch kann ihr eh keiner was vormachen.
Bleiben noch die Zwillinge…
Mickey und Edward
Johannes Huth ist Edward, der in wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsene Zwilling. Emotional eher zurückhaltend, wie man ihn in seiner Herkunftsfamilie erzogen hat, lässt auch er von Anfang an durchblicken, dass sein zu Hause auch nicht das Optimum darstellt. Auch er wäre gerne jemand anderer, auch ihn halten Zwänge. Die sind hier halt nicht finanzieller, sondern gesellschaftlicher Art. Auch fühlt er sich seiner Mutter verpflichtet, die aus Sorge um ihn krank wurde. Er wäre gerne jemand anderer als der Schnösel, zu dem man ihn gemacht hat, und das zeigt uns Johannes Huth unaufdringlich, aber sehr deutlich. Sehr leidensfähig gibt er sich, dabei ist doch leiden eigentlich das, was die andere Familie täglich getan hat. Oder etwa nicht? Wie stark sind seelische Leiden, wie sie dieses Kind aus reichem Hause, das nie es selbst sein konnte und überdies hinaus sich noch verantwortlich fühlt für die manischen Depression der Mutter, einzuschätzen im Gegensatz zu dem materiellen Leiden von Mickeys Familie? Diese Fragen wirft Johannes Huth mit seinem Spiel in mir auf und was anderes als ein Geschenk ist diese Art des Spiels für den Zuschauer?
Wenn Erwachsene Menschen Kinder spielen sollen, dann kann das sehr schnell sehr platt und unfreiwillig komisch werden. Johannes Huth meistert diese Schwierigkeit fabelhaft. Im Duett mit seinem Zwillingsbruder zaubern die beiden durch die stimmliche Harmonie die Harmonie ihrer Seelen auf die Bühne. Danke, Johannes Huth!

Daniel Eckert kannte ich als Cover Alfred im Tanz der Vampire und war damals schon hin und weg von seiner schauspielerischen Leistung. Ihn hier zu sehen, bestätigt meine Meinung noch einmal drastisch: Eine Granate! Er hat den deutlich größeren Part als Johannes Huth und füllt ihn verdammt noch mal derart gekonnt, dass man seinen Augen nicht traut. Er nimmt die Herausforderungen des Schicksals zunächst an. Seinen kleinkriminellen Bruder vor Augen wehrt er sich tapfer gegen ein solches Leben und man kriegt schon die Idee, dass er der einzige sein wird aus seiner Familie, der sein Leben vollends in den Griff kriegt.
Seine weitere tragische Entwicklung zieht einen in seinen Bann nicht zuletzt wegen des großartigen Daniel Eckert. Der herzerweichende Monolog: „Ich bin sieben. Schon fast acht.“ bleibt im Gedächtnis, weil auch er mit kindlicher Spielfreude diesem jungen Mickey so viel Leben einhaucht, ohne dabei überdreht oder platt zu wirken. Die Entwicklung zum jungen Erwachsenen gelingt ihm ähnlich gut wie Johannes Huth und Missy May. Und die Abrechnung zum Schluss überzog mich mit Gänsehaut.
Ich freue mich sehr, dass ich die Möglichkeit hatte, zu sehen, wie sehr diese Musicaldarsteller einfach jedes ihrer Gewerke, sei es Tanz, Schauspiel oder Gesang beherrschen.
Fazit
Mich hat das Stück gepackt. Ja, der erste Akt war eher zu lang, das geb ich gerne zu, so dass ich ihn der Pause noch nicht überzeugt war. Aber der zweite Teil war atmosphärisch so dicht, dass mein Fazit ein überaus positives ist. Kein Musical im herkömmlichen Sinn (würde mir auch keine CD-Aufnahme der Lieder kaufen), aber ein grandioses Theatererlebnis. Emotional fordernd, stellenweise mit viel Situationskomik und fabelhaften Darsteller.
Was mich sehr enttäuscht hat, war die lieblose Gestaltung des Programmheftes mit grauenvollem Layout. Schon das Plakat zum Stück war ähnlich aufgemacht und hat doch sehr an Schultheater erinnert. Am Tag darauf war ich bei „Alice im Wunderland“ in Mödling, wo „nur“ junge Nachwuchskünstler auf der Bühne stehen. Die hatten Fotos und Programmhefte, da gehen dir die Augen über. Sehr schade und an der falschen Stelle gespart, finde ich.
Ob sich Maya Hakvoort mit dieser Wahl des Stückes einen Gefallen getan hat, bleibt abzuwarten. Einige Stuhlreihen blieben am Freitag leer. Und auch sonst ist die Auslastung nicht gleich der, die man sonst gewohnt ist, wenn irgendwo Drew Sarich, Maya Hakvoort oder Ann Mandrella draufsteht. Meines Erachtens ist dies der Tatsache geschuldet, dass das Thema ein zu ernstes für einen lauen Sommerabend ist. Möglicherweise wäre von der Besucherzahl etwas „leichtes“ mit mitreißenden Melodien deutlich besser gewesen. Irgendetwas fetziges, was massentauglicher erscheint als so schwere Kost. Mehr Gesang wäre ebenfalls nicht hinderlich gewesen, sind es doch gerade die Musicalfans, die gute Produktionen (und das war eine gute Produktion) häufig mehrfach besuchen. Man kann trotzdem Maya Hakvoort nur beglückwünschen. Sie hat eine Menge richtig gut gemacht und mir einen wunderbaren Theaterabend ermöglicht. Ich bin gespannt, ob und wie sich Musical im Bruno weiterentwickelt.
Alle Fotos: www.joachimschlosser.de
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