Besuchte Vorstellungen: 22.6., 31.7.2018
Zum Muttertag nahm meine beste Freundin Bille an einem Gewinnspiel eines regionalen Reiseveranstalters teil. Zu gewinnen gab es eine Fahrt Augsburg-Stuttgart mit Besuch des Musicals Der Glöckner von Notre Dame. Und kaum zu glauben: Sie hat gewonnen.
Eine sehr nette Anekdote noch anbei: Sie hat ihrer kleinen Tochter Tabea davon erzählt, was sie da gewonnen hatte. Und als abends der zugehörige Vater von der Arbeit nach Hause kam, lief sie ihm freudestrahlend entgegen und berichtete aufgeregt: Papa, die Mama hat gewonnen und fährt jetzt mit dem Bus zu den Glöckchen von Amsterdam! Hinreißend! Das hat so jetzt Einzug gehalten in unseren Sprachgebrauch, und so heißt dieses Musical bei uns nur noch Glöckchen von Amsterdam!
Es war eine Reise für zwei Personen war, sie hat mich mit eingeladen und im Nachhinein bin ich ihr noch dankbarer, als ich es vorher schon war: Es war ein außergewöhnlich mitreißendes Erlebnis mit emotionaler Wucht, wie ich es sonst nur erlebe, wenn Drew Sarich auf der Bühne steht. Deshalb folgte auch bald der zweite Besuch, diesmal mit Dem Mann, mit dem ich all diese wunderbaren Dinge teilen will.
Doch warum hat mich gerade der Glöckner so gepackt?
Ich liebe es, wenn Emotionen in mir los getreten werden, die wuchtig auf mich einstürmen und mich aufwühlen. Ich bin ein sehr reflektierter Mensch und meinen Gefühlen gegenüber sehr aufmerksam. Meine Wahrnehmung ist da überaus fein. Und trotzdem oder gerade deshalb liebe ich diesen allumfassenden Rausch, der hin- und wieder los getreten wird: wo so viele kleine und große Emotionen mich wie in einen Strudel ziehen und ich nur noch mitfühle, mitleide und mitfiebere, ohne zu wissen, warum. Wo sich die Härchen an meinen Armen aufstellen und ich immer nur alle halbe Minute schnappend atme, weil ich zu angespannt für eine Regelmäßigkeit bin. Wo also sogar die unterbewussten Systeme überwältigt werden und der Kopf abschaltet: das ist für mich unendlich kostbar. Ich erlebe das im Musicalbereich erstaunlich oft, so dass sich das mittlerweile zu einem gar ruinösen Hobby entwickelt hat. Eher unvorbereitet durch den Gewinn der Freundin da hineingestolpert, wurde ich beim Glöckner von Notre Dame ebenfalls mitgerissen von einer überschäumenden Emotionswelle und dann atemlos zurückgelassen!
Inhalt
Den Glöckner als Musical gibt es schon so lange, und es wurde auch wirklich schon viel darüber geschrieben, Obwohl möglicherweise schon alles dazu gesagt wurde, ist es mir wichtig, meine persönlichen Eindrücke wiederzugeben. Denn ich empfand Der Glöckner von Notre Dame als eine besondere Art des Musiktheaters.
Als Vorlage gilt natürlich Victor Hugos Werk Der Glöckner von Notre Dame. Das wurde vielfach verfilmt, sogar von Disney. Bereits im Juni 1999 fand in Berlin die Uraufführung des gleichnamigen Musicals statt. Drei Jahre lief es dort im Theater am Potsdamer Platz. Jetzt wurde es wieder hervorgeholt, rundum entstaubt und erneut in Berlin 2017 zur Aufführung gebracht. Nach kurzer Station im Deutschen Theater in München ist es noch bis Februar 2019 im Apollo Theater in Stuttgart zu sehen.
Die Drew-Version von 1999/ Uraufführung
Zu allererst: Schon die 1999-Version mochte ich schon gerne. Sie ist halt sehr Disney-mäßig aufgemacht, vor allem mit den drei auftretenden Wasserspeihern. Kann man mögen oder nicht. Aber es sang und spielte Drew Sarich damals den Glöckner so unnachahmlich. Er hatte damals schon diese einnehmende Bühnenpräsenz und die Fähigkeit, sich eine Rolle ganz zu eigen zu machen. Die Art, wie er sich als Quasimodo bewegt, begeistert mich noch heute, weil er so „drin“ bleibt in seiner Rolle und sich meistens auf drei Gliedmaßen – zwei Beine und eine Hand – fortbewegt. Das machen die Darsteller des Quasimodos jetzt schon auch noch, aber nicht mehr mit der allerletzten Konsequenz. Das ist an sich auch nicht schlimm, macht mir aber wieder einmal sehr bewusst, was ich an Drew schätze und liebe.
Die neue Version
Ansonsten sind Lieder verändert worden oder rausgeflogen/ ersetzt. Das ist an manchen Stellen vielleicht gewöhnungsbedürftig für die, die die alte Version kannten. Aber insgesamt kommt die neue Version sehr rund daher. Auch Texte wurden verändert, aber die Geschichte bleibt in groben Zügen gleich. Geht ja auch nicht anders, wenn man der Vorlage gerecht werden will.
Der Einstieg allerdings, Quasimodos Vorgeschichte, hat man gänzlich verändert: 1999 war er das Kind einer Zigeunerin, die durch einen unglücklichen Unfall im Beisein Frollos auf den Stufen Notre Dames starb. Frollo, nicht ganz unschuldig am Unglück, nahm den missgestalteten Quasimodo aus schlechtem Gewissen auf.
In der neuen Version wird Quasimodos Geschichte anders erzählt. Das macht für mich mehr Sinn, beleuchtet sie doch Frollos Vorleben genauer und macht so die Motivation seines Handelns transparenter und glaubhafter:
Frollo und sein Bruder Jehan kommen als Findelkinder in den Dom und werden dort aufgezogen. Während Frollo aus Dankbarkeit sein Leben der Kirche weiht, ist Jehan ein lebensfroher Bursche, dem Notre Dame zu eng und zu dunkel ist. Regelmäßig bricht er aus und schlägt über die Strenge. Als er sich in ein Zigeunermädchen verliebt, wird er hinausgeworfen. Jahre später lässt er Frollo eine Nachricht zukommen, so dass dieser ihn aufsucht. Immer gejagt als Außenseiter an der Seite einer Zigeunerin, vertraut Jehan Frollo in der letzten Stunde seines Lebens sein missgestaltetes Kind an. Frollo nimmt Quasimodo, den Zigeuner-Bastard, mit nach Notre Dame und versteckt ihn im Glockenturm.
Das Verhältnis Frollos zu Quasimodo
Dort wächst Quasimodo auf, ohne jemals in Kontakt mit dem echten Leben zu kommen. Frollo ist sein einziger sozialer Umgang. Diesen spricht er mit Meister an: Frollo hat ihm nie gesagt hat, dass er sein Onkel ist. Diese enge Bindung verschweigt er wohl geflissentlichst, denn sie würde ihn auch emotional verpflichten. Und Emotionen sind für Frollo – der das Schicksal seines Bruders vor Augen hat – lasterhaft. Sein Verhältnis zu seinem Schützling ist ein allein auf Frollos Bedürfnisse ausgerichtetes. Er gibt Quasimodo ein zu Hause, eine Zuflucht, wie er es nennt. Beider Zuflucht. Indem er ihn im Turm versteckt, muss er nichts vor anderen erklären oder sich rechtfertigen. Er kann mit Quasimodo umgehen, wie ihm es passt und so macht er es auch. Täglich besucht er ihn, um ihm aus der Bibel vorzulesen. Aber so richtig unterrichten tut er ihn auch nicht. Quasimodo kann nicht in grammatikalisch richtigen Sätzen sprechen. Er ist mit Sicherheit nicht dumm, aber Frollo tut gut daran, ihn dumm zu halten.
Sein ganzes Leben setzt er ihn überdies dem lauten Glockengeläut aus, das Quasimodos Gehör fast gänzlich zerstört. Frollo nutzt die Abhängigkeit seines Schützlings aus, er genießt es und spielt mit der Macht, die er über seinen Neffen hat. Es ist abscheulich, das mit anzusehen, aber so installiert, dass man schon von Anfang an Sympathie für den armen Missgestalteten bekommt. Es wird eindeutig gut von böse unterschieden. Jedoch ganz so platt, wie Frollo auf den ersten Blick scheint, ist auch er nicht angelegt. Hin und wieder entdeckt man, dass er Quasimodo schon zugetan ist. Aber durch das entstellte Gesicht und seine Herkunft gilt er nun mal als minderwertig. Frollo kann schon um seine Position nicht zu gefährden, innerhalb der er alles, was anders ist, verachtet, nicht offener auf Quasimodo zugehen. Er muss freundliche Gefühle unterdrücken.
Quasimodo
Quasimodo hingegen ist aufgrund seiner Erziehung ein scheuer, angepasster Mensch, dem man eingeredet hat, dass er aufgrund seines Aussehens kein Recht und keine Chance auf ein normales Leben hat. Er hat sich seinem Meister aus Dankbarkeit voll unterworfen. Aufgrund fehlender sozialer Kontakte ist er unerfahren und naiv wie ein Kleinkind. Seine Art rührt zutiefst. Meine Lieblingsszene: Als Esmeralda im Turm zu ihm hochsteigt, versteckt er sich, indem er seinen Kopf durch die Balustrade steckt und sich selbst die Augen zuhält: Ich seh dich nicht, dann siehst du mich auch nicht. Er ist ein liebenswertes Kleinkind im Körper eines erwachsenen Mannes.
Esmeralda
Esmeralda, die schöne verführerische Zigeunerin, tritt als vielschichtige Figur auf. Sie weiß ihre äußere Schönheit durchaus zu nutzen, ist dabei überaus sozial eingestellt und hat im Gegensatz zum Kirchenmann Frollo den Begriff der Nächstenliebe verinnerlicht. Für sie sind alle Menschen gleich. Und obwohl sie ihr Geld verdient, indem sie mit der Fantasie der Männer spielt, ist ihre Seele ähnlich unschuldig wie Quasimodos. Ihre innere Schönheit überstrahlt schon bald ihre äußere.
Drei Männer werden durch sie in ihren Grundfesten erschüttert. Sehr deutlich arbeitet das Musical heraus, warum die Männer ihr verfallen und was Esmeralda in ihnen jeweils weckt.
Esmeralda und Quasimodo
Für Quasimodo ist sie zunächst einmal die, die ihn als erstes auf dem Narrenfest anspricht. Und dann die, die ihren Fehler erkennt und ihre Schuld eingesteht.
Entschuldigungen ihm gegenüber kennt Quasimodo nicht.
Ohne Scheu geht sie auf ihn zu und reagiert damit anders, als es Quasimodo immer erklärt wurde und auch anders, als die anderen auf dem Fest. Sie schafft es sofort, eine zutiefst menschliche und selbstlose Bindung herzustellen.
Selbstlosigkeit kennt Quasimodo nicht.
Sie stellt sein Leben auf den Kopf und gibt ihm eine völlig neue Sicht auf die Dinge: wo er sich im Glockenturm eingesperrt fühlt, ist das für sie gleichbedeutend mit Freiheit. Sie zeigt ihm, dass Freiheit nicht nur eine physische Komponente hat.
Freiheit kennt Quasimodo nicht.
Sie öffnet ihn behutsam für Gefühle und Träume, die man ihm als schändlich ausgetrieben hatte.
Schuldlose Träume kennt Quasimodo nicht.
Innerhalb der aufgewühlten Menge ist sie die, die ihn verteidigt. Wo Quasimodo sonst nur Unterwürfiger ist, hebt sie ihn auf dieselbe Ebene wie sie selbst.
Gleichberechtigung kennt Quasimodo nicht.
Und wo Quasimodo von den Wasserspeiern spricht und sich sofort selbst für diese Dummheit tadelt, versichert sie ihm, dass sie seine Freunde mag und zeigt Verständnis.
Verständnis für seine Schwächen kennt Quasimodo nicht.
Quasimodo erfährt durch diese eine Person eine Öffnung seines Horizontes um ein so Vielfaches, das er Esmeralda verfallen muss. In einer sehr unschuldigen, aber sehr glaubhaften Liebe zu Esmeralda spiegelt sich die Liebe zu dieser neuen Welt, die ihm die selbstbewusste Zigeunerin eröffnet.
Esmeralda und Phoebus
Hauptmann Phoebus sucht zuerst nur sein Vergnügen. Doch sofort ist auch er fasziniert von Esmeralda. Die Gründe sind auch hier offensichtlich: Er ist angezogen von ihrem Selbstbewusstsein. Sie verkauft ihren Körper nicht in der gleichen Art wie die anderen Damen, die sich Phoebus auf der Suche nach Zerstreuung anbieten. Beim Tanzen spielt sie – die Wirkung ist ihr wohl bewusst – mit den Männern und behält doch stets die Oberhand und ihre Freiheit, über sich selbst zu bestimmen, ohne dabei arrogant für sich etwas einzufordern. Für einen Hauptmann eine Ungewöhnlichkeit. Als Soldat ist er überdies dem Gehorsam verpflichtet und in Esmeralda begegnet ihm ein vollkommen anderer Lebensentwurf: jemand, der sich niemandem verpflichtet fühlt und sogar offen sagt: Regeln einhalten ist nicht meine Stärke. Dabei fürchtet sie sich nicht, für ihre Überzeugung einzutreten. Höchst bewundernd attestiert Phoebus ihr: Ich kenne Soldaten, die sind nicht halb so tapfer wie du. Sie ist es, die ihm die Idee gibt, dass pure Pflichterfüllung einhergeht damit, sich selbst zu verleugnen. Ich will gut sein nicht gemein, erinnert er sich an ihre Worte.
Standhaftigkeit, aber freiwillig aus Überzeugung für eine Sache, ohne sich dafür wie ein Söldner zu verkaufen: dafür steht Esmeralda. Die Bewunderung und Liebe zu dieser ungewöhnlichen Frau lässt Phoebus Lebensziel und Pflicht verraten und seinen eigenen Tod in Kauf nehmen.
Esmeralda und Frollo
Frollo hingegen kämpft sein ganzes Leben gegen die Versuchung.
Ich finde deshalb die Vorgeschichte mit seinem lebenslustigen Bruder Jehan viel besser, weil sie einen viel tiefer in Frollos Seele blicken lässt. Schon damals ist Frollo hin- und her gerissen zwischen der frommen Pflicht und seinem Bruder. Damals hat er sich gegen den Bruder entschieden und sich aus Dankbarkeit dem Gehorsam der Kirche unterworfen, da diese ihm in Notre Dame ein Zuhause gegeben hat. Zudem war ihm Schicksal seines Bruder ein mahnendes Beispiel. Doch auch Frollo ist aus Fleisch und Blut. Die Begegnung mit der Zigeunerin, die ihren Lebensunterhalt nicht mit Pflicht, sondern mit Genuss (ich tanze, weil es mir Spaß macht) verdient, bringt sein eigenes Lebenskonstrukt bedrohlich ins Wanken.
In der gleichen Art, wie Quasimodo diese neue Welt, die Esmeralda ihm eröffnet, staunend wie ein Kind annimmt und auch der Hauptmann sich zwar zögerlicher, aber schließlich auch darauf einlässt, in gleichem Maß bekämpft Frollo die Idee, dass eine andere Art zu leben eine Berechtigung hat. Die verhassten Emotionen und die Angst vor der Macht, die diese entwickeln könnten, lassen ihn eine kompromisslose Radikalität an den Tag legen. Für ihn ist sein Handeln alternativlos.
Esmeralda unterläuft seine Macht, die er aufgrund seines Amtes ausübt und auch die, die er über Quasimodo hat, einfach kurzerhand, in dem sie nicht klein bei gibt, sondern sich ihm selbstbewusst und schlagfertig stellt. Esmeralda ist frei in ihrem Leben. Die Eifersucht auf ihre Freiheit bringt ihn schließlich dazu, ihr diese Freiheit physisch wegzunehmen. Als er erkennen muss, dass sie sich auch dadurch zu nichts zwingen lässt und so ihre Entscheidungsfreiheit beibehält, schickt er sie in den Tod.
Frollo, hasst und liebt Esmeralda aus dem einen Grund, dass sie ihre Freiheit nicht aufgibt. Sie lässt sich nicht zwingen, sich ihm zu beugen. Frollo hat sich von der Frömmigkeit zwingen lassen, seine Freiheiten aufzugeben:
- die Freiheit, eine Frau zu lieben,
- die Freiheit, Freude statt Plicht zu wählen.
Esmeralda hat alles, was er ersehnt:
- laszive Schönheit als Frau, der er als Priester entsagt hat,
- pure Lebensfreude, die in seinen Augen zum Untergang führt (siehe Jehan),
- selbstbewusster Mut, denn Frollo kann nur aufgrund seines Amtes und der damit einhergehenden Befugnisse mutig sein,
- augenscheinlichen Exotik, denn Frollo kennt sein ganzes Leben nur Notre Dame
- neugierige Offenheit, mit der sie sich und Quasimodo ganz selbstverständlich das Andersein erlaubt
- bewundernswerte Forschheit, mir der sie Frollo darauf hinzuweist, dass er – anders als sie – gegen seinen Glauben handelt
- heldenhafte Standhaftigkeit, mit der sie sich immer wieder seinem Werben entzieht und dafür auch den Tod in Kauf nimmt.
Frollo hasst und liebt Esmeralda, sie ist für ihn Himmel und Hölle zugleich. Sie bestimmt sein Denken auf alle erdenkliche Art und Weisen und dadurch fühlt er ihre Macht und sich selbst machtlos. Da er als Vertreter Gottes unfehlbar scheint, kann die Schuld nur am Fremden liegen. Selbstreflexion gelingt ihm aufgrund seiner Stellung und der Panik, die Esmeralda in ihm auslöst nicht.
Aktuelle Bezüge
Die Bezüge zum momentanen Zeitgeschehen sind offensichtlich. Zu deutlich spricht Frollo von dem Fremden, die er hasst und wie sie die Ordnung in der Stadt durcheinanderbringen. Es ist die andere Art, ein Leben zu führen und andere Werte, die gelebt werden, die verunsichern. Dabei geht es augenscheinlich auch gar nicht um das Fremde selbst, sondern die Angst vor dem, was man nicht kennt, die Angst davor, dass das Fremde mehr Platz einnehmen könnte als das Bewährte.
Dabei ist es durchaus wieder dem Heute sehr ähnlich: ein kleiner Teil ist tatsächlich der, der über die Strenge schlägt: Clopin versucht schon bei der ersten Begegnung, den Hauptmann zu bestehlen. Dieser Clopin ist der Anführer und so prägt er den Eindruck, den die Leute haben. Die, die sich nicht schuldig machen, so wie Esmeralda, die einfach nur in Ruhe leben will (vielleicht finde ich hier endlich ein Zuhaus) und sich dafür zurücknimmt (ich halt den Mund auch wenn es schwer fällt), die, die sich also in unserer Sprache gesprochen integrieren will, wird gejagt und verurteilt. Die Angst vor Überfremdung, die Frollo so radikal handeln lässt, ist auch in unserer Zeit deutlich zu spüren. Allerdings möchte ich hier keine politische Diskussion lostreten, ob und wieweit diese Angst berechtigt ist oder nicht.
Quasimodo in Form des Kindes sieht das Fremde als Einladung, als Eintrittskarte in eine neue Welt. Ihm eröffnen sich dadurch neue Horizonte und da er wenig durch verschiedene Erfahrungen festgefahren ist, kann er diesen Horizonten neugierig gegenüberstehen. Er hat wenig Angst vor fremden Menschen und Handlungen, denn er hat für sich niemals das eigene überhaupt definiert.
Das Musical
Die Erzählweise
Die Art des Erzählens ist das, was mich – neben der Musik – am meisten fasziniert. Es ist nicht ein einfaches Konsumieren. Es wird erzählt und je intensiver man zuhört, je mehr man seine eigene Fantsie bemüht und sich einlässt, desto lebendiger wird die Geschichte.
Zunächst sind alle Mitglieder des Ensembles in Kutten gekleidet auf der Bühne und beginnen, die Geschichte zu erzählen. Nicht einer erzählt, sondern jeder „darf mal“. So nach und nach schälen sich dann die Hauptfiguren heraus. Zunächst Jehan und Frollo, die ihre Geschichte entwickeln. Schließlich hält Frollo ein Bündel auf dem Arm: seinen kleinen Neffen Quasimodo. Genial gelöst übergibt er das Bündel einem Mitsänger, der das Bündel auseinanderwickelt. Zum Vorschein kommen ein Säckchen zum umschnallen, der Buckel, und ein grünes Gewand. Beides streift sich der Schauspieler über und aus dem kleinen Bündel ist Quasimodo geworden. Sein missgestaltetes Gesicht wird verdeutlicht durch schwarze Farbe, die sich der Schauspieler vor den Augen der Zuschauer ins Gesicht schmiert. Das passiert alles auf offener Bühne: man will die Geschichte beim Erzählen bildhaft werden lassen. Das Ensemble in den Kutten verwandelt sich immer wieder von den Steinfigren Notre Dames in die Figuren, die in der Geschichte auftauchen. Das wird immer eindeutig so gezeigt, passiert augenscheinlich aber so unaufregend, dass das nicht plump, sondern in besonderem Maße fantastisch wirkt. Mir ist das gegangen, wie ich es bei meinen Kindern beobachtet habe: wenn man dem Kind versichert, dass das Kuscheltier sprechen kann, und man verstellt seine Stimme, dann glaubt das Kind tatsächlich, dass das Tier spricht. Ich fühlte mich abgeholt in eine Geschichte, ich fühlte mich umsorgt. Ich fühlte, das sich jemand riesige Mühe gab, mir etwas anzubieten. Staunend wie besagtes Kind saß ich da und wurde magisch angezogen von dem Geschehen auf der Bühne. Dazu hat auch die Tatsache beigetragen, dass keine Kulissenschlacht stattgefunden hat.
Gut, die Glocken sind natürlich gigantisch und der Sound wirklich überwältigend. Aber abgesehen von diesen Glocken gibt es das Narrenzelt und ein fahrbares Podest sowie zwei verschiebbare Treppen, die bis ins Chorgestühl reichten. Und noch mehrere Holzgitter, die sowohl die Balustrade auf dem Turm, die Bänke in Notre Dame, Häuserdächer oder das Gefängnis darstellen konnten. Mit so reduzierten Mitteln hat man den Fokus auf sie Geschichte selbst gelegt. Man hat den Kulissen eine andere Bedeutung zugewiesen als sonst: die Kulissen haben die Geschichte nicht abgerundet und vervollständigt. Hier haben die Kulissen den Anfang gemacht, der Fantasie freien Lauf zu lassen. Die Kulissen tragen dich zwar mit der Geschichte mit, aber deine Fantasie wird ganz anders beschäftigt, wenn das Gitter zunächst ein Gitter ist und danach schräg gestellt ein Hausdach. Das macht Spaß und du bist nicht mehr nur Konsument einer Story, sondern du hast dich aktiv eingeklinkt, weil dir die Vorgaben so viel Spielraum lassen.
Für mich ist das eine sehr bereichernde Art des Erzählens, wenn man mir nicht jede Einzelheit vorsetzt und ich nur aufnehmen muss.
Das Umbauen auf der Bühne kann schnell nach Schultheater aussehen oder einfach zu viel sein (Bonnie & Clyde). Aber das war sehr zurückhaltend und liebevoll durchdacht und: sehr professionell gemacht. Wenn Quasimodo das heiße Kupfer ausgießt und sich das Tuch aus dem Kessel senkt, dann sieht das wirklich faszinierend aus. Und mit welch wunderbaren Bewegung dieses große Tuch durch einen einzigen Menschen sofort wieder verschwindet: das war toll anzusehen und zeigt, dass auch oder gerade reduziertes Erzählen große Professionalität braucht.
Ein vielschichtige Thematik wurde beim Glöckner von Notre Dame mit einer durch und durch fantastischen Erzählweise kombiniert und hat mich persönlich begeistert zurückgelassen.
Die Musik
Die Erzählweise ist der einen Garant für den Erfolg, der andere ist zweifelsohne die Musik. Mich berührt sie sehr, und das Musical hat sowohl die lauten als auch die zarten Kracher.
Wenn eingangs der Chor ins Gestühl steigt und das Ensemble in Kutten auf die Bühne schreitet, dann erklingen wunderbar ausgesteuerte Choralgesänge. Zusammen mit dem phantastischen Bühnenbild vermögen sie es, den Zuschauer schon mit den ersten Takten in die geheimnisvolle, erhabene Welt eines Domes zu holen. Eine kurze Weile wird diese meditative Atmosphäre gehalten, bis die Pauke mit voller Wucht die Wende hin zur Dramatik gibt: das plötzlich einsetzende instrumentale Feuer der Hölle ist im Klang so voll, breit und laut, und durch den nur einen gesungen Vokal unheilvoll und dramatisch, dass man schon in dieser ersten Sequenz einem enormen Gegensatz ausgesetzt ist. Ich bin ja sonst Stage Entertainment gegenüber eher skeptisch eingestellt, aber das Orchester hat einen ungeheuren Sound produziert. Mir haben sich da sofort sämtliche Härchen aufgestellt, und das allein in den ersten beiden Minuten. Dann vollzieht sich wieder ein Wandel und auf die auf Erzählen ausgelegte eher sanft schunkelnde Melodie beginnt der Zigeunerfürst Clopin mit der Geschichte. Wie gesagt, der Auftakt ist grandios, weil er dich sofort packt und in die richtige Stimmung katapultiert. Dabei verspricht er schon soviel Dramatik, dass du sofort mit Clopin in die Geschichte einsteigen kannst und willst.
Draußen ist Quasimodos gesungene Sehnsucht nach einem normalen Leben. Es ist so, wie Quasimodo auch ist: nicht anklagend oder beleidigt, sondern in höchstem Maße positiv sehnsüchtig, abwartend und neugierig. Esmeralda tanzt zum Rhythmus des Tambourins und die Musik hat genau die Prise Exotik, die Esmeralda anders, aber nicht vollkommen fremd wirken lässt.
Das Feuer der Hölle gibt Frollos tiefe Angst wieder, die Kontrolle über sich zu verlieren. Es gewährt dem Zuschauer einen erschreckenden Blick in Frollos schwarze Seele und ich überlege, ob es tatsächlich um das Feuer der Hölle geht, welches Esmeralda vernichten soll, oder ob nicht Frollo selbst das Feuer der Hölle ist. Der Text zum Lied lässt einen das gleiche denken und schaudern. Bei diesem Stück fällt der gesamte Chor mit ein und ich habe das Gefühl, dass nicht Frollo allein Esmeralda fürchtet, sondern die gesamte Kirche den Kampf gegen sie aufnimmt.
Einmal ist ein gefühlvoll getextetes Lied der Hoffnung auf ein Leben, in dem alle gleich viel Wert sind. Es gibt Einblick in die reine Seele Esmeraldas. Sie und Phoebus singen es während ihrer Gefangenschaft. Da das ihr letztes gemeinsames Lied ist, bleibt einem schon ein großer Kloß im Hals sitzen, wenn man erkennt, dass für Esmeralda und Phoebus diese Welt in ihrem irdischen Leben nicht mehr erreichbar sein wird. Eine solche Freiheit können Sie nur in einem Leben nach dem Tod erlangen, das ausgerechnet von der Kirche proklamiert wird, die Esmeralda in Form von Frollo tötet.
Aber Phoebus und Esmeralda singen nicht nur für sich, sondern für alle Menschen, und prinzipiell ist das schon sehr pathetisch, aber auch eine ganze einfache und tief empfundene Hoffnung von so vielen auf dieser Welt.
Am Ende der Geschichte schließt wieder Clopin die Rahmenhandlung mit gleicher Melodie und gleichem Textbeginn wie er die Geschichte eröffnet hat:
Was für ein Morgen,
Paris wird geweckt
von den Glocken Notre Dames.
Die Darsteller vereinigen sich alle gemeinsam auf der Bühne zu einem großen Chor. Quasimodo gibt seine gebückte Haltung auf und wischt sich die Farbe aus dem Gesicht, während die anderen – eine große Geste, die den Zuschauer zur Interpretation auffordert– sich nun selbst mit schwarzer Farbe verunstalten.
Dieser Chor bietet ebenfalls noch einmal das anders getextete Feuer der Hölle und ob dieses erhebenden Endes und der in der Tiefe meiner Seele vibierierenden Musik kamen mir die Tränen.
Darsteller
Obwohl ich mich gerne von Geschichten und darin enthaltenen Emotionen fangen lasse, bin ich ja auch ein sehr Darsteller-bezogener Zuschauer. Denn es gibt immer wieder Schauspieler, die ich einfangen und ebenso den oben beschriebenen Emotionsrausch auslösen können. Auch hier wieder passiert. Eine kurze Übersicht über die Hauptdarsteller:
Clopin – Gavin Turnbull
Wenn ich etwas an der 1999-Version nicht mochte, dann Clopin. Der war mir von Anfang an unsympathisch, nicht greifbar im Charakter und hatte ein schreckliches Kostüm (und das ist alles nicht dem Schauspieler anzulasten). Umso mehr überrascht hat mich meine Reaktion auf Gavin Turnbulls Clopin. Als ich das erste Mal die Stuttgarter Version gesehen habe, war ich noch verhaltener positiv (sich umgewöhnen dauert), aber beim zweiten Mal hat mir dieser Clopin unheimlich Spaß gemacht.
Turnbull scheint mit der Figur verwachsen. Dieser Chopin hat sich in meinen Augen deutlich mehr in die Tiefe entwickelt. Mit dem Selbstverständnis und der Bürde, den Zigeunerhaufen anzuführen, trotzdem die Lebensfreude und hin- und wieder trotz widriger Lebensumstände den Schalk im Nacken finde ich ihn vor allem in den ruhigen Momenten viel runder konzipiert: Beinahe anrührend wirkt er auf mich, wenn er klar stellt, dass Esmeralda zu ihnen gehört und sie sie nicht im Stich lassen werden. Wenn ein Schauspieler dieses Meisterstück vermag, meine Sicht auf eine Figur vollständig zu drehen, dann muss und darf man ihm größtes Talent und eine absolut meisterliche Leistung bescheinigen.
Frollo – Felix Martin/ Thomas Schreier
Auch Felix Martin hat sich die Rolle des Frollo derart angeeignet, dass man nur staunen kann. Er begeistert mit seiner Stimme rundum, aber vor allem in der Tiefe. Sein Feuer der Hölle ist der Showstopper schlechthin. Ekelhaft ist es anzuschauen, wie er Esmeralda nachstellt und intensiv verfolgt man seine innere Zerrissenheit, die er aber gar nicht zeigen darf. Er muss ja als absolute Autorität standhaft auftreten. Dieses unterdrückte Schwanken zwischen Pflicht und Wollen, das Hin- und Her zwischen Liebe zu einer Frau und der Überzeugung seiner eigenen Unfehlbarkeit: Wow, da schüttelt’s mich jetzt noch, wenn ich dran denke.
Thomas Schreier steht dem in nichts nach. Ich konnte keinerlei Unterschiede feststellen: Sowohl gefühlsmäßig, aber auch gesanglich haben mich beide gleichermaßen begeistert.
Esmeralda – Mercedesz Csampai
Perfekt! Mehr kann man dazu nicht sagen. Sie passt optisch einwandfrei, sie bewegt sich hinreißend und singt klar und einnehmend. Sehr beeindruckend war für mich die Scheiterhaufen-Szene. Man muss das wirklich können: Die ganze Zeit war sie die feste, überzeugte Frau voller Selbstbewusstsein und dann diese Angst und Panik in ihrem Gesicht, bevor Frollo das Holz in Brand setzt, die Blicke, die da zwischen Frollo hin- und hergehen, das ist ganz großes Kino.
Phoebus – Maximilian Mann
So, da haben wir ihn. Den, der mich – neben der Großartigkeit der Inszenierung – eingefangen hat. Maximilian Mann. Was für ein Bild von einem Mann. So stelle ich mir Soldaten damals vor. Zumindest Hauptmänner. Er reiht sich für mich ein in die Reihe derer, die die Bühne betreten und ab dem Zeitpunkt ich mich zwingen muss, nicht nur ihm zuzuschauen, sondern auch den anderen Handelnden zu folgen. Bühnenpräsenz bis in die Fingerspitzen!
Glaubhaft vollzieht er den Wandel vom leicht überheblichen aber gehorsamen Soldat, der durchaus lebenslustig und augenzwinkernd sein kann, zu einem Mann, der sich traut, für seine Überzeugung einzustehen. Die Liebe zu Esmeralda nimmt ihn vollends in Besitz, für sie gibt er sein bisheriges sicheres Dasein auf und wäre schließlich bereit, für sie zu sterben. Dieses große Drama kann leicht kitschig wirken, aber Maximilian Mann macht das zu einer zutiefst anrührenden Sache.
Quasimodo – Jonas Hein/ Kevin Köhler
Bei der Rolle des Quasimodo hab ich eine eindeutige Präferenz: Jonas Hein hat mir deutlich besser gefallen. Beide passen gut in die Rolle, keine Frage. Aber Kevin Köhlers Quasimodo ist mir ein wenig zu einseitig gesungen. Seine Stimme klingt sehr süß, wie flüssiger Honig und an vielen Stellen passt das, aber es gibt eben auch die anderen Stellen. Und da wirkt er für mich eben nicht authentisch. Außerdem geht er bei seinen Solos schon sehr aus seiner buckligen Haltung raus. Da machen alle, das wird von der Technik des Gesangs auch einfach nicht anders möglich sein. Aber bei ihm war es halt am auffallendsten. Ich bin trotzdem zufrieden und meckere mal wieder auf hohem Niveau.
Jonas Hein bleibt sowohl im Schauspiel als auch im Gesang deutlich mehr in der Rolle und schafft deutlichere Differenzierungen, so dass sein Quasimodo mich mehr fesselt. Mehr Facetten kann ich da erkennen, und daher erscheint mir seine Figur insgesamt einfach runder.
Chor und Ensemble
Die größte Bewunderung beim Glöckner hat ohnehin die Ensembleleistung und der Chor verdient. Selten treten mir die einzelnen Ensemblemitglieder so deutlich in Erscheinung. Da passt einer zum anderen und zusammen sind sie eine Wucht. Das Zusammenspiel klappt und die Chemie stimmt einfach, das ist bis in den Zuschauerraum zu spüren. Lauter Vollprofis, denen man den Spaß an ihrer Arbeit ansieht.
Der Chor ist einsame Spitze. Ich liebe die ganz großen Chor-Kracher. Die, die die gesamte Stimmamplitude ausschöpfen, von ganz hell bis ganz tief. Die Lieder bekommen dadurch so viel Breite und eine Erhabenheit und erfassen mich voll und ganz. Von diesen Stücken hat der Glöckner einige und der Chor bietet das stimmgewaltig und phänomenal dar. Wunderbare Stimmen, prima ausgesteuert und Gänsehaut-verursachend dargeboten.
Fazit
Der Glöckner von Notre Dame hat sich bei mir von 0 auf Platz 2 in die 2018er-Musical-Hitliste katapultiert (JCS-Wien steht unangefochten auf 1).
Die erhebende Musik und die Art, wie sie dargeboten wird; die tragische Geschichte und die Art, wie sie liebevoll erzählt wird; eine klasse Ensemble-Leistung und fantastische Solisten; alles zusammen ergibt ein wahres Gesamtkunstwerk. Von Schaudern über Gänsehaut und Tränen wurde bei mir auf der großen Klaviatur der Gefühle von links nach rechts alles bedient. Und ich werde mir Die Glöckchen von Amsterdam ganz sicher noch einmal anschauen – und hoffe, dass Maximilian Mann wieder den Phoebus spielt.
Alle Fotos: Joachim Schlosser
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