Wenn ich mich am Ende der Pause setze, dann bin ich ein wenig von Furcht ergriffen. Schon aufgewühlt vom 1. Akt weiß ich, dass der 2. der dramatischere ist.
Last Supper
Die Jünger, diesmal das gesamte Ensemble mitsamt Frauen, versammeln sich zum letzten Abendmahl. Jesus stößt hinzu. Die Stimmung ist feierlicher, getragener, nicht mehr so ausgelassen. Einer reicht Jesus die Weinflasche. Er nimmt sie, macht aber mit einem wirklich herzigen, belustigtem Gesichtsausdruck überdeutlich: Ach herrje, Wein! Kinder, jetzt Alkohol, dann wird das heute nix mehr. Dann separiert er sich, er distanziert sich auf der Bühne räumlich von den anderen. Von jetzt an wird er auf sich gestellt sei. Er singt am Mikroständer: this wine could be my blood. Obwohl er sein Gesicht auch zu den Jüngern wendet, hat man doch das Gefühl, er teilt hier sein Vernächtnis mit allen Anwesenden. Er gibt die Flasche zurück und teilt das Brot.
Es wäre verständlich, wenn er den Jüngern laut und wütend vorwerfen würde, dass sie sich eh bald nicht mehr an ihn erinnern. Drew bleibt zurückhaltender, wenn auch deutlich. Getragen von der Verzweiflung gibt er hier vielmehr den verletzten Freund. Die Feststellung, dass ihn der eine verleugnet und einer verrät, deprimiert ihn und den Zuschauer. Und dann lässt Drew seinen Jesus voll aufdrehen. Er weiß, er muss jetzt raus aus seiner Wohlfühlzone. Es muss jetzt gelingen. Und mit viel lauteren Worten als er sie bis jetzt hatte, provoziert er nun Judas. Er wird dabei zu laut und weiß seine Aggression, die an dieser Stelle kommen muss, wenn er den Verrat herbeiführen will, nicht so wirklich zu kontrollieren. Mit viel zu viel Wucht stößt er Judas auf den Boden. Dann dreht er sich um, von sich und seinem Tun vollkommen erschrocken und umarmt Peter. Nein, er umarmt ihn nicht, er stürzt sich in seine Arme, er umklammert ihn, er sucht Halt. Man spürt, dass diese Überreaktion ihn bestürzt. Rastlos läuft er umher. In seinem Gesicht ist Hilflosigkeit zu erkennen, die Unruhe lässt seine Arme in ständiger Bewegung sein. Getrieben sucht er sich einen ruhigen Platz, um selber wieder die Mitte zu finden. Er fällt auf die Knie, um Hilfe und Ruhe im Gebet zu finden. Doch in der Sekunde, in der er beginnt, wird jedem klar, dass das nichts werden kann. Viel zu krampfhaft drückt er die aneinandergepressten Hände vors Gesicht. Zu viele kontroverse Gefühle jagen ihn. Ungeduldig löst er sich aus seiner Haltung und versucht, durch Schütteln der Arme und Hände die Spannung, die ihn am Beten hindert, loszuwerden. Er legt die Hände nach oben geöffnet auf seine Knie. In Meditationshaltung versucht er, Emotionen zu sortieren, Ruhe zu empfangen. Ob es funktioniert hätte, erfahren wir nicht. Judas ist ihm gefolgt und geht ihn an, wie schäbig er es findet, dass er, Jesus, doch mit seinem Plan jemanden verrät. Er zwingt einen Freund zu illoyalem Verhalten. Jesus ist sichtlich genervt. Er versteht Judas, aber er kann nicht anders handeln. Dass Judas das nicht erkennt, erfüllt ihn in dieser überreizten Situation mit Fassungslosigkeit. Dementsprechend ist sein Kopfschütteln ein nur ironisch zustimmendes und gleichzeitig zutiefst angewidertes. Drew fängt den Zuschauer hier gekonnt ein, da kochen auch hundert Emotionen in mir hoch. Judas geht aus Verzweiflung ebenfalls auf die Knie, die Freunde sind jetzt wieder auf Augenhöhe. Judas erklärt sich nochmal. Mensch Jesus, ich versteh es nicht. Es hätte auch ganz anders kommen können. Ich will das so nicht. Ich bin so nicht. Jesus weiß, was der Freund durchmacht, welche Bürde ihm auferlegt wurde. In seinem Gesicht spiegelt sich eine ganze Bandbreite an Emotionen: Verständnis für Judas, Trost, den er spenden will, seine eigene Scham, ihm das aufzuladen, Angst, vor dem was kommt. Er bietet Judas die Nähe, die dieser sucht. Die selbst so wertvoll ist für ihn. Stirn an Stirn gibt es einen letzten Moment, in dem sich jeder seiner Trauer hingibt und den Wert dieser Freundschaft würdigt. Doch bevor sich die Situation möglicherweise versöhnend lösen könnte, nimmt Jesus schweren Herzens seine Verantwortung wahr und reißt sich los. Man spürt, wie viel Kraft ihn das kostet, wie er sich überwinden muss. Man sieht wie er versucht, dabei entschlossen auszusehen, aber mit der wiedererstarkten Unruhe im Blick, der sich gen Boden richtet, gelingt ihm das nicht. Als Judas weg ist, lösen sich einige Gefühle. Man kann sehen, wie sich die Körperhaltung ändert. Die Unruhe weicht der Niedergeschlagenheit. Im Grunde steht da ein gebrochener Mann. Mit einer Stimme, die einem die Tränen in die Augen treibt, fragt er singend, ob denn nicht irgendjemand in diesen letzten „normalen“ Augenblicken, in der letzten Ruhe vor dem Sturm, für ihn da ist. Sein bester Freund hat ihn gerade verlassen. Es hat so viel Kraft schon bis hierher gekostet und er weiß, er braucht noch so viel mehr. Aber keiner ist da, der ihn jetzt hält. Peter? John? James? Er weiß es, dass sie nicht da sein werden, und Drew zeigt ganz deutlich, dass das „nur schwer zu schlucken ist“. Weil diese Erkenntnis allzu grausam ist, fragt er noch einmal und diesmal klingt seine zittrige Stimme, als würde er ersticken.
Gethsemane
In diesem überfordernden Moment tut Jesus nun allein das, was ihm vorher im Kreise der vielen einfach nicht möglich war. Er erforscht sich und seine Gefühle, seinen Standpunkt, seinen Willen. Er betet.
Über Gethsemane Worte zu verlieren, halte ich für ungemein schwierig. Jeder kennt es und jeder weiß, was Drew damit im Stande ist zu tun. Gleichzeitig hat es für jeden von euch eine wohl sehr intime Bedeutung. Dieses Lied ist fast etwas Heiliges und ich möchte es für niemand durch zu viele Worte „entweihen“…
In dieser Inszenierung legt es Drew konsequenterweise nicht so aggressiv an. Der beginn ist schon herzzerreißend. Es ist anders, wenn ein im Grunde schon auf Krawall eingestellter Jesus singt, als wenn hier ein entmutigter Mann steht, der den Sinn dessen, was er einmal wollte, nicht mehr erkennen kann. Der Plan war mal groß, in drei Jahren ist aber auch soviel anderes erblüht. I have changed. Und es hat bis hierher schon so viel Kraft gekostet.
Die zentrale Zeile des Liedes letztes Jahr war Why should I die, in höchstem Ärger und Unverständnis dem Vater entgegen geschleudert. Dieses Jahr habe ich die Hauptaussage in I want to know my God gehört. Du musst es mir wenigstens erklären, wenn ich mich weiter aufraffen soll.
Der Jesus, der vorher schon wenig Aggression zeigt, der legt seine Kraft nicht in die Provokation. Natürlich steigert sich das Gethsemane auch hier und Drew und nur Drew bringt es so intensiv, laut, markerschütternd. Er zeigt, dass sich hier die Sache entscheidet. Aber dafür muss er sich nochmal ganz erforschen, muss sein Innerstes nach außen kehren. Ganz intensiv hab ich die Zeile wahrgenommen If I die what will be my reward. Wenn schon, wo bleibe ich? Was kriege ich dafür? Auch hier ist er durch und durch Mensch. Die Frage nach dem Warum mündet dieses Jahr zuletzt deshalb in einem viel länger gezogenem why.
Diese bewusste Erforschung seines Standpunktes und seiner Motivation ist laut, ist kräfteraubend und brutal ehrlich. Das weckt die Kampfeslust. Just watch me die. Aber diese Provokation lässt ihn ausgelaugt zurück. Er wollte sich nochmal Gehör verschaffen, sich selbst mitteilen, sich vergewissern. Alles hat er gegeben und weiß jetzt, dass es vorbei ist.
Er sitzt auf dem Boden. Im letzen stillen Teil des Liedes steht die Erkenntnis, dass er sein Schicksal annehmen will. Unendlich traurig und zutiefst gequält ob dieser Entscheidung nimmt er es an, obwohl er sein grausames Ende (beat me, bleed me, kill me) deutlich vor Augen hat.
In diesem Stück, das sowohl am Dienstag als auch am Mittwoch Standing Ovations hervorruft, sieht man der Figur des Jesus zu, wie sie sich vor uns vollkommen emotional entblößt und fragt sich im Rückblick, wie das einem Mensch, der das alles spielen soll, in dieser Art und Weise überhaupt möglich ist. Keiner hat das je so intensiv getan wie Drew Sarich. Es ist sein ganz außergewöhnliches Talent, das er hier mit dem Zuschauer teilt. Seelenstriptease ohne jegliche Zurückhaltung, ohne jegliche Distanz zur Rolle. Ich bin jedes Mal zutiefst ergriffen von dem Mut, das so zu wagen. Gesehen hab ich es bei niemandem andern in dieser Art.
The Arrest
Judas kommt. Jesus steht ihm gegenüber. Sie sehen sich an. Wie eine Ewigkeit kommt es dem Zuschauer vor. Quälend lange halten sie dem Blick des anderen stand. Das ist sehr berührend: Als wollten sie das Unumgänglichen hinauszögern. Dann der Kuss. Noch einmal Wange an Wange, Stirn an Stirn. Zwei Seiten derselben Medaille; es ist ein eher tröstliches Bild, bevor die Soldaten die beiden trennen und Jesus die Hände auf den Rücken fesseln.
In diesem Moment öffnen sich alle Schleusen bei mir. Gethsemane lässt mich persönlich eher selten weinen. Dafür ist es für mich zu vielschichtig, zu intensiv, zu fordernd. Ich habe das Gefühl, mein Körper, mein Geist sind so beschäftigt, da können nicht noch gleichzeitig Tränen produziert werden. Der Blick auf ihn, wie er jetzt festgenommen und damit endgültig seinem Schicksal überantwortet wird, bündelt alle meine eben hochgekochten Emotionen. Jetzt ist da bei mir unendliches Mitleid und Trauer um diesen Menschen, der so verletzlich aussieht zwischen den martialischen Soldaten. Er, der sich dessen bewusst ist, dass er dieses Schicksal gerade selbst angenommen hat, steht mit gesenktem Blick sichtlich nervös da. Man sieht es am häufigen Schlucken, an den Augen, die unruhig hin- und herwandern. Es gibt keine Provokation, in dem er sich wehrt, den Kopf stolz hebt oder ähnliches. Überdeutlich kann man erkennen, wie stark er versucht, seine Angst zu verdrängen und sich zu fügen. Er hat es versprochen.
Die Bewacher zwingen ihn in die Knie, wie noch so oft an diesem Abend. Die Jünger erwachen und bringen ihre Unmut zum Ausdruck. Jesus Reaktion hat mich überrascht. Er kniet mit dem Rücken zu den meisten Jüngern, und ich hatte den Eindruck, er versucht noch nicht mal, sich umzudrehen. Lediglich zu Seite blickt er, wenn er sie auffordert, Ruhe zu geben. Dabei klingt er verärgert und resigniert. Jetzt kommt ihr daher, wo es zu spät ist. Vorhin hätte ich euch gebraucht. Jetzt ist es vorbei. Die Gemeinschaft mit den Jüngern, das, wovon er gedacht hat, dass es ihn ausmacht, wofür er sich von dem großen Plan distanzieren wollte, hat ihn bitter enttäuscht. Er wird abgeführt in die Mitte der Bühne, die leicht erhöht ist. Die folgende Szene ist geprägt durch ein Kamerateam, dass ihn filmt und die Projektion dessen erscheint auf der Leinwand im Hintergrund. Drew selbst steht mit dem Rücken zum Publikum, so dass man sein bisweilen ungläubiges Gesicht nur recht unscharf als Projektion erkennt. Darunter die Schlagzeile (übersetzt): Jesus Christus verhaftet.
Vor Kaiaphas und Annas wird er erneut in die Knie gezwungen. Eher gehässig antwortet er auf die Frage, ob er sich selbst für Gottes Sohn hält: Thats what you said, you say that I am. Sein Blick zu Judas, den Annas ausdrücklich anspricht, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Er hat die Überraschung im Blick, er hat nicht damit gerechnet, hier auf Judas zu treffen. Er hat nicht damit gerechnet, dass das folgende derart plastisch angesprochen wird: Stay a while and you see him bleed. Sein Freund muss mit diesen vor allen ausgesprochenen Worten die Verantwortung und Schuld für das Folgende auf sich nehmen, und er, Jesus, muss auch noch zuhören dabei. Mir ist das noch nie so aufgefallen, aber welche seelische Qual das sein muss, sieht man auch hier in Drews Gesicht. Aber er hat sich gleich wieder im Griff. Er will ihn nicht auch noch mit Vorwürfen quälen. Er bleibt nur einen kurzen Moment mit den Augen bei Judas, stattdessen nimmt sein Blick Augenblicke später eine gewollte Leere an.
Pilatus
Nach der Verleugnung durch Peter finden wir uns auf dem Golfplatz wieder. Pilatus ist mitten im Spiel, als Jesus zu ihm gebracht wird. Er blickt in dieser Szene häufig zu Boden, lässt sich seltener ins Gesicht schauen. Natürlich blickt er Pilatus an, hält dem Blick aber nicht immer stand. Das wirkt demütig. Das ist die Rolle, die ihm zugedacht ist. Andererseits hat man das Gefühl, er möchte angesichts der grotesken Situation gar nicht hinschauen. Aber Pilatus zwingt ihn. Erst zwingt er ihn, sich aufzurichten. Dann geht er noch weiter: Schau mich an!
Die Geste mit dem Golfschläger in einem Akt der lässigen Überheblichkeit kontert Jesus auch nicht provokativ, sondern eher mit Pokerface: Ruhig zwar, aber fragend und überfordert. Verunsicherung ist da zu sehen, und wieder eine gewisse Leere, von der man weiß, sie soll seine Furcht überdecken. Er lässt es über sich ergehen. Richtig überrascht wirkt er, als Pilatus davon spricht, ihn zu Herodes bringen zu lassen. Mit einem Anflug von Panik im Gesicht führen Sie ihn ab und zum ersten Mal kann man in seinen Schritten sehen, dass sich alles in ihm sträubt.
Herodes
In der Herodes-Szene ist Jesus stiller Zuschauer. Die Provokationen, die Herausforderungen, die Demütigung dieses weltfremden Herrschers zu ertragen ist schwer. Man sieht es. Es widert Jesus an, diesen Menschen dort zu sehen, der so unberechenbar scheint und unkontrollierbar wirkt. Er kann das, was sich da abspielt, kaum glauben. Am Dienstag ist es mir nicht aufgefallen, aber in der Mittwochs-Vorstellung hat Jesus sich sogar zu seinem Bewacher umgedreht und ihn derart fragend angeschaut. Allein kann man so viel Irrenhaus gar nicht aushalten. Da sucht Jesus sogar den Kontakt zum Feind. Das darf doch alles nicht wahr sein. Das hat mich unheimlich gefangen. Jesus möchte, dass es vorbei ist. Man kann es fühlen. Auch als Zuschauer ist man hier gequält genug. Sicher ist man erstmal erleichtert und genießt momentan die Skurilität der Szene. Aber wenn man Drew hier sieht und dabei realisiert, wie irre hier über ein reales Leben geurteilt wird, brodelt es in einem. Als Herodes mitsamt seinen Girls wieder im Bühnenboden verschwunden ist, zieht sein Bewacher Jesus einen schwarzen Sack über den Kopf und führt ihn in einem großen Bogen von rechts nach links und über die Mitte nach hinten ab. Dabei begegnen sie Maria Magdalena. Hier ist die einzige Szene, wo ich mir gewünscht hätte, dass sie anders gelöst wird: Ich hätte gerne gesehen, wie Jesus auf Maria trifft ohne, dass er verhüllt ist. Ich hätte es so gerne seinen Blick gesehen, wenn er vor seinem Tod, mitten zwischen körperlichen und seelischem Leiden, noch mal Maria in die Augen sehen kann.
Trial before Pilate
Der Chor versammelt sich um das Loch im Bühnenboden, in dem Judas sich erhängt hat. Trickreich gelöst, denn als sie auseinander gehen, liegt da plötzlich Jesus. Die Hände vor dem Körper gefesselt, in orangefarbenem Sträflingsoverall, vor Schmerz und Erschöpfung zusammengekauert. Es ist deutlich erkennbar, dass dieser geschundene Mann schon eine schlimme Tortur hinter sich hat: sein linkes Auge ist lila-blau verfärbt, aus seinem rechten Mundwinkel tropft Blut. Judas Liedzeile they beat him so hart that he was bent and lame wird einem in erschreckender Art und Weise noch mal vor Augen geführt.
Drew schont den Zuschauer nicht. Man muss ihm zuschauen, wie die Schmerzen seinen gefolterten Körper unkontrolliert zucken lassen. Die Erschöpfung lässt ihn unablässig zittern. Ich kann nicht hinschauen, wegschauen aber auch nicht.
Er zittert und krampft, nur das laut geforderte Crucify him lässt ihn erschrocken hochblicken. Unglaublich, wie intensiv Drew seine Qualen dem Zuschauer vor Augen führt. Pilatus fordert ihn auf talk to me, Jesus Christ. Jesus nimmt seine Kräfte zusammen und richtet sich zum Sitzen auf. Mit einem einzigen Blick fordert er Pilatus heraus. Dieser hält sekundenlang stand, muss sich aber schließlich in höchster Verwirrtheit abwenden. Er fällt hier sein Urteil: nicht zurechnungsfähig, also nicht schuldig. Doch der Mob fordert ohne Gnade die Kreuzigung. Jesus lässt den Schmerz des Unverstandenen erkennen. Als das Urteil des Volkes über ihn kommt, lässt ihn das Entsetzen erstarren: Kill him, he says he´s God. He is a blasphemer. Dabei hat er das tatsächlich im ganzen Stück kein einziges Mal von sich behauptet.
Durch das aufgewiegelte Volk fühlt Pilatus sich in die Enge gedrängt. Die treibende Stimmung verwandelt Jesu Angst Stück für Stück in Panik. Dann befiehlt Pilatus die Geißelung, und in einem herzzerreißenden Mienenspiel erscheint auf Drews Gesicht Fassungslosigkeit und wilde Panik. Aufgelöst sieht er sich von Pilatus Schergen gepackt, die ihn die Treppe bis zur Bühnenmitte hinaufzerren. Hektisch sieht er dabei von links nach rechts. Als man ihm grob den Overall von den Schultern reißt, identifiziert der Zuschauer geschockt noch viel mehr blaue Flecken und Blutergüsse als sichtbare Zeichen der vorangegangen Folterung.
Ab jetzt prasseln die 39 endlosen Schläge auf Drew ein. Jeden einzelnen kann ich selbst auf mir spüren. Jeder Schlag klingt so überlaut in meinen Ohren, und die Unbarmherzigkeit, mit der Pilatus zählt und zählt, macht mich wahnsinnig. Drew leidet. Drew stöhnt. Er beißt die Zähne aufeinander. Der Schmerz jeden Schlages lässt seine Muskeln verkrampfen, sein Körper zuckt.
Schon nach wenigen Schlägen verliert er den Halt und sinkt auf die Knie. Er atmet stoßweise aus, anders kann er den flammenden Schmerz der schnell aufeinanderfolgenden Schläge nicht mehr bewältigen. Sein Oberkörper kippt immer weiter nach vorne, aber bei jedem Auftreffen des Schlagstockes krampft sich sein Körper zurück ins Hohlkreuz. Mit unmenschlicher Grausamkeit bekommt er die Hiebe hart und schnell zu spüren, zu schnell für eine Atempause. Die Kraft des Widerstandes gegen die brutale Gewalt lässt nach. Er versucht, einen Fuß zum besseren Halt aufzustellen. Es bleibt beim Versuch.
Und dann schreit er. Der Schrei ist ein Reflex, wenn ihn der rohe, Schmerz übermannt und die Kontrolle übernimmt. Er schreit. Doch anstatt zu brechen blitzt da in seinen Augen etwas auf, was mich zutiefst verwirrt: Das Tier in ihm, dass sich in Todesangst noch einmal aufbäumt.
Alle letzten Reserven packt er zusammen und sein Gesicht, sein Blick und seine Haltung nehmen eine aggressive Bedrohlichkeit an. Sein Überlebenswille erhebt sich über die Pein, als er in einem gewaltigen Kraftakt aufsteht. Er wird im Kampf Mann gegen Schmerz, Gedemütigter gegen Folterer die Oberhand behalten. Hier, an dieser Stelle kriegen sie ihn nicht klein. Es endet nicht hier. In seinem Blick trägt er eine immense Wucht, als er die letzten Schläge fast regungslos erträgt.
Als es zu Ende ist, steht er aufrecht auf zwei Beinen. Eine enorme Selbstbeherrschung hält ihn aufrecht, bis ihm der Schlagende einen letzten Stoß versetzt, der ihn die Treppe runterfallen lässt. Ich blicke jetzt auf den gefolterten Jesus, wie er zusammengekauert auf dem Boden liegt. Der Anblick des malträtierter Rücken, der mit roten Striemen übersät ist, ist kaum zu ertragen. Die Antwort auf Pilatus ist gepresst und aggressiv. Man glaubt, die Kraft des sich aufbäumenden Tieres in ihm zu hören, das ihn die unmenschliche Misshandlung hat überstehen lassen. You have nothing in your hand. Any power you have comes to you from far beyond. Everything is fixed und you can‘t change it.
Mein Gott, diese Gesicht. Wie kann man das so spielen? Wenn er sich erneut auf die Füße quält, sich im wahrsten Sinne des Wortes über Pilatus erhebt, deckt er seinen Schmerz zu. Er, der bis zum Äußersten Misshandelte, behält die Oberhand. Er blickt auf Pilatus herab, mit Anstrengung, aber mit einer gewissen Würde und einem leichten Anflug von Hochmut. Dennoch steht da ein gepeinigter Mann, aber einer, der sich jetzt die Butter nicht mehr vom Brot nehmen lässt. So weit ist er gekommen. Er wird sich nicht von Pilatus helfen lassen. Bedrohlich sieht die Szenerie aus, dieses eine Mal muss Jesus seine Macht tatsächlich ausspielen.
Sehr gut hier Pilatus, der erst Momente später realisiert, dass er in diesem Spiel auch sichtbar der Unterlegene ist und sofort peinlich berührt und irritiert aufspringt. Beide fixieren sich auf Augenhöhe und ist es Pilatus, der sich Jesus Macht beugen muss. Er befiehlt seinen Tod, ärgerlich, wütend. Seine Niederlage ist allzu deutlich und in größtem Unverständnis schleudert er Jesus sein Todesurteil entgegen. Indem er ihn dabei zu Boden stößt, stellt er zumindest vordergründig die Machtverhältnisse wieder her. Die if you want to. Großes Kino, weil dramatisches Schauspiel: die angespannten, erschöpften Züge Jesus fallen von ihm ab und mit einem stillen Lächeln breitet sich eine tiefe Zufriedenheit und sein ganz eigener Triumph aus: es ist geschafft; es wird so kommen, wie ich es mir auferlegt habe.
Superstar
Mit Pilatus aufgewühltem Abgang hofft man, eine Atempause zu bekommen. Doch in einem weiteren grausamen Akt sieht man stattdessen zu, wie Jesus eine Dornenkrone aufs Haupt gesetzt, nein, brutalst aufgedrückt wird, bis ihm das dunkelrote Blut in dicken Strömen über das Gesicht läuft. Während Judas im Glitzeroutfit Superstar singt, kniet Jesus mit dem Rücken zu uns und der Anblick seines entstellten Rückens noch schlimmer zu ertragen, wenn ihm das Blut daran hinunter läuft. Hier sieht man sein Gesicht wieder als Projektion auf der großen Leinwand, und ich danke dafür, dass diese Bilder eher dunkel bleiben. Gegen Ende des Liedes zerren sie ihn erneut zur Bühnenmitte, wo er gekreuzigt wird.
Drew gibt dabei körperlich alles. Wenn er am Kreuz mit ausgebreiteten Armen hochgezogene wird, dann ist von Hals über die Schultern bis zu den Armen jeder Muskel zum Zerreißen gespannt. Die Hände geöffnet, die Finger weit und starr. Man glaubt tatsächlich, man hätte ihm Nägel durch die Handflächen getrieben. Er hält seine nicht fixierten Füße tatsächlich die ganze Zeit übereinander.
Zunächst hebt sich nur seine Silhouette bei gedämpftem Licht ab, aber als dann die treibende Musik beginnt, setzt das Licht ihn auf ungeschönte Art und Weise in Szene und enthüllt gleich das grausamste Detail, das ich bis jetzt auf einer JCS-Bühne erlebt habe: Blutüberströmt hängt er am Kreuz, atmet zwei- oder dreimal stoßweise – und spuckt dann Blut. Nie zuvor habe ich das gesehen. das hat für mich noch mal eine andere Dimension, weil es so plastisch, so real wirkt.
Die unendlichen Schmerzen stellt er so plastisch dar, die unbarmherzig treibende Musik tut ihr übriges. Er ruft nach seiner Mutter. Der erste Ruf ist leiser und in der Musik kaum wahrzunehmen, der zweite ist mit größter Kraftanstrengung aus dem tiefsten Inneren aggressiv aufgestiegen. Noch wehrt sich Jesus. Dass er Durst hat ist eine laut geschriene Anklage. Doch der Atem wird zunehmend schwerer, abgehackter. Die tiefen Atemzüge werden weniger. Es bleibt jetzt nicht mehr viel Kraft. Trotzdem schafft er es noch einmal, seine Stimme zu erheben, vom eher weinerlichen my god, my god zum verständnislosen unter Tränen hervorgestossenem why have you forgotten me.
Jesus schnappt nur mehr nach Luft. Übermannt von Schmerz weiß er, dass jetzt das Ende gekommen ist. In einem letzten Satz voller Qual begibt er sich in die Hand Gottes. Mit seinem Leben endet die Musik. Drew lässt alle seine Muskeln erschlaffen, Oberkörper, Arme, Schultern. Zuletzt senkt sich der Kopf auf seine Brust. Jesus ist tot.
John 19,42
Die Jünger nehmen den Jesus von Kreuz und tragen ihn zu Maria Magdalena, die bestürzt hinzugekommen ist. Sie bettet seinen blutüberstömten Kopf in ihren Schoß und küsst ihn auf die Stirn. Dieser Anblick hat so was unendlich trauriges und entmutigendes. Sie steht auf und präsentiert sich traurig, anklagend und verzweifelt dem Publikum, die Dornenkrone in beiden Händen. Dazu wird ein weißes Tuch über Jesus gebreitet vom Orchestergraben ausgehend. Befestigt am ehemaligen Kreuz wird es über Jesus Körper hinweggezogen, bis es senkrecht über die ganze Höhe der Bühne gespannt wird. Darauf erscheint eine Projektion des Turiner Grabtuches. Alle Gesichter erheben sich der Stoffbahnen folgend nach oben. Es deutet die Auferstehung und die Auffahrt in den Himmel an.
Danke
Die gesamte Cast war unbeschreiblich gut, zusammen wurde hier ein Meisterwerk wahrhaft meisterlich auf die Bühne gebracht. Doch braucht es denk ich einen Leading Man wie Drew, um aus einer fabelhaften Inszenierung etwas so außergewöhnliches zu zaubern. Drew ist die Seele des Stücks.
Vom ersten Moment scheint es, als nehme er mich an die Hand, um mit mir einzutauchen. Ohne Netz und doppelten Boden. Wo andere einfach spielen, und das auch wirklich dramatisch gut, setzt er noch einen obendrauf. Er spielt nicht. Er ist im Stück. Und ich mit ihm.
Danke, Drew Sarich, für diese beiden Abende.
Weiterlesen: Meine Eindrücke des 1. Akt von Jesus Christ Superstar 2018 im Ronacher.
Alle Fotos: www.joachimschlosser.de
Herta Welzel
Das hast Du gaaanz super geschrieben! Danke!
Patrick
Das ist der absolute Wahnsinn, Joachim!
Was für eine Erinnerung an zwei atemberaubende Abende, die ich persönlich 2019 in dem Musical erleben durfte.
Danke Drew 🙂