Die Ausstrahlung von NBC Jesus Christ Superstar live in Concert ist bereits über eine Woche her. Allerdings habe ich mich erst jetzt getraut, sie mir per YouTube-Video anzusehen. Zu frisch waren die Erinnerungen an eine meisterhafte Inszenierung in Wien. Das Gefühl, etwas wahrhaft Außergewöhnliches gesehen zu haben, hat sehr viel Raum beansprucht und ehrlich gesagt, nachdem, was ich im Vorfeld schon an Trailern zu sehen bekommen habe von der NBC-Version, hielt sich meine Neugierde eh in Grenzen.
Die NBC-Produktion
NBC hat Jesus Christ Superstar in Concert als Produktion konzipiert, die vor Publikum gespielt wurde und gleichzeitig live im Fernsehen übertragen wurde. Das ist schon mal ein denkbar schwieriger Ansatz. Für beide Zielgruppen – Livepublikum und Fernsehzuschauer – gleichzeitig höchste Qualität zu bieten, muss nicht, kann aber grandios scheitern.
Es wurde ein mächtiges Budget verbraten, Andrew Lloyd Webber und Tim Rice persönlich waren als Produzenten mit involviert, und man hat mit David Leveaux eine Brodway-erfahrenen Regisseur verpflichtet. Die internationale Kritik an der Show war überwiegend positiv, bei Rotten Tomatoes liegt sie momentan bei 8,3 von 10 möglichen Punkten.
Und ich? Ich sitze hier und bin hochgradig enttäuscht.
Jesus Christ Superstar und ich
Jesus Christ Superstar und ich, das ist wie Arsch auf Eimer: das passt. Meine größte Musicalliebe. Kein zartes Pflänzchen ist diese Liebe, sondern vereinnahmend und unheimlich raumgreifend. Darum war ich von mir selbst überrascht, wie maximal enttäuscht ich von dieser Produktion bin.
Auf YouTube habe ich zum Stück selber noch einen Großteil der über 650 Kommentare gelesen. Und siehe da: sehr viele Zuschauer kannten das Stück vorher gar nicht.
Ich überlege seitdem, wie ich die Inszenierung gefunden hätte, hätte ich sie zum ersten Mal gesehen. Ich erinnere mich an mein erstes JCS-Erlebnis. Es war in meinem Heimatort Augsburg 2006. Auf unserer Freilichtbühne vom Ensemble des Stadttheaters dargeboten (einzig Judas war „eingekauft“), hat es mich sofort gepackt. Auch wir hatten einen Jesus, der im Gethsemane nicht alle Töne traf – geschenkt. Dieses unglaublich intensive und musikalisch doch eher ungewöhnliche Stück hat mich sofort durchdrungen und mich mit Haut und Haaren in Besitz genommen.
Scheinbar ging es einem Teil der Fernsehzuschauer ebenso, und so ist zumindest ein Großteil der wohlwollenden Kommentare entstanden: Weil Webber/ Rice ein phänomenales Stück Musikgeschichte geschrieben haben.
Jesus Christ Superstar und NBC
Konzert mit Live-Übertragung. Gut, das heißt, ohne Netz und doppelten Boden. In erster Linie geht es also für die Macher darum, dass möglichst viele Leute überhaupt einschalten! Der NBC ist ein Wirtschaftsunternehmen, dessen Haupteinnahmequelle die Werbung ist. Die Vereinigten Bühnen Wien (VBW) hingegen müssen qualitativ ganz anders arbeiten, denn sie müssen eine ganze Spielzeit lang ihr Haus vollkriegen, während NBC genau diese eine Show hat, um seine Einnahmen zu generieren. Dafür braucht man ein oder zwei Zugpferde, die diese Last schultern. Mit der Verpflichtung von John Legend und Alice Cooper wollten die Verantwortlichen ein höchstes Maß an Aufmerksamkeit sichern. Man hat mit John Legend, R‘n‘B-Star und Grammy- und auch Oscargewinner, einen freundlichen und skandalfreien Sympathieträger als Jesus besetzt. Rein formal alles richtig gemacht. Daneben Alice Cooper als Kontrapunkt. Der soll meine Generation und älter sowie das Rockerklientel vor den Fernseher holen. Knallhart hat man die Überraschung, Exaltiertheit und das gespielte Entsetzen schon im Vorfeld kalkuliert. Das wiederum reicht von „Waaaas, den gibt’s noch?“ bis „Yeah, die trauen sich was!“ Wiederum im Vorfeld alles richtig gemacht.
Aber nicht für mich, den JCS-Liebhaber. Ich bin noch immer enttäuscht, und ich erkläre euch kurz, warum:
Die 4 Gründe, warum Jesus Christ Superstar in Concert (NBC) für mich als Musical-Liebhaber voll in die Hose ging:
1. Große Bühne versus intimer Rahmen
JCS ist für mich ob der Tragik der menschlichen Schicksale ein eher intimes Stück. Zwar die größte Geschichte aller Zeiten, aber an sich geht es um zwei Menschen und wie das Schicksal sie verknüpft hat. Es auf einer Riesenbühne zu sehen, entspricht einfach nicht dem, was ich MIR davon erwarte… schon bei der Arena-Tour (mit Ben Forster, Tim Minchin und Mel C) hab ich mich damit unheimlich schwer getan.
Wenn Judas wutentbrannt aufspringt und dann aber noch gefühlte 100 Meter zurücklegen muss, um vor Jesus zu stehen, bremst das die Dynamik, die Spielfreude der Akteure.
Schon das überdimensional hohe Bühnenbild hat mich persönlich erschlagen. Die Darsteller verschwinden darunter förmlich. Natürlich verstehen die Macher ihr Handwerk und nutzen diese extremen Aufbauten. In einem unheimlich schönen, versöhnenden Moment entschwindet der am Kreuz hängende Jesus am Schluss in den Nachthimmel. Bombastisch und berührend zugleich, das kann sich sehen lassen.
Die zu große Bühne wird gefüllt von zu vielen Mitwirkenden. Das hat mich unheimlich gestört. Vielleicht sollte ja dargestellt werden, wie Jesus die Massen mobilisieren konnte. In der Übertragung auf heute also, wie ein Superstar unserer Zeit Arenen füllen würde. Das ist aber ja gar nicht Kern des Stückes. Dieses Stück handelt weniger von Jesus, dem Heilsbringer. Es hat so gut wie keine religiöse Komponente und will die Wirkung von Jesus auf die Menschen gar nicht in den Mittelpunkt stellen. Es geht doch um die Wirkung auf und das Beziehungsgeflecht zu Judas, das viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Aber ist das nicht der Mittelpunkt der Geschichte, von wo aus in einem wunderbaren Bogen der Weg der beiden Männer beschrieben wird?
Durch die Riesenbühne samt Riesenaufbauten und den vielen Beteiligten wird den Zuschauern außerdem die Möglichkeit genommen, mit ihrer Konzentration im Zentrum der Geschichte zu bleiben.
Das Live-Publikum miteinzubeziehen war an sich eine originelle Idee. Die sind gut mitgegangen, haben aber auch immens viel Unruhe mit hineingebracht. Und nicht nur deshalb hat Jesus Christ Superstar in Concert tatsächlich Konzertcharakter. O.k., in Ordnung, vielleicht war es so gedacht, dann haben die Verantwortlichen alles richtig gemacht. Ich fand es enttäuschend, denn ich habe Jesus Christ Superstar ebenfalls in Concert heuer in Wien mit begrenzter Bühne und verhaltener Ausstattung erlebt. Diese emotionale Wucht dort hat mich fast eine Woche komplett ausgeknockt.
Die Größe der Bühne und der Effekte bringen mich auch weiter zum nächsten Punkt:
2. Große Effekte versus Detailverliebtheit
Wisst ihr, welches Detail bei JCS in Wien total „gefesselt“ hat? Jesus‘ Handgelenke. Die waren nach der Verhaftung geschminkt, so, als hätte Jesus lange Zeit Fesseln getragen. Es hat mich total fasziniert, dass die Maske so einem kleinen Detail, das vielen Menschen noch nicht mal auffällt, eine solche Aufmerksamkeit widmet. Das sagt so viel aus über das, was der Regisseur will mit dem Stück. Alex Balga wollte einen realistischen Jesus, einen, mit dem man liebt, zweifelt und leidet. Den man als Person ganz erfassen kann, dessen Schicksal einem als Zuschauer anvertraut wird und das einen deshalb emotional so herausfordert.
Drew taucht bei Pilatus auf mit blauem Auge und Blut, dass ihm den Mundwinkel herab läuft. Und ohne, dass jemand eine Zeile singt, springt die Phantasie des Zuschauers in eine imaginäre Vergangenheit und malt sich aus, was man mit dem armen Menschen angestellt hat. Da wird Inhalt vollkommen unausgesprochen transportiert, der zwar zum Verständnis nicht notwendig ist, aber die Geschichte vervollkommnet. Das hat die Menschen um mich und mich selbst noch deutlicher berührt als im Jahr zuvor. Weil du dadurch angeregt wirst, selbst zu denken, zu fühlen, zu interpretieren. Dir die Geschichte einzuverleiben. Mit solchen Momenten gelingt es dem Regisseur, dass es DEINE Geschichte wird: obwohl alle Zuschauer die gleiche Inszenierung sehen, verankert sich die Geschichte auf wunderbare Weise ganz individuell im deinem Inneren durch deine Vorstellung, durch deine Phantasie.
Danke an dieser Stelle an Alex Balga, der es dieses Jahr in Wien geschafft hat, den Zuschauer an die Hand zu nehmen und zu führen. Und dass er gleichzeitig Freiräume geschaffen hat, in denen er den Zuschauer loslässt und ihm die Geschichte anvertraut. Ganz selbstverständlich aber hat er einen durchgehenden Bogen gewoben, der dich wieder sicher auffängt. Und mit Drew Sarich, der das alles so mühelos lebt, hat er da den absolut richtigen gefunden. Die beiden (und andere dazu) haben so eine unvergleichliche Darbietung geschaffen.
Habt ihr gesehen, wie Drew am Kreuz hängt? Mit den offenen Handflächen? Sie waren nicht da, die Nägel. Aber ich konnte sie trotzdem sehen. Genial gemacht. Habt ihr gesehen, wie John Legend sich festhält? Geht gar nicht.
Es sind einfach unterschiedliche Herangehensweisen: Die NBC-Inszenierung war nicht darauf aus, den Menschen eine Geschichte plastisch, farbig und in allen Details zu erzählen. Es ging nicht drum, dass Menschen eine Verbindung fühlen, sich emotional verlieren.
Sie wollte wohl Effekte bieten, eine tolle Show sein. Man hatte einen einzigen Versuch und bot alles, was möglich war und von dem man glaubt, dass es Menschen fasziniert. Hat ja auch bei vielen geklappt und möglicherweise haben sie sich damit tatsächlich ein neues Publikum erschlossen. MICH haben sie damit aber nicht eingefangen. Leider. Die NBC-Produktion war mir zu groß, zu laut, zu undefiniert. Ich habe nirgends meinen Anker werfen können, um mich dranzuhängen.
3. Cast
Prinzipiell waren die darstellerischen Leistungen ganz in Ordnung, wenn man davon absieht, dass die Inszenierung in ihrer Größe und Effekthascherei gar kein intimes, differenziertes Spiel zulässt. Aber das ist nicht den Akteuren anzulasten, das muss man trennen. Wenn der Regisseur rein von der Bühne und der Show in solchen großen Dimensionen denkt, dann sollte er seine Darsteller anleiten, in ebenso großen Dimensionen zu agieren. Da reichen zarte Blicke nicht mehr, da muss die Gestik und die Mimik eindeutiger und größer ausfallen.
Sara Bareilles als Maria Magdalena war sosolala. Sie hat klar und sauber gesungen, stellenweise auch ganz gefühlvoll. Aber mir fehlte hier einfach die Attitüde. Sie hat es nicht geschafft, mir klarzumachen, wer sie ist und was sie will. Oder, dass sie vielleicht gar nicht weiß, was sie will. Sie war unaufgeregt und nett. Aber an keiner Stelle hab ich ihr abgenommen, wie sie Jesus verehrt oder welche Gefühle auch immer sie ihm entgegenbringt. Sie hat gesungen, wie man ein Lied schön vorträgt. Aber das Eine hat sich nicht zum Anderen gefügt.
Brandon Victor Dixon als Judas war eindeutig der beste Akteur. Er hat mir sehr gut gefallen, einfach weil er ein Typ mit hohem Wiedererkennungswert war. Er hat sich eingebracht, er hat versucht, seinem Judas eine durchgehende Kontur zu geben. Sein Gesang war dementsprechend differenzierter als der der anderen, er konnte mit seiner Stimme Gefühle transportieren. Hin und wieder variierte er innerhalb der Melodie. Was ich sehr mag, solange es im Rahmen bleibt. Aber prinzipiell blieb mir auch bei ihm der Hintergrund zu blass. Manchmal kam er mir vor wie ein Stänkerer. Wo genau konnte man denn erkennen, dass er Jesus bester Freund ist? Ich sage nicht, dass er nichts dergleichen gespielt hat, möglicherweise hat er das. Aber es ging unter.
Norm Lewis als Kaiaphas: ich liebe Norm Lewis. Seine Frisur und sein Outfit waren toll gemacht und singen kann er auch. Er spielt brillant mit seiner Mimik. Schade, dass die Inszenierung das wenig würdigt. Außerdem bevorzuge ich einen tieferen Kaiaphas. Wenn ich mir denke, wieviel Bedrohlichkeit Andreas Kammerzelt in Wien vor drei Wochen allein durch diese vollen tiefen bedeutungsschwereren Töne erzeugt hat… Die Weite der Bühne, die räumliche Distanz der Figuren zueinander, nimmt einiges der Bedrohlichkeit der Priester. Aber dafür kann Norm Lewis nichts. Die Szenen der Priester haben zu den besten gehörten, weil sie untereinander alle sowohl gesanglich als auch schauspielerisch wirklich toll harmonierten.
Ich hätte Norm Lewis eher als Pilatus besetzt. Und ich warte auf den Tag (wahrscheinlich vergebens), an dem ein Regisseur es sich traut und James Hetfield von Metallica als Kaiaphas besetzt. Zwar stimmlich auch kein Bass, aber dem traue ich eine unheilvolle Düsternis zu.
Erik Grönwall als Simon war nicht nur äußerlich überdeutlich zum Rebellen gemacht: Der war viel zu überdreht angelegt. Mir persönlich war das zu platt. Simon ist mehr als ein ausflippender Fanatiker. Auch Simon hatte einen Standpunkt, einen, den er klar und deutlich machen wollte, mit Argumenten, die ihm wichtig waren. Sein Fanatismus habe ich immer als einen jugendlich-ungeduldigen Überschwang gepaart mit ein bisschen Selbstüberschätzung gesehen. Ja, Simon schießt in diesem Lied übers Ziel hinaus. Allerdings hier viel zu weit. Schade, denn ich fand ihn stimmlich gut.
Ben Daniels als Pilatus hat stark angefangen: den Traum fand ich ziemlich gut. Aber was am Anfang sowohl stimmlich als auch schauspielerisch einwandfrei war, ließ gegen Ende leider nach. Als Theaterschauspieler hat er aber deutlich mehr als die anderen mit seinen Mitstreitern interagiert. Die Inszenierung schenkt ihm beim zweiten Verhör aber nicht mal einen vernünftigen Abgang. Wie habe ich Filippo Strocchis Pilatus geliebt, der jeden Funken Emotion – Verwirrung, Angst, in die Enge getrieben sein, Schrecken und Wut – in seine letzte Szene gepackt hat. Ben Daniels, renommierter ausgebildeter Schauspieler hätte das auch hinbekommen!
Und Alice Cooper als Herodes. Ja, Alice Cooper ist cool. Richtig, richtig cool. Er hat der Produktion gut getan finde ich. Und er war fantastisch. Sein „Hey Jerusalem, I am your king“ fand ich sehr originell. Aber er hat eine Nummer abgeliefert. Und keine Stück, das die Handlung weitertreibt, zumindest nicht vom Spannungsbogen der Inszenierung. Trotzdem hat es mir Spaß gemacht, ihm zuzusehen. Und nachdem es für mich zumindest eh keinen Bogen gab, der mich als Zuschauer einfach führt, habe ich dieses Stück einfach als Nummer genießen können.
Einige von euch hatten nicht die Chance, die Wiener Inszenierung zu sehen. Ich muss an dieser Stelle trotzdem auf Nicolas Tenerani eingehen, denn man kann das nicht oft genug sagen: Sein Herodes war einzigartig. Er hat den Spagat gehalten zwischen sich selbst zelebrieren und sich in den vorgegeben Rahmen einfügen. Er hatte eine wunderbar natürliche Balance zwischen Tragik und Komik. Komisch und seltsam darf es anmuten, wie Jesus verhöhnt wird, aber nicht überzogen, sondern immer noch so realistisch, dass dir das Schmunzeln im Hals stecken bleibt. So faszinierend und glänzend gelöst, lieber Nicolas Tenerani, dass du Alice Cooper, der mich seit meiner Jugend fasziniert hat, locker in die Tasche gesteckt hast!
Insgesamt eine ganz gute Cast. Mit fehlte, ähnlich wie in der Arena-Tour, die Chemie zwischen den Darstellern. Einzig die Priester haben sich als verschworene Gemeinschaft homogen präsentiert. Insgesamt waren es viele solide, wenn auch wenige hervorzuhebende Einzelleistungen. Das große Ganze blieb allerdings auch hier wieder seltsam blutleer.
4. John Legend versus Drew Sarich
Ich gebe es zu, ich bin da ganz offen: ich bin ein 100%es Drew Sarich-Fangirl. Ich gehöre zur DrewCrew. Einmal gehört, dem Mann und seiner Stimme komplett verfallen, bringt uns nichts mehr auseinander. Da hat jeder andere Darsteller, der sich an Jesus (aber auch an Judas, Graf von Krolock, Che, Jekyll & Hyde…) versucht, eine immense Hürde zu bewältigen: die Hürde, dass er NICHT Drew Sarich ist. Aber ich nehme aufmerksam wahr, spüre und denke sogar dabei. Darum kann ich auch relativ differenziert wiedergeben, was ich über John Legend als Jesus im Gegensatz zu Drew Sarich denke:
Das war nix.
Die wichtigsten englischsprachige Rezensionen habe ich quer gelesen. Zwischen den Zeilen liest man es manchmal heraus, ausgesprochen wird es nicht: dieser durchaus sympathische Mann war ganz klar überfordert. Man konnte es sowohl sehen als auch hören!
Es gibt ja einen Grund, warum Musicaldarsteller eine fundierte Ausbildung bekommen. Es braucht zum Beispiel die Tonhöhen, die ein John Legend nicht bringt. Ich kenne John Legend allerdings zu wenig, als dass ich mir ein prinzipielles Urteil erlauben dürfte. Keine Ahnung, wie oft er seine Kopfstimme gebraucht. Aber die ist mir zu dünn, zu brüchig und von der Intonation nicht sicher genug. Er hat eine schöne Stimme, in der Tiefe hat sie mir extrem gut gefallen, aber da fehlt mir Technik, hohes gesangliches Niveau über mehr als eine Oktave und über mehr als eine halbe Stunde zu halten. Da fehlt außerdem Volumen und Differenzierungsfähigkeit. So eine Stimme muss Ärger, Wut, Erstaunen, Entsetzen, Liebe, Wohlwollen und noch hundert andere Emotionen innerhalb kurzer Zeit transportieren können. Und in dieser Art von raumgreifender Produktion auch noch sicher und eindeutig. Allein die schöne Stimmfarbe reicht da nicht mehr. Wenn man doch auf der Suche nach einem Star für diese Rolle war, wieso haben sie denn eigentlich nicht Justin Timberlake gefragt?
Auf YouTube gibt es relativ aktuell ein Video, in dem es darum geht, wer den hohen Ton in Gethsemane am besten trifft. Es kommen genügend in solchen Höhen. Viele sind aber in der Intonation nicht sauber. Andere wirken angestrengt beim Wechsel in die Kopfstimme, müssen erst noch Luft holen. Aber es gibt nur einen einzigen Sänger, der diesen Wechsel hinauf und wieder zurück so astrein bringt, so sicher und nahezu mühelos. Faszinierend! Und zusätzlich dazu schafft Drew Sarich es auch noch, dass die Dynamik innerhalb dieser paar Töne dieselbe bleibt. Wenn man diese Töne als Bogen darstellen würde, dann muss die Linie klar bleiben, ohne Wackler, ohne Zittern, in aller Einfachheit und Klarheit, in der selben Lautstärke und dem selben Ausdruck, auch beim Wechseln zurück. Das ist die hohe und meist unerreichte Kunst des Drew Sarich. John Legends Kopfstimme ist weder sicher in der Intonation noch voluminös und die Dynamik verliert er dabei vollends.
Überdies braucht ein Musicaldarsteller die Idee eines Liedes: Was transportiert es? Eher Handlung oder eher Gefühl? Entspannung oder atemlose Dramatik? Welchen Platz muss das Lied innerhalb einer durchgehenden Story ausfüllen sowohl musikalisch, aber auch als Transporteur von Inhalt. Diese Idee muss dann neben der gesanglichen Interpretation auch gestisch und mimisch interpretiert werden. Und zwar so, dass es zu den Szenen davor und danach passt, dass es den Bogen spannt. Das Schauspiel muss sich nahtlos einfügen in die Art, wie man singt, wie man die Musik interpretiert, wie der Regisseur das Stück ans Publikum weitergeben will. Drew Sarich macht das meisterhaft, weil er in der Geschichte lebt. Es könnten ein Dutzend unvorhergesehener Dinge passieren, er würde nicht aus der Rolle fallen, er kann nicht aus der Rolle fallen. John Legend konnte sich zu keiner Zeit überhaupt in die Rolle einfinden. In der ersten halben Stunde war er noch bemüht dabei, danach wirkte er seltsam unbeteiligt, als würde er das alles nicht an sich ranlassen wollen. Immer ein wenig auf Valium hat er selten überhaupt Anteil genommen an seinem Schicksal oder den Schicksalen, die mit dem seinen verknüpft sind…
Lieber John Legend, in sich versunkene Schulterzuckungen, wie es RnB-Sänger häufig machen, wenn sie in ihren Rythmus sind, gehören nicht ins Gethsemane. Das Lied ist ein großer innerer Kampf, den Jesus ausfechtet mit sich. Da will ich sein Inneres sehen, hören, spüren und nicht die Schultern. Nein, tut mir leid. Es war eines der schlechtesten Gethsemane, dass ich bis jetzt gehört habe.
Insgesamt habe ich zu John Legends Jesus keine Verbindung aufbauen können. Man kann Jesus vollkommen unterschiedlich anlegen. Nichts muss, alles darf. Aber ich möchte, dass er eine Attitüde transportiert. Ich möchte ihn kennenlernen und spüren. Hey Jesus, wer bist du, wofür stehst du? Nur dann kann ich seiner Geschichte folgen, kann mit ihm zweifeln und leiden. So bleibt bei mir eine merkwürdige Distanzierung, die es mir auch schwer macht, die anderen Figuren zu fassen.
Das ist aber nun mal das, was Musical für mich ausmacht. Ich mag hineingezogen werden in eine Geschichte und erst mit dem Schlusston oder sogar noch deutlich später wieder auftauchen.
Fazit
Die NBC als Wirtschaftsunternehmen hat mit Sicherheit einiges richtig gemacht. Mit ihrem aus Berühmtheiten und echten Musicaldarstellern gemischten Cast wollten sie in alle Richtungen auf Nummer sicher gehen. Sie haben alles aufgeboten an Bühne, Effekten, Musiker (habe ich bis jetzt nicht erwähnt, aber waren ohne Ausnahme wirklich sehr gut) und Namen. Ich hoffe, es hat sich für sie gelohnt, die positiven Kritiken lassen es zumindest so scheinen. Es war eine tolle und gut gemeinte, professionelle Show. Aber nicht das, was ich mir erwartet hatte. Nicht das, wofür ich brenne und nichts, was meine Leidenschaft am Musical Jesus Christ Superstar befriedigt hätte.
Ich fahre nächstes Jahr wieder nach Wien (ich bete, es wird wieder aufgenommen). Da wird in 3 Minuten mehr Gefühl und Gespür für die Geschichte transportiert als in diese Show über 2 Stunden!
Indrani Bose
Blanker Neid!
Julia Stöhr-Schlosser
Wer? Worauf? Und weshalb?
Fragen über Fragen…
Georg Horvat
Hallo Julia. ich habe diese Kritik erst jetzt entdeckt. ich hab mir auch die NBC-Produktion angesehen und auch vorher in Wien JCS mit Drew Sarich. Ich muss dir voll und ganz Recht geben. Eigentlich findest du noch zu viele positive Aspekte. Ich war nicht nur enttäuscht, ich war entsetzt und wütend, was NBC hier gemacht hat. Und Alice Cooper fand ich auch nicht gut, wie eine schlechte Karikatur.
LG Georg