Bei der Erziehung meiner Kinder ist mir wichtig, dass sie ihre kindliche Neugier voll ausleben können und damit ihren Horizont erweitern können. Beim Thema Musik heißt das bei uns: Querbeet. Bei uns laufen die Giraffenaffen mit der gleichen Berechtigung wie eine Aufnahme von Smetanas Moldau. Mit vier Jahren hat der Sohn sein erstes Queen-Konzert auf DVD gesehen. Wir waren im Sitzkissenkonzert von der Zauberflöte für Kinder genauso wie eben jetzt beim Sommernachtskonzert der Wiener Philharmoniker. Ich ertrage sogar die Micki Krause-Phase des Vorpubertierenden. Ich bin immer wieder erstaunt, wie genau Kinder hinhören und wie viel sie auch wirklich auf- und wahrnehmen. Natürlich gilt das gerade für Musical. Musical verbindet erzählte Geschichte mit Musik: Zwei Dinge, die Kindern ganz wichtig sind. Gerne nehmen sie deshalb auch meine Musical-Leidenschaft auf und tauchen voll mit ein. Und können auch ganz genau sagen, was sie nicht mögen: Les Miserables steht nicht sehr hoch im Kurs, da zwei von drei Kindern noch gar kein Englisch sprechen, dem Sohn ist es schlicht zu lang und zu fad. Was immer geht, sind die Vampire. Ein musikalischer Dauerbrenner bei uns zu Hause. Als wir uns zum zweiten Mal in dieser Spielzeit aufmachen wollten, um TdV in Wien zu sehen, wollte unsere Vreni, 5 Jahre, unbedingt mit. Deshalb beschäftigte uns die Frage:
Kann man einer 5-jährigen zweieinhalb Stunden Vampire zumuten?
Ich lese die Frage, ab wann Kinder denn ins Musical oder speziell in TdV gehen können/ dürfen, immer mal wieder in den diversen Foren. Natürlich gibt es keine Standard-Antwort. Ich möchte deshalb kurz von unseren Überlegungen und unserer Vorgehensweise berichten.
Unsere 4 Fragen, ob das Kind TdV/ Musical-reif ist
- Kann mein Kind solange still sitzen und sich benehmen?
Das ist eine vollkommen berechtigte Frage, denn es gibt ja außer uns noch viele andere Menschen im Theater, die einen Haufen Geld bezahlt haben, um die Show zu sehen. Und schwätzende, zappelnde, womöglich sogar essende Kinder sind einfach störend, das sehe ich auch so.
Die Antwort auf die Frage war eindeutig. Ja, kann sie. Wir waren schon in klassischen Konzerten, das Kind war auch bereits mal im Kinderkino. Prinzipiell kann es sich super still verhalten. Sie plappert nicht dazwischen und versteht, wenn sie tatsächlich mal eine Zwischenfrage hat, dass man diese sehr leise stellen muss und möglicherweise auch keine ausführliche Antwort erhält. Sie hält auch aus, die ganze Zeit nix zu essen oder zu trinken (ihr glaubt ja nicht, was Eltern alles zu dreiviertelstündigen Kinderkonzerten an Verpflegung mitbringen. Da bin ich schon ein Alien, weil ich nur das geforderte Sitzkissen dabei hatte…). Alles in allem: Check! - Ist mein Kind so lange aufnahmefähig?
Eine schwierige Frage. Meine Tochter ist imstande, die ganze Doppel-CD am Stück zu hören. Aber reicht das? Wenn Kinder CD hören, dann sitzen sie dabei normalerweise nicht in Klappsesseln. Meine liegen dabei im Bett (abends) oder sitzen spielend auf dem Boden. Da muss die Konzentration auch nicht die ganze Zeit 100% da sein. Aber im Theater kommt ja noch der visuelle Input dazu. Ein Theaterbesuch ist schon besonders: die vielen klatschenden Zuschauer, das Licht, dann ein riesiges Bühnenbild, die laute Musik. Alles in allem schon gewaltig, was da so auf ein Kind zu kommt. Hm. Wir waren uns nicht sicher. Bis zur Pause würde es gehen, da waren wir uns einig. Aber danach? - Welche Reaktionen während der Show sind möglich?
Vampire sind mit Sicherheit nicht für die breite Masse der 5-jährigen geeignet. Das ist mir sonnenklar. Die Szenerie ist einfach zu düster und Furcht einflößend, da können die Kids noch so cool sein. Gut, das Kind findet Vampire nun mal spannend. Naja, im Bilderbuch. Im Programmheft. Aber live? Möglicherweise hat sie einfach furchtbar Angst. Das wäre ein Grund, das Theater sofort zu verlassen. Vielleicht ist aber dem Kind alles zu viel und es schaltet einfach ab. Kinder können da wahnsinnig viel ausblenden. Ebenfalls als Zeichen von Überforderung ein Grund für sofortigen Abbruch. Oder es kann tatsächlich mit dem Geschehen so wenig anfangen, dass es sich fürchterlich langweilt. Und Kinder, die sich langweilen, machen im Normalfall einen Haufen Unsinn. Ebenfalls nicht hinnehmbar. Das mit der Langeweile konnte ich einfach aus Erfahrung für meine Tochter ausschließen. Aber die anderen Reaktionsmöglichkeiten? - Was macht das Gesehene langfristig mit dem Kind?
Und schlussendlich muss ich mir als verantwortungsvoller Elternteil auch die Frage stellen, wie es das Gesehene wohl verarbeitet. Keiner hat was davon, wen die arme Maus nächtelang von Albträumen geplagt wird. Auf zarte Kinderseelen muss man einfach achtgeben.
Entscheidungsfindung
Als allererstes haben wir uns eine YouTube-Version zu Hause am Fernseher angeschaut. Das fand sie total toll, es gab keine Probleme, auch in den folgenden Tagen und Nächten nicht. Der Ruf nach der Aufführung im Theater wurde dagegen immer lauter, die kindliche Neugier auf das „richtige“ Theater immer größer. Also haben wir beschlossen, es einfach zu versuchen. ABER: Mit Netz und doppelten Boden. Für mich und die beiden Großen hatte ich Karten im Parkett, vierte Reihe am Gang (Mama, ich will dass der Drew an mir vorbeiläuft… ach, gute Idee, Schatz, aber vergiss es, der Gangplatz gehört MIR! Was bin ich doch für eine selbstlose Mutter 😉 Für den Göttergatten und die Fünfjährige habe ich Karten im 2. Rang, erste Reihe besorgt. Meine Idee dabei war, dass sie hier nicht so mitten im Geschehen ist, und durch den Blick von oben auf die Bühne eher eine gewisse emotionale Distanz halten kann. Außerdem sieht sie dabei ein wenig in den Orchestergraben und hat so Ablenkung, wenn es auf der Bühne mal nicht so spannend ist.
Die Abmachung, die wir außerdem getroffen haben, war: Sobald irgendetwas komisch ist und sich das Kind nicht wohlfühlen, wird das Projekt abgebrochen und der Göttergatte verlässt mit der Kleinen die Vorstellung. Wir haben das fest so eingeplant, es wären dann auch nur zwei 20-Euro Karten „kaputt“ gewesen. Und mein Mann ist von sich aus kein so großer TdV-Fanatiker, als dass er einen drohenden Abbruch lange hinausgezögert hätte, um selbst so viel wie möglich vom Stück mitzubekommen. Darauf konnte ich mich also verlassen.
Ergebnis
Es hat geklappt! Vreni war super brav, sie hat sich weder gelangweilt noch gefürchtet. Den Vampir, der im 2. Rang zum Ende des ersten Aktes erschreckt, fand sie spannend („Mama, er sah japanisch aus. Gibt es auch japanische Vampire?“). Mein Mann hat sie aber vorgewarnt, dass da jetzt ein Vampir kommt, der sie erschrecken will. Und sie soll ihn doch zuerst erschrecken. Dadurch war sie schon in Hab-Acht-Stellung und auch wirklich neugierig. In der Pause hab ich zu ihr gesagt, es reiche jetzt und sie müsse jetzt nach Hause gehen. Aber nein, keine Chance. Sie wollte unbedingt bleiben („Mama, nachher beißt er sich doch!“). Ich habe sie dann mit ins Parkett genommen auf meinen Schoß. Auf den Rangplätzen sieht man, wenn man klein ist, doch sehr wenig. Und auch der zweite Akt verlief ohne Zwischenfälle. Die Zombies fand sie erst bedrohlich. Ich habe sie leise auf die Kostüme aufmerksam gemacht und sie gefragt, ob Beine wohl angemalt sind. Und schon war sie kräftig am schauen und die Bedrohlichkeit dieser Szene nicht mehr so spürbar. Danach war sie weiter ruhig und interessiert. Und beim Finale war sie wirklich selig.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass sie in der Nacht ruhig und lange geschlafen hat und auch bis heute, einen Monat später, kein Vampirproblem aufgetaucht ist.
Fazit
Natürlich muss eine 5-jährige TdV nicht sehen, keine Frage. Für viele ist das sogar unvorstellbar, und das kann ich auch nachvollziehen. Für uns als Familie war es ein tolles Erlebnis, es zusammen zu sehen, so, wie wir es zusammen auch zu Hause hören und singen. Wir haben versucht, unsere Elternverantwortung insofern wahrzunehmen, als das wir nicht gedankenlos ihrem Wunsch nachgekommen sind, sondern ehrlich abgewägt haben. Nachdem für uns noch Unsicherheiten bestanden, haben wir das Ganze mit viel inhaltlicher Vorbereitung und nur mit der Versicherung, das ganze abbrechen zu können, gewagt. Damit sind wir sehr gut gefahren und haben nun eine glückliche Bald-6-jährige zu Hause.
Wie hat es dir gefallen, Vreni?
Wir haben uns zu Hause – quasi als Nachbereitung – immer wieder mit ihr unterhalten. Einiges habe ich mitprotokolliert für ein Fotobuch, dass ich ihr als Erinnerung machen werde. Mir ist ja klar, dass sie sich in wenigen Jahren schon nicht mehr dran erinnern kann. Ich möchte euch Teile dieser Zusammenfassung, die ich im Interview-Stil gestaltet habe (auch Vreni spricht mit 5 Jahren noch keine langen Prosa-Texte), hier mal auszugsweise zur Verfügung stellen. Lest also im folgenden die Gedanken der 5-jährigen Vreni zu Tanz der Vampire:
Um was geht es in TdV?
Um Vampire.
Sind denn alle Menschen auf der Bühne Vampire?
Nee. Sarah, Alfred, Professor, der Chagall, die Magd und die Rebecca sind normale Menschen.
Was passiert denn alles?
Also der Alfred sucht den Professor und als er ihn gefunden hat, da lag er erfroren da und dann musste er den zu dem Knoblauch-Haus bringen. Dann kam Sarahs Vater nach Hause und hat gesehen, wie sie gebadet hatte und hat sie in ihr Zimmer geschickt.
Bei Alles ist hell singt Professor, Magda, Rebecca und Chagall.
Dann sperrt der Chagall die Sarah in ihr Zimmer ein und dann haben Alfred und Sarah sich verliebt. Und dann kommt über ihr Haus der Graf und tut sie begrüßen, da sitzt die Sarah in der Badewanne. Er sagt: Ich lad dich ein zum Ball. Sie rennt zum Schloss. Der Chagall beißt dann noch die Magd.
Beim Ball tut sie mit dem Grafen tanzen. Sie hat ein rotes langes Kleid an. Dann wird der Alfred noch gebissen von der Sarah. Dann tanzen sie noch im Finale und singen Es laden die Vampire zum Tanz.
Wer ist deine Lieblingsfigur:
Die Sarah, weil die am Ball so ein schönes Kleid anhat.
Und wer ist dein Lieblingsvampir?
Magda, weil sie so schön singen kann.
Hattest du mal Angst?
Nööö, weil ich des schon kenne. Nur ein bisschen bei den Zombies.
Was ist das Lustigste?
Als der Chagall sich versteckt und der Professor und der Alfred ihn finden und verfolgen. Und die Gruft.
Was ist gruselig?
Nix
Wer singt am schönsten?
Der Drew, die Magd und die Sarah
Welches Lied magst du am liebsten?
Als der Alfred und die Sarah sich verlieben. Das Lied heißt Nie gesehen. Und wenn der Krolock HeHoHe, wirklich treffend, Professor singt.
Hat es dir gefallen?
Ja! Aber ich mag den „R“-Professor von der CD lieber (Anmerkung Mama: sie meint Gernot Kranner) und auf YouTube geht das Schloss kaputt. Das mag ich auch lieber!
Welche Musical kennst du noch? Rudolf, Vivaldi, Rocky
Welches ist das Beste? Vivaldi und Tanz der Vampire
Dagmar Markgraf
Ein sehr schöner Bericht. Dazu möchte ich nur eines hinzufügen. Erlebt bei TdV in Hamburg. Graf: Thomas Borchert. Krolock schreitet durchs Publikum auf die Bühne zu (oder auf dem Rückweg?) , ein kleiner Junge schaut in seine stechend blauen Augen und fängt so an zu weinen, dass er schließlich rausgetragen wurde. Und auch nicht mehr wiederkehrte. So kann es auch laufen.
Julian
Ich möchte 2 Sachen anmerken: 1. gibt es Les Miserables auch als deutsche Version (und wenn ihr das Orginal hören wollt müsstet ihres auf französisch machen).
2. gibt es in dem Stück keine Zombies. Aus den Gräbern steigen auch Vampire und sind einfach von dem einem Jahr im Sarg liegen sehr steif, wodurch sie halt so Wanken.
Und 20 Euro für ne Karte ist echt günstig. Da kostet es hier in Deutschland einiges mehr.
julia
Vielen Dank für den Kommentar! Natürlich bin ich mir bewusst, dass es auch deutsche Les Miserables-Versionen gibt. Die finde ich jedoch so schlecht übersetzt, dass wir keine derartige Aufnahme in unserem Haushalt haben.
Aus den Gräbern steigen tatsächlich Vampire. Die Zombies tauchen bei Alfreds Albtraum auf. Sie kriechen unterm Bett hervor und sind eindeutig als Zombies erkennbar, da in der gleichen Szene auch deutlich unterscheidbare Vampire auftauchen.