Letzte Woche wurde ich von einer Bekannten angerufen, die hat zum ersten Mal in Wien Tanz der Vampire gesehen. Sie war extrem enttäuscht, denn sie hat sich wohl über weite Strecken sogar gelangweilt. Das folgende intensive Gespräch hab ich dazu genutzt, mich auch selbst mal TdV auseinanderzusetzen.
Tanz der Vampire – die Story
Die Story von Tanz der Vampire ist an sich eine relativ simple Lovestory und schnell erzählt. Das Thema der unterdrückten, weil moralisch nicht einwandfreien Leidenschaften, die irgendwann animalisch aus einem hervorbrechen, fesselt dennoch ungemein. Aber es war schon immer so: Sex sells. So auch hier, auch wenn durch die Vampire eine gruselig-mystische, wenn auch eindeutige Metapher geschaffen wurde: Es geht um die Faszination des anderen Geschlechts, es geht um die Instinkte, die einen dazu bringen, sich kopfüber in etwas hineinzustürzen und alle Warnungen in den Wind zu schießen, schon mit der Ahnung, dass sie einen ins Verderben reißen. Das Klischee, dass Frauen auf die Bad Boys stehen, wird hinreichend bedient. Da muss Alfred verlieren. Die Eltern sind über alle Maße besorgt und ihnen fällt nichts anderes ein, als die Gefahr vor sich und allen zu leugnen und das Kind wegzusperren. Die Verführung lockt weiter geschickt mit romantischen Gesten und Versprechungen (Kleid, Schwamm, ein Ball), nutzt zusätzlich gekonnt sowohl das Unwissen (jeder hat dich betrogen) als auch die kindliche Neugier: glaubst du, das wäre dir genug? Endlich der ersehnte Austausch von Körperflüssigkeiten und die ernüchternde Erkenntnis, dass man bei dem einen ersten Mal etwas verloren hat, was man nie wieder zurückbekommt.
Im Grunde ist diese Geschichte schon Millionen Mal auf der Welt passiert, aber die Andersartigkeit der Protagonisten, von den Zähnen über die Kleidung bis zu den Särgen, peppt diese einfache Geschichte von Verführung und Verderben auf. Das ist sowohl Stärke als auch Schwäche gleichzeitig: Die Geschichte fesselt, weil sie wahr werden kann für jeden einzelnen. Zwar nur im übertragenen Sinn, aber es reicht, um den Zuschauer zu berühren. Dass die Geschichte in den Grundpfeilern mit dem wahren Leben mithalten kann, deckt aber auch ihre Schwäche auf: Sie ist einfach in Teilen nicht ausreichend auserzählt, um abseits der Vampire die gewisse Besonderheit zu bieten. Alles konzentriert sich auf das Dreieck Graf/ Alfred/ Sarah. Das ist im Prinzip nicht verwerflich, allerdings wird dabei den weiteren Protagonisten trotz hinreichender Bühnenzeit die charakterliche Tiefe verwehrt. Das verzeihe ich der Geschichte bisweilen nicht.
1. Akt
Der erste Akt beginnt insofern verheißungsvoll, als dort wunderbar breit das seltsame Karpaten-Völkchen vorgestellt wird. Das Wissen und Leugnen der Vampire in der Nähe bei neugieriger Nachfrage durch den Professor, die übertriebene Heiterkeit, aber auch die Rohheit im Umgang miteinander (der fremdgehender Ehemann, die resolute Wirtin, der Umgang mit dem Dorftrottel) verdichtet sich alles in allem zu einem bunten und aussagekräftigen Bild. Die sich anbahnende Liebelei des schüchternen Alfred und der zu kurz gekommen Sarah ist gelungen, da dieses vorsichtige Annähern den Raum bekommt, den sie braucht, um ebenso unschuldig zu wirken wie sie gedacht ist. Der Graf bekommt mit Gott ist tot und der Einladung zum Ball genau die zwei Lieder, die es braucht, neugierig zu werden. Eine erste aufregende Spannung wird injiziert. Danach wird die Handlung kontinuierlich weitererzählt und nach 1 Stunde schließt der Graf selbst mit dem Schlosstor die erste Hälfte – sehr wirkungsvoll. Am ersten Akt habe ich tatsächlich wenig auszusetzen.
2. Akt
Den zweiten halte ich für deutlich zu lang. Bei Besuchern, die TdV vor ihrem ‚ersten Mal‘ (wie schön sich diese Wortwahl in den Inhalt des Musicals einfügt) noch nicht kannten, habe ich ähnliches beobachtet bzw. wurde mir ähnliches berichtet. Es passiert – im Vergleich zum 1. Akt – nichts mehr. Natürlich gibt es mit der Gruft und der Ewigkeit noch Lieder, die Spaß und Sinn machen. Aber an sich steckt keinerlei Handlung mehr darin. Für Sarah ist die für Alfred komponierter Solonummer, die ihm zusteht und es ist auch ganz nett anzuhören. Aber wenn da Lied nicht drin wäre, würde auch nichts fehlen. Dass er verliebt ist und alles für sie tun würde, hat man im ersten Akt schon umfassend erkannt. Genauso: Geil zu sein ist komisch. Es hat sich mir bis jetzt nicht erschlossen, warum es dieses Lied überhaupt gibt. Die Bücher sind toll wegen der hohen Kunst der Artikulation, die dahinter steckt, aber ebenso überflüssig, weil sie dem verschrullten Professor kein weiteres Charaktermerkmal hinzufügen. Aber dafür bekommt Herbert einen Auftritt. Ich liebe diese Herbert-Szene, und doch ist es wieder so: Wäre dieses Szene nicht im Musical, wäre trotz allem der Fortgang der Geschichte gesichert und nichts verloren. Ob der Graf nun einen Sohn hat oder nicht, ist für die Geschichte, so wie sie erzählt wird, zweitrangig. Wenn er aber dann auftaucht, dann hätte ich mir es einfach gewünscht, dass er tiefer in die Geschichte eingebunden wird.
Ich finde, dass nach dem relativ dichtem ersten Akt und vor dem rasanten Ende ab Tanzsaal eine Menge Möglichkeiten verschenkt wurden. Sicherlich hat es auch seine Berechtigung, mal das Tempo rauszunehmen. Für mich jedoch kommt die Geschichte stellenweise vollständig zum erliegen. Die vorhandene Handlung weist zu wenig zielführend auf das Ende hin, sondern reißt eher Nebenschauplätze auf. Finde ich persönlich sehr schade. Natürlich dürfen an dieser Stelle die TdV-Kenner, die Fanatiker und Liebhaber des Musicals aus ihren Löchern kriechen und mir zu verstehen geben, dass es eben DOCH eine Handlung gibt im 2. Akt und das die sehr sinnvoll den 1. Akt weiterführen. Nach mehrmaligem Sehen habe ich schon auch den Wert des einen oder anderen Stück erkannt. Aber, gemessen an der Länge der 2. Hälfte tut sich zu wenig. Erstbesucher tun sich da mitunter schwer. Mir persönlich fehlt noch mehr Tiefgang in dieser Geschichte. Versteht mich nicht falsch: ich hab mich auch faszinieren lassen und es gefällt mir. Aber mir sind die Rollen prinzipiell zu platt angelegt. Was ist zum Beispiel mit Chagall? Wenn er doch Bühnenzeit im zweiten Akt im Schloss bekommt, wieso trifft er dann nicht auf seine Tochter? Welche Möglichkeiten sich da ergeben hätten, seinen Charakter zu vertiefen und die Beziehung zu seiner Tochter noch mal neu zu beleuchten. Koukoul ist eine tragisch-herzerwärmende Figur. Auch er hätte ein bisschen Hintergrund verdient.
Krolock
Der Graf selbst hat wenig Bühnenzeit. Dieser Figur tut das zunächst gut, bleibt sie doch so gewollt geheimnisvoll. Zum Ende hin bekommt der Graf ebenfalls seine Solonummer. Im Gegensatz zu Alfreds Nummer ist die aber herausragend in Musik und Text. Mit der unstillbaren Gier kommt die Figurenentwicklung zur höchstmöglichen Entfaltung. Grandios. Die Gier macht es dem Hauptdarsteller möglich, sämtliche Facetten seines Krolock hervorzuzaubern. Da muss besagter Hauptdarsteller stimmlich und schauspielerisch liefern. Der Grund aber, warum die Grafenfrage so heiß diskutiert wird, ist meines Erachtens nach ein anderer: Der Graf muss die Gabe haben, schon das ganzen Stück über bis hierher – in den wenigen Bühnenauftritten – seinen Charakter so zu versinnbildlichen, dass die Gier wie eine Offenbarung alles Gehörte und Gesehene zusammenbringt und an dieser Stelle zu einem umfassenden Charakterbild rundet. Das ganze Stück zielt in der Grafenentwicklung auf dieses Stück. Diesen Charakter in seiner Gesamtheit vollkommen offenzulegen schafft in meinen Augen nur Drew Sarich. Ich halte ich mich dabei Kleinigkeiten fest und gebe euch folgende Beispiele:
Drews Krolock
Die Art und Weise, wie er seinen Mantel schwingen lässt. Keiner verlässt das Badezimmer nach dem Besuch bei Sarah mit einem derart perfekt geschwungenem Mantel. Das verkörpert für mich so eine Perfektheit und versinnbildlicht für mich das Fliegen. Das heißt, Sarah ist hier schon nicht mehr ihresgleichen ausgeliefert, sondern etwas absolut Perfektem von unnatürlichem Ursprung. Und dadurch, dass er dabei von den Flügeln spricht… er kommt aus einer anderen Welt, er verheißt ihr diese andere Welt. Und mit diesem einen Schwung des Mantels kann auch ich das sehen. (Und auch bei der Totalen Finaternis hat er diesen kontrollierten Schwung drauf.)
Dieselbe Übernatürlichkeit zeigt sich auch im Schweben. Als einziger hat sich Drew die Fähigkeit angeeignet, so zu laufen, dass man keinerlei Auf- und Abbewegung sieht. Es scheint, als würde er keinen einzigen Schritt setzen, sondern tatsächlich gleichbleibend über dem Boden dahinschweben. Sogar treppauf und treppab bleibt diese Illusion erhalten. Er kreiert diese Mystik, die es für mich braucht, um die Geschichte vollends aus dem eigenen Alltag zu lösen, in die übernatürliche Welt zu erheben und sie dadurch zu etwas Besonderem zu machen. Wenn schon Vampire als Handelnde, dann aber richtig.
Ich liebe seine Art, Dinge explizit darzustellen. Als einziger stellt er bei der Einladung zum Ball sein Bein vorne auf den Wannenrand. Ich geb‘ dir, was dir fehlt. Das ist textlich so eindeutig zweideutig und deshalb mit dieser aggressiven Körpersprache auf den Punkt gebracht. Er lässt Sarah da überhaupt keinen Raum für Interpretation. Ich will dich und dann nehm ich dich.
Dazu kommen Dinge wie Drews perfektes Profil mit der scharfen Nase. Für mich der Inbegriff eines Aristokraten. Rein optisch für mich der ansprechendste. Ivan Ozhogin gefällt mir darin auch sehr gut, hat aber eine deutlich bedrohendere Attitüde. Ist für mich auch vertretbar. Aber eigentlich gründet sich für mich die Grafenmacht nicht auf physischer Bedrohlichkeit, sondern eher auf dem schlichten Selbstbewusstsein, dass er als Adliger schon Jahrhunderte tun und lassen kann, was er will, weil er dafür eh nicht belangt werden kann. Dieses wissende Lächeln umspielt Drews Grafenmund immer wieder, aber so dezent, dass man es mehr erahnt als tatsächlich sieht.
Das Spiel mit den Händen hat er perfektioniert.
Die Hände, durch die ihm stets das Leben und die Liebe unaufhaltsam gleiten, die er aber trotzdem weiterhin geifernd ausstreckt nach der nächsten Eroberung.
Seine gräfliche Contenance verliert er nur kurz vor dem Biss. Da hat er sich vollständig überrollen lassen von der Gier, da hat er den point of no return schon wieder überschritten. Der Biss als Metapher für den Koitus.
Hier ist sich Krolock selbst hilflos ausgeliefert und wie dem Himmel und der Hölle Ewigkeit attestiert wird, so wird auch er in Ewigkeit Teil dieses Kreislaufs sein. Das ist der Moment, den er am meisten hasst und den er am meisten liebt. Er ist – um jetzt mal musicalfremd Vivaldi zu zitieren – die Hölle und das jüngste Gericht, alles, was man sich verspricht. Die Liebe und die Beichte zugleich, im Grunde schon das Himmelreich. Nicht nur für Sarah. Er ist das auch für sich in diesem Moment.
Ich finde es sehr spannend, über diesen Zwiespalt nachzudenken. Gäb’s nur einen Augenblick des Glücks für mich, nähm ich ew’ges Leid in Kauf. Krolock sucht diesen einen Moment, der ihn aus der Finsternis holt und in dem er frei von den Fesseln seines Daseins sein kann. Er sucht die Liebe, die nicht auf Gier basiert. Er sucht die Reinheit. Sarah sucht auch diesen einen Augenblick des Glücks. Den, in dem sie frei sein kann von den Fesseln ihres Daseins: frei von Konvention, frei von vorgelebten Idealen. Sie sucht den Augenblick, in dem sie zu den „dunklen“ Teilen ihres Ichs stehen kann, die bis jetzt in ihrem Umfeld nicht erwünscht und unterdrückt waren. Die Erfüllung eben dieser Sehnsucht sieht sie in Krolock, der an keine einzige Konvention mehr gebunden ist. Der tun und lassen kann, was er will und sich für niemanden rechtfertigen muss (lös die Fesseln der Moral – ja Alfred, so würdest du sie kriegen!) In der Sehnsucht nach diesem persönlichen Glück sind sie sich gleich und wissen das auch: du wirst dich in mir erkennen. Aber sie nähern sich diesem Wunschtraum von zwei unterschiedlichen Seiten. Er kommt aus der Finsternis, von den Trieben und will ein reines Glück erleben, sie kommt aus der Geborgenheit und der moralischen Integrität und will ausbrechen und genau diesen Trieben nachgeben. Sie nähern sich also aus zwei unterschiedlichen Richtungen. Schön „übersetzt“ in der Totalen Finsternis, wo beide immer wieder von zwei gegensätzlichen Seiten aufeinander zu gehen.
Drew spiegelt so viele weitere Gefühle in seiner Gestik und seiner Mimik, und da ist er schauspielerisch eine Wucht. Da ist Verachtung für den Professor und seine „Wissenschaft“, die er diesem gegenüber durch Ironie mildert. Der Stolz auf seine Verführungskünste: wenn ich die rufe hält dich nichts mehr zurück, aber auch auf seinen Sohn, der sich hauptsächlich in ruhigen Blicken sichtbar macht. Die schon erklärte Überheblichkeit (ich lass dich fühlen, was ich unsterblich macht) konkurriert mit der Melancholie der Erinnerungen an früher. Das Spiel mit dem ihm ausgelieferten Mädchen weckt seine Lust und doch bleibt er gefangen in der Sehnsucht nach einem tief befriedigenden Glück. Er kennt Angst und Trauer. Seiner Gier ist er in Ohnmacht ausgeliefert, hilflos steht er seinem Schicksal gegenüber. Wut und Eifersucht den Sterblichen gegenüber versucht er, zu verbergen.
Dazu versteht Drew es, seinen Krolock mit Kleinigkeiten zu perfektionieren. Wenn er vor dem Schloss die Visitenkarte des Professor ansieht, als bräuchte er eine Brille, ist das nicht nur Slapstick-Einlage, sondern auch der Idee geschuldet, dass Lebewesen, die sich hauptsächlich in Dunkelheit orientieren, anders sehen als unsereiner. Die Art, wie er die Zähne fletscht ist so viel animalischer als bei anderen. Die Klimax im Ballsaal, die nur Drew so singt bei verdammt. Es klingt fast wie ein verzweifelter Schrei. Es gilt hier nicht nur den Sterblichen. Seine Art des Singens führt mich unwillkürlich dazu, mich seiner Verdammung zu erinnern. Er ist der Verdammte, verdammt zu diesem Treiben. Die Ketten lassen ihn nicht los. Die Ketten, denen er ebenfalls durch eine andere Phrasierung eine andere Bedeutung zumisst, die sich eben in diesem verdammt im Ballsaal wiederfindet. Am höchsten Punkt dieses gesungenen Emotionsausbruchs taucht Sarah in ihrer ganzen Pracht auf. Und auch Sarah kommt mit jedem Schritt ihrer „Verdammung“ unaufhaltsam näher.
Musik
Doch ich wollte nicht ein bloße Drew-Huldigung schreiben. Es sollte schließlich ums ganze Stück gehen. Darum habe ich mich aufgemacht, und habe mir das Stück auch mal ohne Drew angesehen. Endlich konnte ich mich entspannt mal auf alle Nebenschauplätze konzentrieren und wahrnehmen, was ich sonst nicht wahrnehme. Es war ungewohnt, aber dennoch sehr hilfreich.
Zunächst muss man zwei, drei Worte über die Musik verlieren. Der große Vorteil ist natürlich, dass im Normalfall auch dem Erstbesucher mehrere Melodien bekannt vorkommen. Meat Loaf und Bonnie Tyler haben Jim Steinmann Kompositionen hinreichend bekannt gemacht. Selbst, wenn man diese Melodien nicht zuordnen kann, gehen sie leicht ins Ohr. Mitreißend komponiert fügen sie sich in die Story wunderbar ein. Die Reprisen, die über das Stück verteilt sind, halten sie zudem gekonnt im Ohr. Die Ouvertüre ist berauschend. Erscheint mir der 1. Akt rein von der Handlung her schon sehr dicht erscheint, finden sich dort auch nur wenig schwache Musikstücke (Eine schöne Tochter ist ein Segen gibt mir persönlich gar nichts). Etwas irritierend für mich nach der krachenden Ouvertüre das eher simpel gehaltene Knoblauch. Aber selbstverständlich verknüpfen sich die Musik und deren Text hier genial mit der Szene, die uns das einfache Volk – im Gegensatz zum Professor als Gelehrten, aber auch im Gegensatz zu den Blutsauern mit ihrer mystisch-schweren Aura – verdeutlicht. Bestes Stück im 1. Akt für mich ohne Frage die „Roten Stiefel“ samt Gebet. Die Komposition trägt Sarahs unterdrückte Leidenschaft, die aus ihr herausbricht, mit einer enormen Energie bis den Zuschauerraum. Doch diese jugendliche Zügellosigkeit, die sich entfesselt, wird schnell wieder erstickt. Beruhigend soll dieses Gebet wirken, quasi das erhitzte Gemüt der Tochter abkühlen. Diana Schnierer hat das ganz wunderbar gemeistert, wie erschrocken Sarah plötzlich von sich ist, wenn das Gebet erklingt. Wie sie versucht, ihre Emotionen wieder einzufangen und ganz das brave betende Mädchen zu sein, wie die Eltern das erwarten und verlangen.
Unheilvoll schließt sich das Wuscha Buscha an, das ich ebenfalls besonders liebe. Hier verdichten sich nochmal die Emotionen aller Beteiligten, hier wird schonungslos alles entlarvt, was unterschwellig bereits angedeutet wurde. Er hat sie geholt: Der Vater, der nicht wahrhaben will, dass die Tochter als Erwachsene eine Entscheidung getroffen hat und aus Sorge auch nicht akzeptieren kann (ich hol sie zurück), die besorgte Mutter (mein armes Kind), der nix kapierende Alfred: wo ist sie nur hin. Das musikalische Motiv wiederholt sich dabei immer wieder, wird dabei lauter und lauter und spitzt sich auf den Höhepunkt zu, an dem Chagall davon stürmt. Hier ist das Musical voll bei sich, der Text und die Musik treiben die Handelnden vor sich her. Das kann den Zuschauer schon mal atemlos zurücklassen.
Musikalisch ist der 2. Akt durchsetzt mit den zwei bekanntesten Stücken: der Totalen Finsternis (total eclipse of the heart) und der unstillbaren Gier (objects in the real view mirror…). Während die totale Finsternis einfach als Duett der beiden Hauptakteure und deren Be- und Anziehung seine Wirkung entfaltet, ist die Gier, wie oben schon erwähnt, sowohl musikalisch als auch inhaltlich das wichtigste Stück im Musical. Am Ende wendet sich deshalb genau dieses Musikstück an den Zuschauer. Es transportiert die Geschichte aus der Phantasiewelt in eben genau „unsere“ Welt: Euch Sterblichen von morgen. Dass man als Zuschauer die Lehre dieser Fabel nicht nur im übertragenden Sinne, sondern tatsächlich so deutlich und knackig serviert bekommt, ist schon ungewöhnlich und verstärkt die Wirkung, die die Gier auf einen hat, nochmal immens. Ansonsten hat Carpe Noctem das Glück, dass es traumhaft choreographiert ist. Da gibts so viel zu gucken, mein Lieblingslied wird es nicht. Sehr schwach finde ich Für Sarah. Die Gruft hingegen gibt nochmal ein ganz neues Motiv vor. Originell anders, durch die Dialoge, schön eingerahmt und im gewählten Motiv vergnüglich auf den Professor ausgerichtet. Die Reprise allerdings von Tot zu sein ist komisch, Draußen ist Freiheit, dann noch die Bücher und das Hehohe sind der Grund dafür, dass sich der zweite Akt für mich zieht. Der Abschluss hingegen ist wieder ein gelungener Kracher: Wenn die Vampire zum Tanz laden, ist noch mal richtig Feuer unterm Dach. Alles in allem ist die Musik großartig, aber für mich nicht ohne Manko.
Orchester
Das Orchester der Vereinigten Bühnen ist aber auf alle Fälle der herausragende Grund, sich die Wiener Inszenierung von Tanz der Vampire anzusehen. Da kann ich mich nicht satt hören. Ein Klangmeer hat mich da mit größter Intensität und Prägnanz im wahrsten Sinn des Wortes überrollt. Kein Vergleich mit der Tourproduktion! Die ungewöhnliche Menge an an Spitzenmusikern wir zudem durch die Toningenieure sehr fein ausgesteuert. Solche Qualität kenne ich sonst nur von CDs. Die Ensembleszenen sind derart gut abgemischt, dass man einzelnen Stimmen heraushören kann. Eine wahre Meisterleistung.
Ausstattung
Die Kostüme entfalten eine immense Pracht und Liebe zum Detail. Da muss man nicht erst Sarahs Kleid sehen, um zu erkennen, dass Geschmack herrscht (Verzeihung, aber das Ding in Deutschland ist eine Katastrophe…). Egal, ob der Grafenmantel mit der Stickerei oder die Kostüme der Ewigkeitsvampire. Das Auge ist schwer beschäftigt damit, die ganze Pracht überhaupt aufzunehmen. Auch das Make-Up ist toll und aufwändig. Den Detailreichtum kann man immer schön in den Instagram-Takeovers oder überhaupt bei den Bildern, die die Darsteller so von sich posten, sehen. Einzig das Grafen-Make-Up ist mir zu dezent. Wenn man das mit Herbert vergleicht, bleibt es deutlich blasser. Aber vielleicht ist das auch der Tatsache geschuldet, das Herbert einfach mit seinem Pfauen-Gehabe sich optisch von seinem Vater unterscheiden soll.
Für mich am Beeindruckendsten am Bühnenbild: Die Projektionen. Die Karpaten samt Schneegestöber, aber in der Hauptsache die perspektivische Verzerrung des Schlosses sind eine Wucht.
Cast
DIE Komponente, die das ganze erst recht zum Strahlen bringt, ist die Cast. Den VBW ist es wunderbar gelungen, alte Hasen und Publikumslieblinge abzuheuern. Natürlich allen voran die drei sich abwechselnden Grafen. Die Creme de la Creme der deutschsprachigen Musicaldarsteller (schon lustig, dass ich Drew hierzu „deutschsprachig“ zähle, obwohl er Amerikaner ist). Nicolas Tenerani hat seinen Chagal auch schon in Deutschland mit Bravour auf die Bühne gebracht, Marle Martens hat ihre Magda früher schon gecovert. Raphael Groß und Diana Schnierer, beide noch Studenten, und Charles Kreische mit seinem ersten Engagement verkörpern auf der anderen Seite die jungen Wilden. Und dieses Konzept ist voll aufgegangen. Die alten haben sich bewährt und die jungen haben bleibenden Eindruck hinterlassen. Wie schön, wenn ein so großes Haus den noch unbekannten Darsteller so eine Chance bietet.
Im Einzelnen möchte ich noch folgende Darsteller herauspicken:
Filippo Strocchi ist gesanglich in ähnliche Sphären gelangt wie Drew. Ich konnte mir es nicht vorstellen, dass das geht. Aber ich hab mich überzeugt. Er orientiert sich an Drews Interpretation, was ich für sehr klug halte. Er ist in der Stimmlage ähnlich, und sich da komplett neu zu erfinden kann eigentlich nur schief gehen. Er singt also ähnlich und schafft es trotzdem, manchen Stellen derart markant seinen Stempel aufzudrücken, dass sie einem nach dem ersten Hören schon so berühren, dass man sie vermisst, wenn jemand es anders singt (Gier: ich will frei und freier werden). Schauspielerisch fehlt mir bei Filippo so ein bisschen die Attitüde. Das Selbstbewusstsein, das Selbstverständnis des Adligen, der sich seit Jahrhunderten alles erlauben kann. Das spielt er stellenweise schon schön aus, aber es innerlich zu halten, die ganze Zeit, das hat mir gefehlt. Aber: Jammern auf höchstem Niveau. Filippo ist eine Top-Zweitbesetzung, die drauf und dran ist, an Drews Thron zu kratzen. Ich freue mich auf alles, was ich noch von ihm sehen werden.
Ein weiteres Highlight: Daniel Eckert als Cover Alfred. Das war oberste Spitzenklasse, was der abgeliefert hat. Ich war ja schon von Raphael Gross begeistert. Aber Daniel Eckert hat mich vollkommen überzeugt.
Dabei hab ich mich ganz am Anfang ein bisschen über sein Timing gewundert bei HeHoHe und mir gedacht, was wird das wohl werden. Aber dann. Schon wie er Magda in den Ausschnitt gestiert hat, war herzerfrischend. Von der erblühende Liebe zu seiner Sarah hat er sich überrollen lassen, um dann aber auf den Zug aufzuspringen. Die Szene, in der Sarah abhält, in den Wald zu gehen, gibt es mittlerweile Gott sei Dank auf YouTube. Exzellent. Er hat mit seiner Stimme gespielt. Er wollte zwar Sarah abhalten, zu gehen. Voller Entsetzen kam da aber zum ersten Mal durch, dass er nicht nur Angst um Sarah hat, sondern dass schon allein der Gedanke daran IHN selbst fast dazu bringt, in die Hose zu machen.
Auch in der Gruft hab ich zum ersten Mal bei einem Alfred gespürt, wie er mit sich selbst hadert. Da war viel mehr als ich fürchte mich. Ich habe gespürt, wie ihn die Erkenntnis übermannt, dass er einfach keine Eier hat. Und schon gar nicht hier, wo er die ganze Mission schon nicht gut heißt. Ich habe wahrgenommen, dass Alfred sich einfach falsch fühlt. Er, der Assistent, dem immer alles danebengeht. Und gleichzeitig bringt er trotz der Furcht und den Selbstzweifel durch klitzekleine Details so verdammt viel Witz in diese Szene. Ich hatte niemals so viel Spaß während der Gruft wie mit Daniel Eckert als Alfred. Er hat seinen Alfred als vollständige Figur erschaffen. Er hat alle Charakterzüge deutlich offenbart und ihn dadurch kompletter gemacht. Danke dafür, Daniel!
Charles Kreische gibt einen Herbert, bei dem ich mir immer wünsche, man gäbe ihm einfach drei oder mehr Szenen zusätzlich. Der scheint derart verwachsen mit seiner Rolle. Wenn ich nicht an der StageDoor selbst in zivil gesehen hätte, ich hätte geschworen, der geht so nach Hause. Selbst im übertriebenen Pfauen-Gehabe bleibt ihm eine Natürlichkeit, die mich vollkommen fasziniert. Habe ich bei seiner JCS-Leistung noch ein bisschen was zu meckern gehabt, gibt es hier keinen einzigen Kritikpunkt. Aber ich muss zugeben, ich mag Herbert auch als Rolle sehr sehr gern. Ich liebe es, dass er so anders ist als der Graf – sein Vater. Er scheint sich deutlich besser mit der Idee der Unsterblichkeit arrangiert zu haben. Er scheint da mehr in sich zu ruhen und diese Schwere, die Krolock umgibt, entweder gekonnt zu verbergen oder einfach hinter sich zu lassen. Und trotz dieser unterschiedlichen Einstellungen zur Ewigkeit erlebe ich Vater und Sohn als sehr innig. Ich bin begeistert von der Bewunderung, die Herbert im Tanzsaal seinem Vater entgegenbringt und davon, wie dieser immer wieder den Blick des Sohnes sucht, auch noch, als Sarah bereits den Saal betreten hat. Charles Kreische bringt seinen Charakter wunderbar rund zur Geltung. Er hat für diesen Herbert einfach alles. Die passende Stimme, eine liebevolle Art, zu spielen und ich versichere euch: ICH habe nie einen Herbert gesehen, dem das Make-up so gut stand wie Charles Kreische. Ein großes Kompliment für eine großartige Leistung.
Wenn ich an Dawn Bullock denke, wird mir warm ums Herz. Ihre Stimme ist so wunderbar weich und samtig. Sie kann der aber einen resoluten Wumms geben und in der nächste Szenen das Gebet so hingebungsvoll singen. Schade, dass Dawn/ Rebecca so wenig Bühnenzeit bleibt. Naja, eigentlich hat sie ähnlich viel Zeit wie Krolock. Aber Krolock ist zum einen in beiden Akten immer mal wieder präsent während Dawn nur im 1. Akt dabei ist. Und dann ist der Graf als Charakter halt doch noch vielschichtiger angelegt als Rebecca. Von daher eine sehr undankbare Rolle. Aber sie holt tatsächlich – auch schauspielerisch – alles raus, was möglich ist und die Stimme, also die Stimme ist einfach ein Traum.
Bleibt zu erwähnen noch für mich Nicolas Tenerani. Oh mein Gott. Ich mag die Figur des Chagall nicht. Gar nicht. Und dann kommt Nicolas Tenerani. O.k., ich mag Chagall als Charakter immer noch nicht. Aber ich kann nicht aufhören, ihm zuzuschauen. Herrje, was dieser Mann aus der Figur macht. Ich bin Drew-Fan, darin auch völlig fanatisch und deppert. Aber den größten Gänsehaut-Moment im Stück beschert mir Nicolas. Wenn er ihm Gebet in der dritten Strophe nach Dawn und Merle einsetzt, kommen mir dir Tränen. Die Stimme ist so wunderschön und er geht so großartig mit ihr um. (aber auch hier wieder das Kompliment an die Tontechnik, die dieses fabelhafte Sangesleistung auch tatsächlich bis zum Publikum liefert). Mir fehlen da einfach die passenden Worte, um zu beschreiben, wie wundervoll für mich Nicolas Tenerani ist. Darum lass ich das hier einfach mal so stehen. Und warte aufgeregt auf Bodyguard. Eine Schande, dass er da nicht singen darf..
Die Zweit- und Drittbesetzungen sind ebenfalls exzellent. Immer, oder in den allermeisten Fällen dem First Cast ebenbürtig. Das allein ist schon ein Wahnsinn. Leider konnte ich das nicht selber bei allen erleben, aber das, was in den einschlägigen Facebook-Gruppen weitergegeben wird, bestätigt dies. Und deshalb befindet sich auch die Ensembleleistung auf einem derart hohen Niveau, da kann nichts und niemand meckern. Man erkennt die Sängerinnen und Sänger als Individuen und nicht nur als bloße Ensemble-Masse. Natürlich gibt es hie und da persönliche Vorlieben, aber alles in allem ist diese Leistung des Ensembles – ähnlich schon wie in Jesus Christ Superstar – der Garant, dass nahezu jeden Vorstellung über die Saison hinweg ausverkauft war/ ist.
Mein persönliches Fazit
Ich habe TdV mehrmals geschaut und ich gebe zu, dass das vollkommen in Ordnung und auch notwendig war. Ich bin tiefer eingetaucht, habe mich faszinieren lassen und mehr Dinge wahrgenommen, die man als Einmal-Zuschauer mitbekommt. Ich empfinde das als sehr wertvoll. Alles in allem kann ich sagen:
Tanz der Vampire ist ein Dauerbrenner. Das liegt meiner Einschätzung nach an folgenden Dingen:
Drama wird gemixt mit Spaß, tragische und komödiantische Elemente wechseln sich ab. Ein bisschen Grusel, etwas Slapstick. TdV ist ein Gemischtwarenladen allererste Güte und will jedes Klientel bedienen. Scheinbar tut es das auch. Ich finde auch Gefallen daran. Alles wird zusammengehalten durch eingängige und dem geneigten Radiohörer bekannte Songs. Ich verstehe, warum TdV prinzipiell so ein großer Erfolg ist. Es ist ein Spektakel, dass alle Sinne anspricht und durch die Vampire quasi als Märchen verzaubert. Vollkommen offensichtlich ist auch, warum die Wiener Produktion vollkommen Oststanding ist und den anderen Produktionen meilenweit überlegen sein muss. Es hat mich fasziniert. Es hat mir tatsächlich gefallen. Und dennoch bin ich jetzt, nach viermaligem Besuch, absolut gesättigt.
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