Sehr kurzfristig wurde ich von einer lieben Freundin „sanft“ überredet, mir am Samstag Nachmittag das Stück „Alice im Wunderland“ im Theater in Mödling anzusehen. Ich war am Freitag Abend bei den Blutsbrüdern, Samstag Abend verplant für Bonnie & Clyde. Mittendrin noch eines? Naja, wir kommen ja immer extra zum Musical-Schauen nach Österreich. Und sie sagte, ich würde es nicht bereuen. Also los, immer rein!
Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt: „teatro“
teatro macht Musiktheater für junges Publikum und ist eine freie Theatergruppe, die vor 20 Jahren vom Musicaldarsteller und Regisseur Norberto Bertassi gegründet wurde.
Seitdem wurde jedes Jahr (!) ein selbstverfasstes Musical aufgeführt. Dabei ist das Ensemble höchst unterschiedlicher Natur: In der Hauptsache Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, aber auch erwachsene Laien werden auf der Bühne und in Kostüm, Choreografie, Musik und Make-Up von Profis unterstützt.
Ich hatte es für mich dennoch im Vorfeld erstmal unter Laientheater eingeordnet.
Pustekuchen.
Ich bin jetzt noch sprachlos, wenn ich beschreiben soll, was ich dort gesehen habe. Denn, was vor 20 Jahren tatsächlich mit einem ersten Schritt im Laientheater begann, ist jetzt, nach den gefühlten tausend Schritten, Musicaltheater par excellence. Es gibt genug Profibühnen, die sich scheibchenweise etwas abschneiden könnten von dem Können und der Liebe und der Leidenschaft, die hier hinter jedem einzelnen Gewerk erblüht.
Da teatro Musiktheater für junges Publikum macht, wird auch das jährlich neu verfasste Stück immer aus dem riesigen Fundus der Kinderliteraturklassiker gewählt. Darunter waren in der 20-jährigem Geschichte des Theaters schon Klassiker wie der Zauberer von Oz, das Dschungelbuch, Peter Pan oder Der kleine Prinz.
Alice und ihr abgedrehtes Wunderland
Der Klassiker Alice im Wunderland ist eine absurde Nonsens-Geschichte, die nicht allzuviel erklärt und das auch gar nicht muss. Das Wunderland steht einfach für sich und darf so verrückt oder inspirierend sein, wie der Leser/ Zuschauer es eben annehmen möchte. Mir war schon schleierhaft, wie man das sinnig auf die Bühne bringen will, so dass man am Ende doch befriedigt nach Hause gehen kann und nicht die Idee hat, man hätte nur Unsinn gesehen. Aber Norbert Holoubek hat die Geschichte und damit manche Figuren ganz spannend verändert, ohne dabei den Charakter zu verfälschen und hat damit eine schöne Parabel geschaffen:
Alice ist hier ein pubertierendes Mädchen, das in einer Patchwork-Familie mit Vater, Stiefmutter und Stiefbruder lebt. Sie ist unzufrieden mit ihrem Leben und mit sich selbst, kratzbürstig, unfair und furchtbar wütend. Als die Grinsekatzen ihren Stiefbruder Benji entführen, lässt sie sich überreden, ins Wunderland zu kommen, um ihn zurückzuholen. Das Wunderland liegt hinter einem Spiegel, und wer in einen Spiegel sieht, sieht nur sich selbst. Und so ist es auch Alice zugedacht, sich selbst zu sehen, zu reflektieren, zu erkennen. Über acht Spielfelder muss sie verrückte Aufgaben lösen. Alle zusammen haben den Sinn, dass das Mädchen sich Stück für Stück selbst kennenlernt. Sie trifft all die wundersamen Figuren ihrer als Kind selbst erdachten Wunderwelt: den Hutmacher, die Tweedles, die Raupe, die Herzkönigin.
Diese Geschichte ist psychologisch schön dezent aufgebaut, man hat nicht das Gefühl, belehrt zu werden. Man folgt ihr gespannt und muss doch immer wieder den Kopf schütteln ob mancher skurrilen Szenen. Wahrlich, ein Wunderland, das hier geschaffen wurde, wo nichts kann, nichts soll und nichts muss. Wie sagt der Hutmacher so schön: Das Unmögliche wird nur möglich, wenn man es für möglich hält.
Musik/ Choreografie
Norberto Bertassi hat wunderbare Musik komponiert. Hinreißend, mitreißend und immer klar im Ausdruck sind das Musikstücke, die Spaß machen, die Schwung haben und geradezu einladen, sie choreografisch aufzubereiten und zu vertanzen. Was ja auch gemacht wurde. Die Choreografien waren genial. Genauso, wie man sie Musical eben vorstellt. Mithilfe des Ensembles wurden wunderbare Bilder gezaubert und die Darsteller, auch die ganz jungen, hatten keinerlei Mühen, diese anspruchsvollen Bewegungsteile umzusetzen. Das war wie in einem Musicalfilm mit Fred Astaire. Gut, es wurde nicht gesteppt. Aber immer waren alle in Bewegung, alles war so hübsch ineinander verflochten. Nichts wirkte angestrengt, sondern zu jeder Zeit locker luftig und auf das Stück und auf die Musik passend. Auch, dass die Darsteller immer wieder den Kontakt mir dem Publikum suchten und Auf- und Abgänge oftmals durch die Seitengänge im Parkett stattfanden, machte das ganze Stück physisch greifbar und war für die Zuschauer immer eine Bereicherung: man sitzt quasi mittendrin im Wunderland!
Die Musik wurde souverän dargeboten von den Musikern, die auf der Bühne Platz genommen hatten, um zur Ouvertüre noch bewundert werden zu können. Dann senkte sich ein luftiger Vorhang und das Geschehen auf der Bühne dominierten ab da die Schauspielerinnen und Schauspieler, die Musiker wurden ab da nurmehr gehört.
Kostüme/ Make-Up
Schon die Choreografien und die Musik allein hätten schon pure Lebensfreude und ein wahres Wunderland auf die Bühne gezaubert, aber das dickste Pfund kommt noch dazu: die Kostüme!
Egal ob Alice, die Herzkönigin oder die Kaninchen. So was habt ihr noch nicht gesehen!
Und die Blumen, liebe Leute, die Blumen. Ich konnte mich nicht satt sehen. Die Kostüme an den Kindern waren so süß anzusehen und kamen so professionell daher. Ein optisches Wunderland! Und die Blütenhüte! Ich bin ja Hobbyschneiderin und mache auch die Kopfbedeckungen meiner Kinder zu Fasching selber, egal ob Jack-Sparrow-Hut oder Star-Wars-Helm. Drum achte ich da sehr gerne genau drauf.
Der Detailreichtum setzt sich in allem fort. Die Raupe trägt ein Kostüm, was einem engen Schlafsack ähnelt, und diese Idee trifft damit den Nagel auf den Kopf. Am Ende hat sie sich ebenso verwandelt, ihr wahres Inneres nach außen gekehrt wie die Hauptperson Alice und lässt ihre phantasievollen und farbenfrohen Flügel sacht auf- und abschwingen.
Mein persönlicher Favorit, der Verrückte Hutmacher, sieht aus, als wäre er aus dem bekannten Film mit Johnny Depp gesprungen, um in Mödling dabei zu sein. Was aber bei Tim Burtons Film auf mich fast zu überdreht wirkte, sah hier einfach nur hinreißend und eher liebevoll verrückt aus. Zauberhaft das Make-Up, das für die beiden Augen jeweils unterschiedlich war und wieder erstaunte mich der detailgetreue Hut.
Hier war das Auge auf Expedition. Es war bunt und phantastisch und ich war immer nur beschäftigt, auch ja alles aufzunehmen, was mir schon allein kostümtechnisch geboten wurde.
Teatro kann da mithalten mit den großen Profi-Produktionen, und wenn ich mir Fotos anschaue beispielsweise von der Tour-Produktion vom Tanz der Vampire, da wirken die Vampirkostüme mehr als lieblos dagegen. Bravo teatro!
Darsteller
Alice
Ich war an einem Samstag Nachmittag in der Vorstellung. Da gut eine Stunde nach deren Ende schon die Abendveranstaltung begann, sah ich „nur“ die Zweitbesetzung der Alice, nämlich Emily Fisher. Aber was heißt da nur! Ich kenne leider Nina Hafners (Erstbesetzung) Alice nicht. Aber Emily hat ihre Sache fabelhaft gemacht. Die Figur der Alice ist nicht so einfach darzustellen. Sie durchlebt einen spürbaren Wandel auf der Bühne und lernt viel über die anderen und über sich. Dieser Wandel vollzieht sich tatsächlich auf der Bühne und zwar nicht von jetzt auf gleich, sondern langsam, aber eindringlich. Das ist sowohl dem Buch zu verdanken, das diese Entwicklung so deutlich und doch wenig aufdringlich zeichnet, als auch der Hauptdarstellerin, die es schafft, diese Entwicklung so absolut überzeugend darzustellen. War sie am Anfang noch so richtig grantig und schmollend, zeigte sie sich zwischendurch dann zweifelnd und abwartend, und strahlte am Ende als selbstbewusstes Mädchen, das offen war für ihre Gefühle und die ihrer Mitstreiter. Ganz klar hat sie ihre Figur gezeichnet, aber nicht platt, sondern wohldosiert und behutsam. Eine tolle schauspielerische Leistung, die sich in Gesang fortsetzt! Danke, liebe Emily Fisher!
Die Kaninchen
Das blaue und das weiße Kaninchen wurden von semiprofessionellen Kinderdarstellern gespielt. Lorenz Pojer und David Paul Mannhart sind auf der Bühne schon „alte Hasen“ (ha, ein Wortspiel!). Lorenz spielte in Linz in Elisabeth neben Mark Seibert schon den kleinen Rudolf und ist auch sonst überall dort zu finden, wo es eine Bühne gibt. David war im Ronacher bei MaryPoppins und im Raimund bei Ich war noch niemals in NewYork dabei. Und wenn man beide sieht, dann ist das alles nur mehr als verständlich. Diese beiden jungen Darsteller bringen alles mit, was es in diesem Business braucht. Natürlich das Gesangstalent, aber auch Ausdruck und immense Spielfreude. Wahnsinn, wie die beiden drei Stunden in ihrer Rolle bleiben. Wenn man sie abseits ihres Textes und ihres Einsatzes beobachtet, erkennt man, dass sie jede Sekunde auf der Bühne leben.
Sie sind beide immer in Bewegung, schabbeln sich hinterm Ohr und auch die Hasenfüße sind ständig in hasentypisch zitternden Bewegung. Ich hoffe, ich kann ein klein wenig von meiner überschäumenden Begeisterung weitergeben, die ich empfunden habe, als ich die beiden und natürlich alle anderen auf der Bühne erlebt habe. Und abseits des Stückes, an der Bühnentür (die meisten Darsteller kamen im Kostüm nach draußen für Fotos) legen sie eine bewundernswerte Professionalität an den Tag. Dabei komme sie absolut natürlich rüber. Toll, toll,toll, lieber Lorenz und lieber David!
Der Hutmacher
Mein persönlicher Favorit ist ja der Hutmacher. Sowohl die Figur im Stück als auch sein Darsteller Moritz Mausser. Er hat schon allein eine auffallende Stimmfarbe, aber das Volumen gerade in der Mittellage und in der Tiefe fand ich mehr als bemerkenswert . Und er besitzt eine Bühnenpräsenz, da legst di nieder. Da kann man nicht wegschauen. Wie er seine Rolle interpretiert: Dieser Hutmacher ist so wundervoll lebensbejahend, verrückt und komisch, beherrscht aber auch die leisen, zweifelnden Töne. Man sieht diesen Hutmacher und weiß, warum es ihn im Wunderland gibt, warum Alice sich ihn ausgedacht hat in ihrer frühen Kindheit. Man muss diese Figur, so wie Moritz sie darstellt, einfach lieben. Und so verrückt erscheint er in dieser Wunderwelt gar nicht. Er hat sein Spiel so detailliert gestaltet, dass der eine Satz so unglaublich nachvollziehbar wird: Wer ein klein bisschen verrückt ist, sieht die Welt vielleicht so, wie sie wirklich ist.
In Moritz Mausser, der seit seinem neunten Lebensjahr auf der Bühne steht, wächst ein neuer Musicalstar im Stil eines Drew Sarich heran, da könnt ihr sicher sein.
Danke, Moritz!
Die Herzkönigin
Setareh Eskandari ist 18 Jahre alt und studiert Gesang. Ebenfalls wie ihre Kolleginnen und Kollegen auf der Bühne hat sie ihre Rolle genau getroffen. Ihre Herzkönigin war forsch, überheblich, trotzig und irritierend egozentrisch. Unsympathisch hoch drei, so, wie sie sein soll. Und ihre gesanglichen Leistungen sind gewaltig! Danke, Setareh!
Die drei Grinsekatzen
Immer wiederkehrend treten die drei Grinsekatzen Grins, Smile und Cheese – Alexander Hoffelner, Lena Mausser und Emily Cardi – auf. Die Maske hatte für diese drei Figuren einen besonders genialen Einfall: die Gesichter waren teilweise fluoreszierend geschminkt, so dass die Mundpartien im Dunkeln leuchteten. Das machte diese Wesen faszinierend und schön unheilvoll, aber ohne, dass sie für die jüngeren Zuschauer gruselig gewirkt hätten. Die Katzen haben sich mir ins Gedächtnis gebrannt, weil sie so eine wunderbar geschmeidige Art hatten, sich zu bewegen. Teatro bietet in seinen Workshops und seiner Akademie neben Gesangsunterricht und Sprecherziehung natürlich auch Tanzunterricht. Und dass tanzen mehr ist als Drehungen und Schritte, machen die Katzen hier mehr als deutlich.
Leider kann ich nicht jeden Darsteller hier namentlich aufführen und besprechen. Aber, und auch das ist etwas, was man sich von Profibühnen oftmals wünscht: Das Programmheft, was in seinem Umfang eher Programmbuch genannt werden müsste, führt jeden einzelnen Darsteller und jede einzelne Darstellerin auf mit Foto und einer individuell formulierten und kurzweiligen Biographie. Auch sämtliche technische Gewerke bekommen hier ein Gesicht und man bekommt hier auch mal eine Ahnung, wieviele Menschen hinter der Bühne arbeiten müssen, damit vorne so etwas Geniales wie Alice im Wunderland herauskommt. Auch bei der Gestaltung dieses umfangreichen Programmes kann man durch die Liebe und Leidenschaft, mit der es gemacht wurde, die professionelle Einstellung von teatro erkennen. Hut ab!
Fazit
Alice im Wunderland war ein wunderbares Stück Musiktheater und man kann sich gar nicht genug bei Norberto Bertassi bedanken, dass es so etwas wie teatro gibt. Junge Menschen werden an die Bühne und an das Theater von beiden Seiten herangeführt: Die Akteure werden exzellent gecoacht und gefördert und ihnen wird mit diesen Aufführungen eine unglaubliche Chance geboten, sich auf der Bühne zu präsentieren, sich auszuprobieren und zu wachsen. In den jungen Zuschauer werden durch mitreißende und liebevolle Inszenierungen die ersten Funken für die Liebe zum Theater entzündet. Und das geschieht mit unglaublicher Professionalität in allen Gewerken.
Mir hat dieser Besuch irre viel Spaß gemacht und ich habe es tatsächlich auf gar keinen Fall bereut. Schon mein erster Besuch von Teatro hat mich derart überzeugt, dass ich nächstes Jahr auf alle Fälle wieder hinfahren werde, um die neue Produktion anschauen: Es wird Heidi gespielt. Dann werde ich auch meine Kinder mitnehmen. So was muss man gesehen haben.
Michaela Pojer
Vielen Dank für diese bezaubernde Review!!!
Liebe Grüße
Michaela Pojer
julia
Gern geschehen! Bezaubernde Theatererlebnisse erlauben auch bezaubernde Reviews!
Norberto Bertassi
Liebe Julia!
Es hat 20 Jahre gedauert, bis jemand so im Detail erkennt, was teatro ist und ausmacht. Danke dass du unsere Qualität und Begeisterung erkannt hast. Es tut gut! Herzliche Grüße Norberto
julia
Lieber Norberto,
danke für deine persönlichen Worte! Es tut gut 😊! Ich werde wiederkommen!