Es ist Mittwoch, der 27.3.2019, 14:53. In genau dieser Sekunde beginne ich meinen Artikel über das Musical Die fabelhafte Welt der Amelie. Irgendwo anders auf der Welt passiert zur exakt gleichen Zeit etwas anderes. Wunderbares. Fabelhaftes. Man braucht nur ein bisschen Fantasie, um sich das vorzustellen…
Schon, als feststand, dass dieses Musical nach München kommen würde, war klar, dass Karten gekauft werden müssen. Die fabelhafte Welt der Amelie ist der Lieblingsfilm Des Mannes. Es gab also keine andere Wahl. Als sie dann gekauft waren, schlichen sich bis zum Musicalbesuch ernsthafte Zweifel ein: Was, wenn das Musical nicht das halten kann, was der Film vorgelegt hat? Und die größte Sorge: kann diese Musik, können diese wunderbaren Melodien der Filmvorlage, vermusicalt werden?
In einem Vorab-Fazit sei gesagt: Ja, es kann. Mit vielleicht dem ein oder anderen kleinen Abstrich. Aber ja: hat funktioniert!
Inhaltsangabe
Amelie Poulain ist eine junge Frau, die sich von der Masse abhebt. Äußerlich adrett, aber schüchtern, nimmt sie die Welt um sich herum sehr genau wahr, ohne jemals das Gefühl zu entwickeln, Teil dieser Welt zu sein.
In ihrer Kindheit sehnte sie sich nach Berührung, aber nur einmal im Monat wurde ihr diese zu Teil: Ihr Vater, ein Mediziner, untersuchte sie dann. Amelie war jedesmal so aufgeregt, dass ihr Herz anfing, schneller zu schlagen. Der Vater diagnostizierte darauf hin eine Herzkrankheit und, um Aufregung zu vermeiden, schlossen die Eltern Amelie von allem gesellschaftlichen Leben weitestgehend aus.
Als junge Frau arbeitet Amelie in einem Café in Paris. Eines Tages entdeckt sie in ihrer Wohnung zufällig einen verborgenen Spalt und darin ein kleines Metallkistchen. In diesem hat einst ein in der Wohnung lebender Junge seine Schätze gesammelt. Amelie setzt darauf ihre ganze Kraft und Fantasie ein, den Mensch, dem die Kiste gehörte, zu finden. Das Vorhaben gelingt und setzt zugleich einen Wandel im Leben des Mannes in Gang. Völlig beseelt von diesem Ereignis beschließt Amelie, sich ab jetzt für das Glück der anderen einzusetzen. Das erscheint ihr sinnvoller und ungleich leichter, als das Glück in ihrem eigenen Leben zu suchen.
Sie bringt die unter Hypochondrie leidende Frau vom Tabakstand im Café zusammen mit dem mürrischen Josef, der mal mit der Kellnerin zusammen war und diese nach der Trennung stalkt. Sie verhilft dem erfolglosen Schriftsteller zum ersten Erfolg. Den ewig grantigen Gemüsehändler, der immer schlecht über seinen Lehrling schimpft, läutert sie.
Dabei schleicht sich heimlich der Zauber auch in ihr Leben. In der Metro beobachtet sie einen jungen Mann, der die Bilder sammelt, die Menschen von sich im Fotoautomaten machen, diese dann aber als nicht gelungen einfach wegwerfen. Akribisch klebt er sie alle in ein Album. Amelie ist sofort fasziniert, erkennt sofort das besondere in ihm und damit eine Verbindung zu sich. Durch einen Zufall fällt Amelie das Fotoalbum in die Hände. Amelie steckt im Zwiespalt: Sie möchte ihn kennenlernen, aber sie traut sich nicht. Sie spürt: Wenn sie dem jungen Mann gemäß ihrer selbsternannten Bestimmung das Glück in Form des Fotoalbums wiederbringt, wird sie das hineinziehen in ihre Emotionen, möglicherweise hineinziehen in die Welt eines anderen Menschen. In die Welt der Liebe…
Musik
Was ich mochte:
- Das Liveorchester. Es ist auf dem Balkon des Cafés platziert, dort, wo auch hin und wieder gespielt wird. Dadurch werden die wenigen, aber genialen Musiker immer wieder ins Blickfeld gerückt und das haben sie sich sehr verdient.
- Das Musical wurde durchkomponiert, das heißt, auch wenn gerade nicht gesungen wurde, war meistens Musik zu hören. Das ist mehr als gelungen! Es ist nicht nur lapidar die Musik eines Stückes, sondern es ist die Musik von Amelies Welt. So ist ihre Welt, so hört sie sich an. Traumwandlerisch, tanzend und lebensbejahend. Aber nicht zu übermütig. Außerdem kann sie melancholisch und flehend. Aber sie bleibt wie Amelie selbst in Unsicherheit: positiv. Das Durchkomponieren hält den Zuschauer in Amelies Welt. Man taucht ein zu Beginn und wird nicht gezwungen, aufzutauchen. Amelies Welt, Amelies Musik umfangen den Zuschauer.
- Einige wenige Teile wurden aus dem Originalsoundtrack übernommen. Ohne Frage ist die Musik äußerst gelungen. Sie passt sich im Stil der Filmmusik an. In der Eingangssequenz ist diese original zu hören. Ebenso an wenigen weiteren Stellen. Das schafft eine schöne Verbindung zum Film. Der Soundtrack dazu gehört meiner Meinung eh nach zum besten, was Filmmusik genannt wird. Zwei oder drei Lieder waren mir textlich zu extrovertiert, die Musik dazu aber eher langweilig. Das fiel mir hauptsächlich für die Songs des Ninos auf. Deshalb hat sich mir dessen Charakter auch nicht so ganz rund dargestellt. Trotzdem bleibt es vor allem wunderbar gespielte und die Atmosphäre tragende Musik!
- Wiederkehrende Sequenzen: an einigen Stellen wird ein bestimmtes prägnantes Thema wiederholt, zum Beispiel, wenn Menschen sich verlieben. Dieses, von allen Darstellern gesungenen Thema, lenkt die Aufmerksamkeit geschickt, unterstreicht die Regelmäßigkeit des Lebens. Spannende Sache gerade für Amelie, die mit strenger Regelmäßigkeit aufwuchs und genau das eher nicht mit sich in Verbindung bringt.
- Kleines Ensemble: 11 Darsteller an der Zahl sind beteiligt. Das hat mir sehr gefallen. Das Stück bleibt intim und wirkt in sich abgeschlossen. So wie Amelie in ihrer Welt zwar neugierig erscheint, aber doch IHRE Welt nicht verlässt. Ein großer Chor wäre sowohl für den Ort, nämlich das Werk 7, als auch für die Handlung und deren Zartheit zu viel. Es ist Amelie kleine, aber sehr bunte Welt, die wir Zuschauer sehen, und genauso klein und bunt reicht das Ensemble aus, um die Chorstücke zu füllen. Außerdem gibt das den Darstellern die Möglichkeit, wahrhaft zu glänzen. Sehr bestaunenswert beweisen sie ihr gesangliches Vermögen und meistern wunderbare Chorpartituren.
Ort: Werk 7, München
Perfekt. Das Werk 7 ist das ehemalige Kartoffellager von Pfanni. Inmitten eines neu entstehenden hippen Szene- und Künstlerviertels passt das unheimlich gut, quasi industrial Style.
Es gibt keine Bühne im herkömmlichen Sinn. Die Spielfläche befindet sich mitten im Saal. Von da ausgehend steigen die Sitzreihen mit den blauen Plastiksitzschalen an drei Seiten u-förmig um diese Spielfläche nach oben an. Insgesamt bietet das Werk 7 Theater knapp 700 Zuschauern Platz. Das ist für die Größe der Halle genau richtig, und auch ein Musical wie „Amelie“, dass sich intim präsentiert, fokussiert auf Amelies kleine Welt, passt dort fabelhaft hin.
Bühnenbild
Gespielt wird im Café. Das Café de Deux Moulins, in dem Amelie kellnert, ist detailreich dargestellt. Zuschauer in der ersten Reihe Mitte sitzen an den Cafetischen und werden mitunter bedient. Links an die Theke schließt sich Georgettes Tabakstand an. Links und rechts neben Theke und Tabakstand befinden sich die Ausgänge, die die Spieler benutzen.
Die Handlung wird überdies in den Zuschauerraum getragen. Amelie bahnt sich ihren Weg durch die Zuschauerreihe genauso, wie sich das Ensemble verteilt, um zu singen. Die Wohnung Dufayels befindet sich links hinter der ersten Zuschauerreihe, während Amelie auf der Suche nach Bretodeau rechts an einer Türe im Zuschauerraum klingelt. Mittendrin statt nur dabei, ihr lieben Zuschauer, eintauchen ist angesagt!
Die Figuren und ihre Darsteller
Bei der Beschreibung der Figuren macht es einen großen Unterschied, ob man den Film kennt und liebt. Man kommt nicht umhin, Vergleiche anzustellen. Das muss auch erlaubt sein, weil wohl viele Menschen das Musicals aufgrund des bekannten Films besuchen.
Mit genau 11 Darstellern kommt das Musical aus, und das, obwohl der Kosmos von Amelie gar nicht so klein ist, wie man vielleicht vermuten könnte. Die wenigen, die Amelie bereit ist, in ihr Leben zu lassen, sind alles Menschen, die einen andere Art der Wahrnehmung haben. Die aus irgendeinem Grund objektiv als „anders“ empfunden werden.
Amelie – Sandra Leitner
Amelie ist sehr zurückhaltend, aber durchweg positiv. Sie hat sich von Kindheit an in ihre eigenen Fantasien geflüchtet und damit ihrer Welt einen ganz speziellen Zauber übergestülpt. Realität ist für sie unpersönlich und eintönig, wie sie sie in ihrer Kindheit kennengelernt hat. Amelie hat trotzt fehlender emotionaler oder sozialer Bindung in der Kindheit ein großes Herz, aber ist unsicher im Umgang mit anderen. Welchen Abstand und welche emotionales Nähe traut sie sich zu? Was macht diese Nähe mit ihr? Sie kann es nicht wissen, sie hat es nie gelernt. Dabei scheint sie trotz all ihrer Zurückhaltung durchaus neugierig und fasziniert von den Menschen in der großen Welt. Ihrer eigene Welt farbig, bunt, phantastisch und gehört ihr. Einen Rückzugsort braucht sie, denn manchmal erschrickt sie selbst vor ihren eigenen Schritten. Verschüchtert, ängstlich, nicht vom Erfolg überzeugt ist sie in eher zögerlich. Wird sie überrumpelt, klappen die Dinge. Denkt sie zu lange darüber nach oder hat Zeit zu reflektieren, merkt man, wie Furcht in Amelie hochkriegt. So gerne würde sie diese bezwingen, aber das kostet enorm viel Kraft.
In der Realität erwacht sie dann zum Leben, als das Fantastische in ihr Leben ganz lebendig Einzug hält: das Kistchen mit den Schätzen eines kleinen Jungen ist lebendiger Zeuge. Auch dieser Junge hat mit diesen Dingen Teile seiner Identität versteckt vor der realen Welt. Als Amelie dieser Schatz in die Hände fällt, resoniert etwas aus der realen Welt mit ihr und fordert sie auf, ihre Energie und ihre Leidenschaft nach außen zu tragen.
Energie und Leidenschaft kann Sandra Leitner auch deutlich in ihre Stimme legen. Die hat mir sehr gut gefallen. An zwei, drei Stellen fand ich sie im Ansatz zwar fast schon zu expressiv, fast zu aggressiv. Das hat für mich nicht immer hundertprozentig gepasst. Insgesamt wurde großes Augenmerk darauf gelegt, ihren Charakter reflektiert rüberzubringen. Darunter leidet ein klein wenig die Introvertiertheit der Figur. Aber das ist schließlich einer von mehreren Interpretationsansätzen für die Figur und hat natürlich seine Berechtigung. Für mich war das in Ordnung bis auf einige unrunde Stellen.
Gen Schluss wurde sie immer zögerlicher. Das Zusammentreffen mit Nino nach dem kurzweiligen Suche- und Finde-Spiel wurde extrem in die Länge gezogen. Das war für mich aus den oben genannten Gründen eher unglaubwürdig: Je länger es dauert, desto größer die Chance, dass sie einen Rückzieher macht. Vielleicht ist nur die wahre Liebe dazu imstande, das aufzulösen. Mir war es trotzdem zu sehr fokussiert auf den Moment, wo sich beide küssen. Das ganze Musical kommt so luftig, pfiffig, leichtfüßig daher. Diese Szene hat darin sehr kaugummiartig gewirkt und alles plötzlich gestoppt. Ich versteh das so, dass sich da die Welt aufhörte zu drehen. Aber irgendwie war das vom Timing für mich nicht stimmig.
Sandra Leitner gibt optisch und gesanglich eine Amelie, mit der man gerne träumt. Deren versteckten Charme man spürt. Der man gerne durch die Geschichte folgt, weil sie zu fesseln weiß.
Nino – Andreas Bongard
Als Amelie Nino begegnet, spürt man sofort eine Verbindung zu dem Mann, der ihr ähnlich scheint. Nino ist genauso schüchtern wie Amelie. Das Drama seiner Kindheit allerdings ist ein anderes als bei Amelie, die ohne jegliche Gesellschaft aufwachsen musste. Nino, der immer nur gehänselt wurde, fasst das so zusammen: in einem Alter, in dem Amelie gerne mehr Kontakt zu Kindern gehabt hätte, hätte Nino gerne auf einige dieser Kontakte verzichtet. Der typische Nerd, den, den alle irgendwie seltsam finden und der aufgrund seiner Andersartigkeit einfach mal, verdächtig erscheint und verhauen wird: Amelie ist sofort fasziniert, man hat das Gefühl, als spüre sie sofort eine Resonanz. Ihre Andersartigkeit, seine Andersartigkeit: gesucht und gefunden, könnte man auch sagen.
Im Musical spürt man diese Resonanz durch die lange, „eingefrorenen“ Blicke, in denen beide vom Ensemble mit dem immer gleichen musikalischen Motiv begleitet werden.
Ich mochte, wie Bongard den Nino darstellte. Er bringt schauspielerische Tiefe in seine Rolle. Ein bisschen Schwierigkeiten hatte ich damit, dass er mir oft zu verständig, zu normal erschien. Am meisten irritierten mich seine Lieder. In denen zeigte er sich oft sehr reflektiert. Er gibt da sehr viel Seelenleben von sich Preis, viele Gedanken. Ich hätte die Figur gerne behutsamer entdeckt. Sie wurde schön vielschichtig präsentiert, aber mir fehlten die Entdeckungsmomente. Die Momente, an denen ungesagt klar wird, wer er ist und wie er denkt. Seine Lieder waren ebenfalls bisweilen eine Spur zu aggressiv. Überhaupt hat der spannende Nino die unspannendsten Songs bekommen.
Ändert aber nichts daran, dass Andreas Bongard seine Sache mehr als gut macht. Er vermag es, die Zuschauer verstehen zu lassen, wie Nino auf Amelie wirkt.
Georgette – Karen Bild und Joseph – Janco Lamprecht
Die beiden liebsten Figuren, sowohl im Film als auch im Musical, sind mir Georgette als auch Joseph.
Georgette ist die eingebildete Kranke aus dem Tabakstand, Joseph ist der Cafégast, der kurz mal mit der Kellnerin Gina zusammen war. Nachdem diese ihn verlassen hat, stalkt er sie jetzt, sitzt fortwährend mürrisch im Café und kommentiert jede Aktion von Gina in ein Diktiergerät. Dieser Joseph ist großartig als Figur und genial verkörpert von Janco Lamprecht.
Karen Bild sieht aus wie die Georgette im Film und ist ebenfalls hinreißend. Skript und Musik geben ihr allerdings wenig Raum, den Charakter ein wenig spitzer zu formulieren. Ich hätte sie mir deutlich jammeriger gewünscht. Das hätte möglicherweise auch mehr Platz gelassen für den ein oder anderen stärkeren Witz über ihre Hypochondrie. Aber gespielt und gesungen war es super. Zwei tolle Darsteller!
Dufayel/ Collignon – Rob Pelzer
Dufayel, gespielt von Rob Pelzer, erscheint deutlich jünger als im Film. Er ist der Mann, der gegenüber von Amelie wohnt und aufgrund seiner Glasknochenkrankheit das Haus nie verlässt. Er malt jedes Jahr ein Bild eines großen Meisters nach.
Amelie freundet sich mit dem einsamen, aber liebenswürdigen Mann an. Auch er nimmt seine Umwelt anders wahr. Er nimmt an seiner Welt ebenso wenig physisch Teil wie Amelie in ihrer Kindheit. Dieses stille Verständnis webt ein haltendes Band zwischen den beiden Figuren. Wenn sie über Amelie oder ihn selbst sprechen, benutzen sie das Bild, das er gerade malt, als Metapher. Das macht es beiden möglich, Dinge zu sagen, die sie im echten Leben in einem normalen Gespräch so nie geäußert hätten. Beide haben sich vorgenommen, dem jeweils anderen den richtigen Weg zu zeigen.
Die Figur des Dufayel wurde sehr genau aus dem Film übernommen und Pelzer bringt ihn auch genau so auf die Bühne: Weise erscheint er, ein genauer Beobachter. Pelzer erlaubt der Figur eine zarte, väterlichen Zuneigung. Zudem entfaltet er das Drama des einsamen Mannes, ohne ihn zu sehr in den Vordergrund zu drängen.
Zusätzlich übernimmt Pelzer auch noch die Rolle des Gemüsehändlers Collignon. Der Griesgram hat den ganzen Tag nichts besseres zu tun, als seinen Gehilfen Lucien runterzumachen. Seien Läuterung aber, für die natürlich Amelie zuständig ist, fällt gänzlich anders aus als im Film und hat mir nicht gefallen. Das war von der Idee her nicht überzeugend und viel zu schnell erzählt, als dass es hätte glaubhaft wirken können.
Rob Pelzer überzeugte mich innerhalb der Figur aber gänzlich.
Gina – Kira Primke und Suzanne – Christine Rothacker
Die Chefin des Cafés, Suzanne, steht Amelie offen und verständnisvoll gegenüber. Sie ist viel auf der Bühne, ohne, dass ihr Charakter ausreichend Raum bekommt, ebenso wie Gina, die Kellnerin. Zusammen stehen sie Amelie eher unsichtbar stützend zur Seite. Es gibt oft Musicals, die zu lang sind und man sich nicht getraut hat, zu kürzen. Dieses hier gehört zu den Ausnahmen, wo man sich wünscht, sie hätten noch ein oder zwei Lieder mehr hinzugefügt, um alle spannenden Personen noch näher zu beleuchten.
Hipolito/ Elton John/ Gartenzwerg – Charles Kreische
Kreische überzeugt in mehreren kleinen Rollen. Hat er als Schriftsteller Hipolito hauptsächlich am Cafetisch zu sitzen, dreht er als Elton John Double auf und unterhält stimmlich und darstellerisch glänzend!
Lucien – Daniel Wagner
In Amelies Welt hat auch Lucien Platz. Der minderbemittelte junge Mann ist der Lehrling des Gemüsehändlers Collignon und muss tagtäglich dessen abwertende Sprüche ertragen. Mit ganz zauberhaftem Spiel fängt Daniel Wagner diesen Charakter ein und lässt ihn liebenswert und einfach, aber nie dumm wirken. Ein großer Sympathieträger!
Amandine Poulain – Dorina Maltschewa und Raphael Poulain – Stephan Bürgi
Die Eltern Amelies Amandine und Raphael überzeugen. Dorina Maltschewa wirkt erschreckend abschreckend und unnahbar. Sie macht das Drama des Mädchen greifbar. Maltschewa überzeugt außerdem als Flugbegleiterin auf Rollschuhen!
Die größere Rolle hat der Vater, der ja im Verlauf des Musicals immer wieder vorkommt. Bürgi zeichnet den unsicheren Vater als in sich gefangenen, aber durchaus sympathischen Mann einwandfrei.
Fabelhaftes
In der Rückschau ergeben sich nicht nur in der Figurenzeichnung Kritikpunkte: Manches in der Geschichte war ein bisschen unrund, manches zu kurz oder nur angerissen, manches ein bisschen hektisch.
Die fabelhafte Welte der Amelie ist trotzdem auf alle Fälle sehr zu empfehlen. Ich finde die Musik wunderbar und der intime Rahmen passt perfekt zum Stück. Der Zauber des Stückes entfaltet sich in der Erzählweise, die erstaunlich nahe am Film ist. Hier hat Regie, Ausstattung, Kostüm, Bühnenbild und das ganze Kreativteam spürbare Leidenschaft fließen lassen und dabei verstanden, auf diese Weise die Seele der Geschichte zu offenbaren. Ein paar Beispiele:
Die Puppen
Die Kindheit von Amelie und auch die von Nino werden im Handpuppen-Spiel dargestellt. Das halte ich für eine geniale Idee: So hat sich Amelie gefühlt: Wie eine Puppe. Wie etwas, was man hat und dann benutzt, wenn man es will. Die angefasst wird, wenn der Benutzer das möchte. Etwas, das von außen gelenkt wird durch einen anderen Menschen, ohne selber agieren zu können. Ohne eigene Idee, wie man selbst ohne Hilfe mit einem Gegenüber in Kontakt kommen kann. Manipuliert. Zum Zusehen gemacht.
Insofern ist die Metapher mit der Puppe mehr als getroffen. Und zusätzlich allerliebst ausgeführt. Auch Amelies Goldfisch „Pottwal“ ist eine solche Puppe. Die Einfangversuche dieses Geschöpfs geraten gekonnt komisch, tolpatschig und herrlich zum Anschauen.
Das Sich-Wiederfinden der Handlung in der Musik
Wenn beispielsweise gesungen wird: „ich nehm den Zug um kurz nach drei“, kann man in der Musik das Rattern des Zuges tatsächlich hören.
Fabelhafte Umsetzungsideen
Wenn Amelie eine Stein im Wasser hüpfen lässt, wird das symbolisiert durch Menschen, die Wassergläser in der Hand halten und den von Glas zu Glas springenden Stein nachschauen.
Mangels großer Umbauten gibt es den Gemüsestand von Collignon nicht, sondern wurde kurzerhand in einen Bauchladen integriert.
Als Amelie die Leute besucht, die ihr bei der Suche des Besitzers des Kistchen helfen sollen, sitzt Amelie unten auf der Theke des Cafés, während das Ehepaar über ihr auf dem Balkon sitzt. Und dennoch ist das Gespräch so gestaltet, als würden alle drei an einem Tisch sitzen. Das ist phantastisch. Die Dame des Hauses gießt Amelie Tee ein, vom Balkon nach unten in ihre Tasse. Herrlich, wirklich fabelhaft.
Das Einbinden der Zuschauer
Mal muss ein Zuschauer die Glocke halten, mit der Amelie an verschiedenen Haustüren klingelt, um Bretodeau zu finden. Dann muss jemand helfen, mit Nino Suchplakate zu kleben. Mehrmals begibt sich das Ensemble auch zwischen die Zuschauer, um zu singen. Dadurch kommt man Amelie näher. Amelie hat auch oft das Gefühl, sie ist Zuschauer in einem Film, einem Stück und wird zum Handeln gezwungen. Wie der Zuschauer, der plötzlich eine Glocke halten muss. Das ist aufregend, passiert dabei vollkommen natürlich und entspannt.
Wirkung
In diese Dinge steckt die Seele des Musicals, hier entsteht der Reiz, das Fabelhafte, was auf den Zuschauer überspringt. Das ist kreativ und liebevoll gemacht und vermittelt ein magisches Gefühl.
Amelies Musical hat eine wunderbare Handlung und eine absolut positive Botschaft. Es hinterließ bei mir trotz kleiner Abstriche ein grundgutes Gefühl: so ruhig, so positiv.
Das Leben ist immer im Fluss. Amelie hat das perfekt abgebildet: Der plätschert und flüstert. Manchmal gurgelt er oder strömt breit dahin. Manchmal verwirbelt es sich, hüllt dich ein, nimmt Umwege. Es gibt stille Stellen und dann rauscht er wieder dahin. Und wenn man an diesen Stellen den Kopf zu weit hinausstreckt, wird man womöglich mitgerissen und läuft Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. Doch schließlich fließt er wieder ruhig und klar. Und irgendwann und irgendwo kommt man an.
Vielleicht sollte man sich einfach ein Scheibchen von Amelie abschneiden.
Fazit
Die fabelhafte Welt der Amelie ist im wahrsten Sinne des Wortes fabelhaft. Durch zahlreiche kleinster und liebevoll ausgesuchter und durchdachter Details wird der Zuschauer in die Welt der Amelie förmlich hineingezogen. Musik und Spielweise, Bühnenbild und Ensemble versprühen französische Leichtigkeit und arbeiten die Seele des Stückes, die fabelhafte Welt, heraus. Die Wahl der Spielstätte unterstreicht die Intimität, die das Musical aussenden will. Trotz des einen oder anderen Kritikpunktes bleibt es deshalb in der Gesamtschau ein außergewöhnliches, in größten Teilen stimmiges und unbedingt sehenswertes Musical.
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