Südamerikanisches Gefängnis, brutale Aufseher, durch Folter erzwungene Geständnisse… nicht unbedingt die Zutaten für etwas, was man sich an einem warmen Sommerabend freiwillig ansehen möchte. Manuel Puigs Romanvorlage wurde zu einem bildhaften, tiefgründigen Musical adaptiert, das trotz aller Tragik immer wieder mit Situationskomik punktet und mitreißende lateinamerikanische Rhythmen bietet.
Regisseur Werner Sobotka machte im Auftrag der Bühne Baden daraus ein für mich emotional herausforderndes, berührendes Stück und arbeitete durch geniale Regieanweisungen, ein perfektes Bühnenbild und großartige Darstellern die Vielschichtigkeit des Stückes deutlich heraus.
There is an English version of this text, too: Kiss of the Spider Woman.
Inhalt
Luis Molina, ein homosexueller Schaufensterdekorateur, sitzt wegen sexuellen Kontakten zu einem Minderjährigen im Gefängnis einer südamerikanischen Diktatur. Physische Folter sowie Drohungen, Einschüchterungen und Demütigungen bestimmen dort den Alltag. Der zarte Molina versucht täglich, sich selbst zu bewahren vor den unberechenbaren Aufsehern, vor der Angst um sich und die anderen Insassen, indem er in ein Scheinwelt flieht: Da seine Mutter Platzanweiserin im Kino war, kam er in den Genuss zahlreicher Kinofilme. Seine ganz persönliche Muse ist Aurora, eine große Filmdiva, deren Plakat auch in seiner Zelle hängt. Das Nachempfinden ihrer Filme ist seine persönliche Flucht aus dem brutalen Alltag. Mit Fantasie und Gefühl beschwört er immer wieder die heile Welt des Films dann herauf, wenn die Grausamkeiten des Gefängnisses allzu sichtbar werden. Die verschiedenen Rollen Auroras überdecken als Fantasiebilder die harte Realität.
Eines Tages bekommt er mit Valentin einen Zellengenossen. Dieser wurde verhaftet als Gegner des Regimes, als Freiheitskämpfer mit terroristischen Tendenzen. Als komplettes Gegenteil von Molina ist er physisch stark, aggressiv und kompromisslos. Sofort kracht es zwischen den beiden: Während Molina versucht, Kontakt aufzunehmen und offen auf ihn zugeht, geht Valentin Molinas Gerede und seine Art sofort auf den Zeiger. Valentin verhält sich abweisend, drohend.
Als Valentin beobachten muss, wie die Aufsehern Molina wegen seiner Homosexualität demütigen, bekommt er zum ersten Mal die Ahnung, dass sie beide im selben Boot sitzen. Etwas wie Mitgefühl regt sich in ihm, eine Annäherung gelingt aber nur langsam, obwohl Molina Valentin deutliche Sympathie entgegen bringt. Da auch Valentin körperlich und psychisch leiden muss, beginnt Molina, ihn in die Fantasiewelt der Aurora-Filme mitzunehmen.
Die Gefängnisleitung erpresst Molina: Er soll Valentin bespitzeln, um an die Namen seiner Verbündeten zu gelangen. Um ihn seelisch unter Druck zu setzen, erzählt man ihm, dass seine über alles geliebte Mutter schwerkrank sei. Kontakt mit der Mutter gegen Informationen: so lautet der Deal, auf den Molina zum Schein eingeht.
Um Valentin mürbe zu machen, wird sein Essen vergiftet. Molina hilft Valentin. Er säubert und pflegt ihn, um ihn vor der Krankenstation zu bewahren. Dort, so glaubt er, würde man Valentin mit Morphium behandeln, unter dessen Wirkung Valentin möglicherweise seine Geheimnisse verraten würde.
Valentin öffnet sich. Er erkennt Molinas Bemühungen an. Er lässt sich ein auf dessen Film-Fantasiewelt.
Man konfrontiert Molina mit dem drohenden Tod seiner Mutter und der Möglichkeit einer Entlassung bei Kooperation. So liefert Molina schließlich Namen, wenn auch nicht den, den sich der Aufseher erhofft. Man beschließt, Molina nach seiner Entlassung zu beschatten. Am Vorabend bittet Valentin seinen Freund, in Freiheit eine Nachricht weiterzugeben. Molina weigert sich zunächst. Valentin geht auf Molina zu und kommt ihm schließlich körperlich nahe. Auch der mittlerweile verliebte Molina kommt Valentin entgegen und willigt ein. In Freiheit telefoniert er mit Valentins Freundin Marta, wobei er postwendend wieder verhaftet wird.
Valentin wird erneut verhört. Als letztes Druckmittel wird der durch Folter geschwächte und verletzte Molina hereingebracht. Der Aufseher bedroht Molina mit einer Pistole, er möchte Valentin zwingen, zu reden. Molina hält ihn davon ab, opfert sich für seinen Freund und wird erschossen. Die Spinnenfrau, eine Rolle der Filmdiva Aurora, die Todgeweihte küsst, kommt, tanzt mit Molina einen letzten Tango und küsst ihn.
Musik
It’s Showtime! Die Auftritte der Spinnenfrau sind großes Kino. So vielfältig wie Auroras Rollen sind die ihr zugedachten Melodien. Lateinamerikansiche Rhythmen herrschen vor, vom Merengue über Bossa Nova hin zu spannenden Tangomelodien.
Das Lied der Spinnenfrau dagegen erinnert an eine Ballade, die sich strophenweise durch das Stück zieht und am Ende ganz zur Entfaltung gelangt: Ein dramatischer Ohrwurm.
Als wiederkehrende Melodie ist auch Hinter der Wand angelegt. Teile davon finden sich zum Beispiel in Valentins Solo Marta wieder. Einen großen Effekt entwickelt es aber durch die dunklen Männerstimmen der Gefangenen.
Inszenierung
Schon Manuel Puigs Romanvorlage hat mich im Vorfeld begeistert, obwohl sie nicht leicht zu lesen ist. Ein völliges Rätsel war mir, wie man dieses kammerspielartige Stück, in dem die harte Realität mit traumhaften Filmsequenzen verknüpft wird, auf einer Bühne umzusetzen kann.
Bühnenbild
Zu Beginn sieht man über die ganze Bühne (Karl Fehringer/ Judith Leikauf) eine schwarzen Vorhang, auf den ein blau-leuchtendes Spinnennetz projiziert wird. Man hört nur den Gesang der Spinnenfrau. Bald oder später begegnest du ihr…
Dann sieht man durch das Netz hindurch Molina hinter einer Gittertür in seiner Zelle stehen. In hervorragender Weise nimmt das Musical hier das ganze Setting vorweg: Molina wurde bereits gefangen, Molina sitzt bereits im Netz der Spinnenfrau. Sein Schicksal ist vorherbestimmt, von nun an ist es nur mehr eine Frage der Zeit, bis sie ihn holt. Schon in dieser Anfangssequenz spiegelt sich die großartige Regieleistung!
Die Bühne zeigt mittig die Gefängniszelle von Valentin und Molina mit den zwei schmalen Pritschen links und rechts. Beide lassen sich nach Belieben rückwärts wegziehen, um hinter zwei sich schließenden Metalltüren gänzlich zu verschwinden. So wird den raumgreifenden Choreographien schnell und reibungslos Platz gemacht. Über der Gefängniszelle ist in einer zweiten Ebene ein Laufweg von links nach rechts samt Treppen installiert. Dort oben sehen wir meist Aurora singend oder im krassen Gegensatz dazu, den Gefängnisleiter brüllen.
Regie
Dieses einfache wie geniale Bühnenbild ist Ausgangspunkt für eine sehr durchdachte Regiearbeit von Werner Sobotka. Die Vermischung der Realität mit Molinas Traumwelt kann damit absolut greifbar vermittelt werden: Sobald Molina zu fantasieren beginnt, taucht Aurora über der Zelle auf. Sie singt und tanzt und Molina lebt mit ihr. Jedes Bewegung, die sie ausführt, führt er synchron aus, er bewegt die Lippen in perfektem Playback. Das tut er mit einer schier unerschöpflichen Leidenschaft. Er erweckt diese Diva in einer Zelle zum Leben, er macht sie real für sich und für die Zuschauer. Ich wusste gar nicht, wer mich mehr fasziniert: die hinreißende Spinnenfrau oder der vollkommen in sich versunkene Molina.
Aurora tanzt über die Bühne, und Aufseher, die eben noch unbarmherzig im Umgang mit den Gefangenen waren, fügen sich plötzlich nahtlos ins Ballett ein, ebenso wie noch die eben geschlagenen Gefangenen selbst. In unterschiedlichsten Rollen taucht Aurora auf, entführt Molina, dann Valentin und auch mich als Zuschauer in eine andere Welt. Doch nicht nur die Spinnenfrau wird real:
Sowohl Marta, Valentins große Liebe, als auch Molinas Mutter tauchen auf, um zu trösten, um zu sorgen. Der von Molina verehrte Kellner aus seinem Lieblingscafé ist plötzlich Teil des Spiels und serviert das Geschirr in der Zelle ab. Die Realität verschwindet zusehends für die Zeit des Traumes.
Das ist fantastisch, das ist magisch: Wie die Bilder ineinander verschwimmen, wie sie einen Rausch entfachen, um plötzlich wieder hart in die grausame Realität zurückzukehren. Sobotka versteht es, beide so unterschiedliche Welten mühelos zu verknüpfen. Wie eine Spinne ihr Netz, so webt Sobotka zielsicher ein Netz aus Film- und Traumsequenzen um die Realität der Gefängniszelle. Wie sehr beides miteinander verschwimmt, wird auch angedeutet, wie in einem wunderbaren Detail nach einer Filmfantasie ein Rosenstrauß in der Zelle zurückbleibt.
Als Molina erschossen wurde, versammeln sich unter Molinas Mutter als Platzanweiserin alle Darsteller in ihren Rollen, die sie in Molinas Leben gespielt haben, in Kinosesseln. Jetzt spielt Molina die Hauptrolle und tanzt wie Aurora vorher im weiß-glänzenden Frack den letzen Tanz mit der Spinnenfrau.
Kostüm/ Ausstattung
Glamouröse Kostüme prägen diese imaginäre Filmwelt hollywoodgleich. Große Roben in rot oder schwarz mit funkelnden Colliers und perfekte Frisuren, ein weißer Frack oder ein brasilianisches Sambakostüm: Für Aurora bietet Kostümbildnerin Friederike Friedrich optisch alles auf,was Molina ersehnt: eine makellose Oberfläche.
In alten Mythen der Hopi-Indianer ist die Spinne die Schöpferin allen Lebens. Sie erhob sich einst aus dem tief violetten Licht eines herannahenden Morgens. Die Badener Spinnenfrau ist von oben bis unten in eine ebenso violett-schwarze Glitzerrobe gehüllt, auf dem Kopf trägt sie einen eleganten Turban.
Als Clou lässt Lichtdesigner Michael Grundner am Ende auf diesem Kleid der Spinnenfrau ein giftiges Spinnennetz leuchten.
Molina ist liebevoll eher als Transsexueller denn als Schwuler zu erkennen: Türkis lackierte Fingernägel, diverse Halstücher und Schals, die er wahlweise um Hals, Kopf oder Handgelenk trägt und ein weiter Umhang über dem nackten Oberkörper setzten natürlich auch optisch eine Kontrapunkt zum groben Schnauzbartträger Valentin. Am Ende, vor dem Kuss der Spinnenfrau, als er aus der irdischen Realität gleitet, wird er dann selbst zur Diva und tanzt im glänzend-weißen Frack seinen letzten Tango mit der Spinnenfrau.
Choreografie
Man sieht es den Choreografien an, dass Natalie Holtom es genossen hat, sie zu kreieren. In den großen Tanzszenen liegt der Fokus immer auf Aurora, das Ensemble stellt sie immer in den Mittelpunkt und unterstützt sie. Die Choreografien tragen der lateinamerikanischen Rhythmik Rechnung, betont die Lebhaftigkeit dieser Stilrichtung. Auroras Divenhaftigkeit, ihr Starsein findet immer wieder Ausdruck, indem sie vom Ballett in verschiedenste Hebefiguren-Postionen gebracht wird. Ein Augenschmaus, indem sich alles ineinander fügt.
Orchester
Das fein besetzte Orchester unter der Leitung von Christoph Huber spielte sich sehr gekonnt durch die prägnanten Rhythmen. Bei den Solostücken der Darsteller unterstrichen sie deutlich deren Attitüde. Von aggressiv über bedrohlich von traumhaft bis treibend war alles dabei. Sehr oft zu hören war auch das Spiel mit der Lautstärke, wobei die Crescendi manchmal früher hätte ein Ende finden müssen. Vor allem dramatische Endsequenzen waren manchmal überlaut. Aber prinzipiell beherrschen diese Musiker wie auch deren Leitung das ganz große Drama!
Interpretation
Puh, ich weiß,gar nicht, wo ich anfangen soll. Mich hat dieses Stück immens berührt. Es ist immens vielschichtig, so viele Kleinigkeiten fügen sich zusammen. Geniale Darsteller legten mir so viele Gedanken in den Kopf, die sich verknüpften und mir ein so volles Gesamtbild boten: Eine meisterhafte Romanvorlage wurde hier ebenso meisterhaft in Bühnenform gegossen. Wie gießt man die interpretatorischen Gedanken dazu in einen Blog?
Mehr als jedes andere Musical ist dieses Musical eine grandiose Charakterstudie. Zwei so unterschiedliche Figuren auf engstem Raum, daraus entstehen große Spannung, die sich oft in pointierten, schnellen und provozierende Dialoge entlädt. Vor allem Molina treibt diese Schlagfertigkeit oft mit entwaffnender Lässigkeit auf die Spitze.
Fahr zur Hölle!
Da sind wir schon!
Kammerspielartig beobachtet der Zuschauer kurzweilig so diese beiden Charaktere in ihrem Konflikt und ihrer Entwicklung. Ausgangspunkt ist ihre groß angelegte Unterschiedlichkeit, wie sie größer nicht sein könnte:
Gegensätze Molina/ Valentin
Betont weiblich/ betont aggressiv-männlich
Molina ist schwul, dabei auch noch betont weiblich: Er trägt Nagellack und Accessoires. Seine ganze Art, sich zu bewegen und zu sprechen, weisen eher in eine transsexuelle Richtung. Er singt über Marta und bescheinigt ihr großes Glück, eine Frau zu sein (Frau sein). An dieser Stelle kommt diese stille, unterdrückte Sehnsucht Molinas zum Ausdruck.
Auch im Duett mit seiner Mutter wird deutlich, dass er anders ist, als sich das andere Menschen erwarten. Diese Abweichung von der Norm und die damit verbundene Abwertung quälen ihn. Trotzdem trägt er seine weibliche Seite im Gefängnis offen zur Schau und nimmt dafür Demütigungen in Kauf.
Seine Verehrung für Aurora, die Art und Weise, wie er sich in diese Idealbild hineinlebt: Man sieht es in Molinas Gesicht, dass er in dieser Rolle ganz bei sich ist. Seine Blicke für sie sind voll von Faszination, innerem Frieden: Erfüllung.
Ganz anders Valentin, der als betont männlicher Part sehr aggressiv und kompromisslos daherkommt, keinen Sinn und keinen Blick hat für Molinas Gehabe und sich deshalb sichtbar abgrenzt.
Perfekte Oberfläche/ Werte und Ideale
Molina ist Schaufenster-Dekorateur und das sagt alles über ihn aus, was man wissen muss: er hat sich der perfekten Oberfläche verschrieben. Das Äußere muss passen, er singt darüber, dass er dafür den Blick hat (Stil und Dekor).
Sein Beruf ist einen Allegorie auf sein Leben. Molina fühlt sich als Mensch abgelehnt, von der Gesellschaft und im Gefängnis natürlich sowieso. Die Konfrontation mit sich selbst, mit dem wie er ist, verunsichert und schmerzt (Es ist keine Schande). Molina hat sich lieber dem perfekten Schein verschrieben.
Ich habe Stil und Dekor geliebt, weil der Regisseur ein so schönes Bild gewählt hat: Molina erweckt die Schaufensterpuppen nach und nach zum Leben! Die sind nicht leblos und starr, sondern so lebendig wie Molinas Fantasie. Sie sind Molinas Leben. Dort ist er richtig.
Umso tragischer die Szene, als er aus dem Gefängnis entlassen wird und wieder als Schaufensterdekorateur arbeiten soll: Man merkt ihm an, dass er sich damit nicht mehr wohl fühlt. Eher gequält macht er sich an die Arbeit. Doch die Puppe bleibt diesmal eine Puppe. Diesmal erwacht sie nicht zum Leben, sondern bleibt, was sie ist: eine zu dekorierende Oberfläche. Und es wird die passende Frage gestellt: Was hat das Gefängnis mit dir gemacht?
Die gemeinsame Zeit mit Valentin hat tiefer gegraben. Die Oberfläche allein reicht jetzt nicht mehr.
Auch die Beziehung zum Kellner zerbricht nach dem Gefängnis. Sie war ebenfalls nur nur oberflächlich (wir haben nie miteinander geschlafen!).
Dort, wo nur die Oberfläche berührt wird, kann in der Tiefe nichts verletzt werden oder zerbrechen. Alle abfälligen Bemerkungen über ihn treffen diese Oberfläche, aber berühren nicht sein Inneres, nicht ihn als Mensch. So funktioniert sein Leben, das ist seine Überlebensstrategie.
Wenn jemand Molinas Oberfläche durchdringt und an seinen Grundfesten rührt, wenn er dem Schmerz unausweichlich gegenüber steht, dann kommt die Panik: Nicht hinsehen oder hektische Betriebsamkeit helfen ihm, diese Situationen zu überstehen. Und Aurora. Aurora gehört zu dieser Strategie: Aurora ist perfekt und überdies mit all den Gefühlen ausgestattet, nach denen sich Molina so sehr sehnt, sich aber aus Angst nicht erlaubt. Aber sie lebt auf der Kinoleinwand (einer Oberfläche!). Über Aurora lebt er gefahrlos alle Sehnsüchte aus ohne Gefahr einer Verletzung, wie sie im Gefängnis Alltag sind.
Am Ende wird Molina im Gefängnis gefoltert und ich war zutiefst erschüttert, als ich gesehen habe, wie man ihn zugerichtet hat.
Habt ihr sie gesehen, die Wunden in seinem Gesicht? Sie waren als tiefe Schnittwunden zu identifizieren. Sein Gesicht, seine perfekte Oberfläche: zerschnitten! Aber auf die kam es am Ende nicht mehr an.
Mythos Spinnenfrau
Die Spinnenfrau, eine Rolle der Aurora, macht Molina Angst.
Die Spinnenfrau spinnt den Lebensfaden, sie webt diesen Faden weiter für die Menschen und bestimmt so deren Schicksal. In vielen Mythen ist die Spinne deshalb Hüterin des Lebens. Aber sie spinnt auch Netze, um Beute zu fangen. Sitzt die Beute darin, entkommt sie nicht mehr.
Und der Mond wird bleiern.
Zufall wird Gesetz.
Sie wird dich verschleiern
und je mehr du dich wehrst, desto enger das Netz.
Schwarze Spinnenfäden, die dich zu ihr zieh’n.
Du kannst schrei’n!
Doch du kannst nicht mehr flieh’n.
Molina ahnt, dass er schon im Netz gefangen ist. Das verkörpern die zahlreich eingestreuten kurzen Auftritte der Spinnenfrau. Immer wieder erinnert sie Molina daran, dass er ihr nicht entkommt. Voller Angst berichtet Molina Valentin, die Spinnenfrau sei real, er habe sie gesehen im Gefängnis. Natürlich, dort wo Folter und sogar Mord an der Tagesordnung stehen. Dort sitzt auch er. Das Gefängnis ist quasi das Netz. Und Molina muss zusehen, wie etliche Mitinsassen der Spinnenfrau erliegen.
Ich mag die Allegorien des Musicals. Auch den Kuss.
Der Kuss der Spinnenfrau ist tödlich. In Wahrheit besiegelt ein anderer Kuss Molinas Schicksal: Beim Kuss von Valentin werden seine ganzen aufgestauten Gefühle, die er normalerweise durch Aurora auslebt, plötzlich in der Realität erfahrbar! Hier wird die Oberfläche durchbrochen, eine -auch optisch in der Zelle sichbare- Grenze überschritten. Der Schritt hinaus aus diesen engen Grenzen in die Freiheit der Gefühle ist für beide Männer ein großer Wendepunkt. Der Kuss verwebt zwei zunächst in sich selbst verhärtete Lebensentwürfe, eröffnet jedem eine individuelle Freiheit. Aus zwei Fäden wird einer, Molinas endet schließlich.
Die Beziehung Molina/ Valentin
Im Gegensatz zum zarten Molina ist Valentin der physisch grobe und aggressive Part. Valentin ist besessen von seiner Sache, von seinem Kampf. Aber langsam muss er durch Molinas Nachfragen und die Provokationen seine Situation reflektieren. Dabei werden deutliche Risse zu Tage gefördert: So rein lebt Valentin seine hoch zur Schau getragenen Werte in Wahrheit selber nicht: Mit Marta liebt er eine Frau des Klassengegners.
Die Loyalität zu den Genossen ist die oberste Priorität für Valentin, sein Ideal. Schmerzhaft muss er vor sich und Molina eingestehen, dass er diese Loyalität mit der Liebe zur wohlhabenden Martha selbst verletzt.
Loyalität bringt ihm dann aber gleichzeitig Molina bedingungslos entgegen: in einer überaus berührenden Szene kümmert Molina sich um Valentin, als dieser vergiftet wird. Er tut alles, dass Valentin nicht auf die Krankenstation muss, wo er unter Drogen eventuelle Geheimnisse verraten könnte. Der Mann des schönen Scheins überrascht ihn mit dieser Eigenschaft.
Valentin indes zeigt Molina einen Menschen, der bereit ist, offen gegen das System für die eigenen Ideale zu kämpfen. Er zeigt ihm, dass Inhalt, dass Tiefe wichtig sein kann. Dass einem die eigenen Werte tatsächlich einen Wert zuweisen können, der es wert ist, verteidigt zu werden. Dass sie sinnstiftender Teil der eigenen Identität sind.
Die Annäherung beider gipfelt in einer herzerwärmenden Szene: Valentin überschreitet bildlich eine Grenze (die auf dem Zellenboden) und geht auf Molina zu. Warum? Weil ich es will! Der durch ein Ideal einem Kollektiv verhafteten Valentin überwindet Grenzen, öffnet sich etwas/jeamndem abseits seiner eigentlichen Idee.
Die letzte gemeinsame Szene war für mich blanker Horror, intensiv und schockierend: Der geschundene und schon äußerlich zerstörte Molina wird mit dem Tod bedroht. Da stößt Molina hervor: Valentin, ich habe Angst: sieh nicht weg, ich habe Angst.
Die Angst, die Molina ständig ausgeblendet hat mithilfe von Aurora, bleibt jetzt real in seinem Leben. Schau nicht weg!
Als das erste Mal ein gefolterter Mithäftling als Drohgebärde in die Zelle der beiden gebracht wurde, forderte Molina Valentin auf: Sieh nicht hin!
Der Wandel und das damit verbundene Opfer dieses Mannes, der nie hingesehen hat, seine Handballen immer sofort auf die Augen gedrückt hat, um nichts zu sehen, wird so immens überhöht ausgedrückt.
Warum tust du das? fragt Valentin schreiend. Molinas Antwort: Weil ich es will! Es ist das mutigste Bekenntnis zu sich selbst. Eines, wie es zuvor schon Valentin gegeben hat, als sie sich körperlich nahegekommen sind. Genauso auch das das folgende Ich liebe dich an Valentin. Er hat seine Gefühle wahrgenommen, sich erlaubt. Vorher hat er noch gesungen: Ich würde alles für ihn tun! Er hat es getan. Er hat die Oberfläche verlassen. Er bezahlt es tragischerweise mit seinem Leben.
Darsteller
Molina – Drew Sarich
O.K., einmal tief ein- und ausatmen. Als ich letztes Jahr die Ankündigung gelesen habe, dass Drew Sarich Molina spielt, wusste ich, dass ich das sehen muss. Ich hatte die Ahnung, dass ich niemals vorher etwas besseres gesehen haben werde. Und es hat sich bewahrheitet.
Drew hat Molina zu 100% getroffen. Ich merke das immer daran, wenn sich ein Charakter vor mir ausbreitet wie ein offenes Buch. Ich konnte diesen Molina lesen. Er war authentisch, er war mir nah. Ich war absolut gefangen bin im Stück. Molina stand leibhaftig auf der Bühne.
Molina, der tuntige Homosexuelle
Ich liebe es, wie Drew das verkörpert: Seine ganze Körperhaltung und wie er im Sitzen immer rhythmisch seinen nackten rechten Fuß wippen lässt. Die Art, wie er die Hände in die Seite stützt. Überhaupt das Spiel mit den feingliedrigen Finger… Ähnlich wie beim Vampirgraf spielt Drew viel mit den Händen und Fingern, allerdings in einer ganz anderen Art und Weise. Die Geschmeidigkeit setzt sich in seiner Bewegungen im Tanz fort. Er bringt da eine Extravertiertheit mit, die einer sinnlichen Körperlichkeit gerecht wird. Drew sagt, er tanzt nicht gerne. Warum eigentlich, zur Hölle?
Molina, der Angst hat
Angst, ja Panik, ist ein bestimmendes Gefühl in Molinas Leben. Die übertüncht er dick und fett mit Glamour oder mit Aurora. Doch manchmal, wenn sie doch ausbricht, auch dann leide ich mit: Drew lässt Molina sofort beide Handbällen fest gegen die Augen pressen, die Finger weit ausgestreckt. Er möchte nicht hinsehen, er kann es nicht. Dann verkriecht er sich auf sein Bett, verrenkt sich fast, macht sich klein wie ein Embryo und wiegt und schaukelt sich selbst. In manchen Situationen steigert er sein Sprechtempo derart, denn die Situation soll schnell vorbeigehen. Seine Bewegungen werden fahrig, er dreht und wendet sich.
Molina, der Ästhet
Der Schaufensterdekorateur, der Stil und Dekor liebt. Das zeigt er gerne durch lackierte Fingernägel, und dadurch, dass er in der Zelle stilvoll speist: am improvisierten Tisch, gerne mit kunstvoll gefalteten Servietten, wenn vorhanden. Er kann das perfekte Äußere kreieren und macht dabei schon mal einen Handkanten-Knick ins Kissen. Das macht ihn sicher. Die Demütigungen, die seine Lebensart betreffen, prallen an ihm ab. Es ist nur die Oberfläche, an der sich seine Gegner abarbeiten.
Bei aller vordergründigen Lebenslust und seiner ganzen positiven Grundstimmung macht Drew Sarich aus Molina so eine überaus tragische Figur: Man kann seine Einsamkeit förmlich spüren, das ganze Stück über. Nicht mal er selbst dringt ganz zu sich vor. Man kann spüren, wie wenig er eins ist mit sich. Aber wie grandios er aus dieser Einsamkeit herausbricht, als er Valentin das erste Mal berührt: Drew lässt Molina beben vor Glück und Aufregung: Die Stimme zittert, die Hände zittern, sein ganzer Körper scheint in Aufruhr. Das Glück durchströmt ihn förmlich, schon vor der intimen Vereinigung scheint er komplett in Ekstase.
Ich habe zu dieser Art des Spielens einfach eine besondere Verbindung. Es ist, als würde Drew das, was der Charakter ist und will, vollkommen komprimiert auf das Wesentliche, mir zu Füßen legen.
Ich kann diesen Molina in jeder Einzelheit greifen. Ich kann ihn leiden, ich leide mit ihm. Drew macht, dass ich Molina spüren kann.
Muss man auf den Gesang eingehen? Stimmgewaltig wie eh und je schwingt er damit in die höchsten Höhen. Jeden Ton hat er im Griff, füllt ihn aus. Dabei ist die Artikulation makellos, man versteht jedes Wort.
Drew Sarich singt Töne, die genau in mein Ohr passen!
Valentin – Martin Berger
Das Stück lebt vom Gegensatz der beiden Männer und im Zuge dessen lässt Martin Berger Valentin überaus männlich-aggressiv auftreten. Das macht er mit aller ihm zur Verfügung stehender Kraft. Gleichzeitig gelingt es ihm aber auch, in seinem persönlicher Zwiespalt die unterdrückten Gefühle für Marta freizuspielen. Das Musical lenkt das Hauptaugenmerk auf Molina. Aber nur mit einem würdigen Valentin funktioniert dessen Rolle wie gesehen. Martin Berger geht sehr behutsam vor. Er bleibt der körperliche, der harte Part, der auch unter Folter seine Bewegung nie verraten würde. Er beschwört die Revolution, aber er erlaubt sich und auch dem Zuschauer einen Blick abseits des schwarz-weiß Denkens. Die im Gegensatz zu Molina deutlich gröbere Art bringt er bis in die Stimme. Nicht immer konnte ich seine Textzeilen in Gänze verstehen. Das liegt aber auch am Orchester, dass bravourös die Kompromisslosigkeit Valentins auszuspielen versucht, dabei aber auch oft extrem laut ist.
Martin Berger hat seinen Teil zum ungleichen Duo Molina/ Valentin wunderbar gemeistert.
Aurora/ Die Spinnenfrau – Ann Mandrella
Eigentlich verkörpert Ann Mandrella viele Rollen, nämlich alle die, die die Filmdiva Aurora verkörpert hat. Dabei muss man schon zunächst mal ihre Kondition hervorheben, denn die Choreografien sind schon nicht ohne, und dann muss die gute Frau auch noch schön und richtig dazu singen! Sie macht das einwandfrei.
Die Charaktere der Aurora beschwört sie auf die Bühne: Die glamourösen, eleganten Damen, das schillernde Revuegirl, die südamerikanische Sambaqueen. Dabei kann sie tatsächlich sehr subtil die einzelnen Charaktere unterschiedlich darstellen. Fantastisch. Ich mochte sie alle, bis auf vielleicht die Sambatänzerin. Da war mir Ann Mandrella nicht geschmeidig genug. Aber: geschenkt. Sie hat gesanglich und tänzerisch großartiges geleistet.
In einer Szene setzt sie ganz auf ihr Schauspiel:
In der Szene, in der Molina die Geschichte der russischen Sängerin erzählt, die einen ihr ungeliebten Mann heiraten soll und beim Versuch, ihren heimlichen Geliebten zu schützen, umkommt, da hat sie sich selbst übertroffen. Schon der russische Akzent ist zum Niederknien. Mit einer ganz gehörigen Portion Selbstironie spielen sie und Drew diese Szene überhöht dramatisch aus und das machen beide, aber hauptsächlich Ann hier, perfekt.
Richtig magisch gelingt ihr die Spinnenfrau. Ich mag ihre Stimme, besonders in der Tiefe. Grandios gelungen ist deren Attitüde: Verführung, Bedrohlichkeit legt sie da in die Stimme. Gleichzeitig eine leichte Überheblichkeit und Selbstsicherheit. Ich bin immer ganz baff, was man in einer ausgebildeten und so professionell genutzten Stimme da alles raushören kann. Die Spinnenfrau ist greifbar und sieht überdies wirklich großartig aus.
Die Beleuchtung setzt sie am Schluss würdig in Szene:
Allein oben auf der Balustrade stehend steht sie im kreisrunden Scheinwerfer-Licht und ihr Schatten ist in dem so entstandenen Mond deutlich zu sehen: Und der Mond wird bleiern… Dazu diese wunderbare und betörende Stimme – Gänsehaut-Garantie!
Gefangener/ Gabriel, Gefangener/ Aurelio, Gefangener/ Fuentes und noch ein Gefangener: David Rodriguez, Thiago Fayad, Peter Knauder, Carlo Schiavone
Diese vier haben jeweils eine eigene kleine Rolle, unterstützen aber auch als Ensemble Chor und Tänzer. Dabei bewegen sie sich wunderbar und sehen obendrein fabelhaft aus. Diese vier jungen Männer wurden perfekt gecastet und jeder einzelne verdient uneingeschränktes Lob. Besonders angetan hat es mir aber David Rodriguez als von Molina verehrter, verunsicherter Kellner.
Marta – Elisabeth Ebner
Als große Liebe Valentins taucht sie in den Traumsequenzen auf. Dabei ist sie einmal Teil eines unbeschreiblich schönen Quartetts aus Molina, seiner Mutter, sowie Valentin und ihr: Liebes. Die vier Singstimmen harmonieren dabei ganz außergewöhnlich gut.
In einer anderen Szene buhlen die Spinnenfrau und Marta um den am Boden liegenden, verletzen Valentin. Die Spinnenfrau umgarnt ihn(ich bin wunderbar), möchte ihn küssen, aber Marta setzt ebenfalls ein ich bin wunderbar dagegen. Elisabeth Ebner gefällt in dieser Rolle mit großer Natürlichkeit und wunderbarer Stimme.
Molinas Mutter – Andrea Huber
Sie ist die einzige Liebe in Molinas Leben, seine Konstante und seine Sicherheit. Sie ist das Einzige, wonach er sich sehnt. Denn als einzige steht sie zu ihm und seiner Art: Es ist keine Schande, einen Weg zu gehen…
Andrea Huber legt viel Gefühl in Spiel und Stimme. Man hört Hoffnung, die sie ihrem Sohn vermitteln will.
Ballett
Oft erwähne ich in meinen Rezensionen nur die Hauptpersonen. Aber ich komme nicht umhin, die Tänzer der Produktion zu loben. Die Ästhetik, mit der sie die Choreografien vertanzt haben, diese wunderbaren Bewegungen! Ich bin versunken darin. Die ganzen körperlichen Energien, die Präzision der Bewegungen, der Rhythmus… ich bin immer noch hin und weg.
Fazit
Oh mein Gott! Das war das berührendste Stück, das ich je gesehen habe.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass das anderen Menschen anders geht. Das Stück ist nicht einfach und schon allein des Themas wegen nicht jedermanns Geschmack. Aber ich hoffe, ich konnte zum Ausdruck bringen, dass schon allein die Vielschichtigkeit des Musicals mich persönlich total mitgerissen hat. Und dann war auch noch die Umsetzung nahezu perfekt. Bühne und Kostüm, Musik und Darsteller: alle zusammen haben eines der gelungensten Musicals, das ich bis jetzt sehen durfte, auf die Bühne gebracht. Eine tiefe Verbeugung vor dem Mut der Bühne Baden, dieses Stück zu bringen und vor dem Regisseur, der genial gearbeitet hat. Mein Dank geht überdies an die Darsteller für ihre außergewöhnlichen Leistungen. Ich muss das nochmal sehen!
Fotos: Dr. Joachim Schlosser Fotografie
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