Diese Rezension wird für mich eine große Herausforderung – und für den Leser möglicherweise auch. Wonderful Town, ein Musical mit der Musik von Leonard Bernstein, ist in der Volksoper Wien augenscheinlich exzellent gemacht, hat mir aber trotzdem nicht gefallen. Dass das kein Zwiespalt sein muss und dass bei aller Brillianz der Volksoper Geschmäcker dennoch verschieden sind, versuche ich euch zu erklären.
Das Stück – Inhaltszusammenfassung
Die Landeier Ruth und Eileen hat es von Ohio nach New York verschlagen, um dort groß raus zu kommen. Die Schwestern könnten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein: Die herbe, aber großartig schlagfertige Ruth möchte als Journalistin arbeiten, die hübsche und umgängliche Eileen erhofft sich den großen Durchbruch als Schauspielerin/ Tänzerin/ Sängerin. Sie kommen in einer eher schäbigen Souterrain-Wohnung unter, in der vorher eine Dame im horizontalen Gewerbe gearbeitet hat. Dies führt zu der einen oder anderen amüsanten Verwicklung.
Während Eileen zwar Pech bei diversen Castings hat, ist ihr Erfolg beim männlichen Geschlecht durchschlagend. Ruth versucht ihr Glück bei verschiedenen Magazinen und Verlagen, wird aber ebenfalls stets abgewiesen. Einzig Robert Baker vom Manhattan Magazine wirft einen Blick in ihre Geschichten. Er attestiert ihr Talent, rät ihr aber, über Dinge zu schreiben, die sie selbst erlebt hat.
Exakt diesen Robert Baker gabelt später Eileen auf und lädt ihn ins traute Heim ein. Dort trifft Robert Baker dann auf den schmierigen Zeitungsmacher Chick Clark, der es auf Eileen abgesehen hat, und auf Frank Lippencott, den Leiter des Supermarktes um die Ecke, dem die reizende Eileen ebenfalls den Kopf verdreht hat. Drei Männer und zwei Frauen: Die Party endet ernüchternd, Robert und Frank suchen das Weite. Chick Clark möchte mit Eileen alleine sein und fingiert eine Anruf: Ruth soll sofort am Hafen eine Story über Kadetten eines brasilianischen Militärschiffes schreiben. Diese lassen sich aber nicht interviewen, doch trotz sprachlicher Barrieren wird klar, dass die Matrosen nur Conga tanzen wollen. Sie folgen der engagierten, aber bald überforderten Ruth durch die Stadt nach Hause, wo sie auf Eileen treffen, die inmitten des Chaos schließlich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet wird.
Nachdem im ersten Akt so ziemlich alles schiefgegangen ist, was schiefgehen kann, verknüpft der zweite Akt nach weiteren Verwirrungen nach und nach alle Enden versöhnlich: Auf der Wache liegen die Polizisten Eileen zu Füßen, und als die Schwestern nach Eileens Entlassung sinnieren, dass es doch besser wäre, nach Ohio zurückzugehen, taucht Chick Clark auf. Er bietet Ruth, die zwischenzeitlich mit einem Werbeschild um den Hals ihr Geld verdienen muss, einen festen Job an. Ihr Artikel hat eingeschlagen wie eine Bombe, nicht zuletzt wegen dem Aufruhr, den Eileen verursacht hat. Diese wird im angesagten Klub Village Vortex engagiert, hat der Klubbesitzer doch ihr Showtalent erkannt und weiß auch mittlerweile um deren Ruf als Kassenmagneten. Ruth und Robert Baker, der wegen einer engagierten Rede für Ruth bei seinem Chef seinen Job verloren hat, werden – mit einem kleinen Schubs von Eileen – ein Paar.
Die Musik
Die Musik, die Leonard Bernstein für Wonderful Town komponiert hat, fasst sich selbst zusammen in einer großartigen Ouvertüre. Ein Blick auf eben jene sagt schon alles aus, denn sie hat es in sich. Sie zeigt genial, was eine Overtüre ist und wozu sie da ist: als Einstimmung auf das zu Sehende. Vorneweg: Ich habe über New York gehört und gelesen, aber ich war tatsächlich noch nie da. Zumindest nicht physisch. Denn mit den Ohren war ich an diesem Tag wohl doch über den großen Teich geflogen.
So stelle ich mir New York vor. Das Intro beginnt mitreißend und bläserlastig und pendelt zwischen coolen Blues- und schnellen Foxrhythmen:
Es flutscht, es läuft, es verharrt kurz. Von schnell, hektisch und getrieben reicht die Rhythmusvielfalt bis ruhigen Abschnitten, Crescendi wechseln mit Decrescendi. Ein bunter Trubel gleitet sanft in einen harmonischen Fluss und ich saß mittendrin und wusste: so ist New York. Aber es ist mitunter auch eine Allegorie auf das Leben: es flutscht, es läuft, es verharrt kurz. Es swingt harmonisch, pulsiert und hadert. Fanfarenartig überschäumende Höhepunkte treffen auf hektischen Alltag und ruhigere Verschnaufpausen.
Diese Ouvertüre war ein grandioser Auftakt. Das Orchester der Volksoper unter Dirigent James Holmes hat diesen Auftakt genutzt und sämtliche Register gezogen. Charakterstark fällt mir da als Adjektiv ein.
Kurz zusammengefasst: Die Einleitung war fantastisch. Ich mag die vielen Bläser und wie Bernstein den Zuschauer in diesem Fall zunächst zum Zuhörer werden lässt, der sich die Szenerie zunächst im Kopf zurecht legt anhand dem musikalischen Auftakt. Ich war sofort mittendrin in der Szenerie. Ein ganz großes Bravo für eine Ouvertüre, die ihren Namen verdient hat!
Auch im weiteren Verlauf experimentiert Bernstein sicher mit den Rhythmen, wechselt schnell und langsam, sanft und laut. Er bleibt dabei im BigBand-Stil: Blas- und Rhythmusinstrumente tragen die Hauptlast. Und trotz aller Vielfalt an Melodieideen bleibt er seiner Linie treu: Es swingt. Anhänger dieser Musik werden vollkommen beseelt nach Hause gehen, den sie geht zielgerichtet ins Blut und umfängt einen schnell.
Und sie erzählt. Wenn die beiden Schwestern an ihrem ersten Morgen in der Wohnung aufwachen und Ruth voller Elan aus dem Bett hüpft, dann ertönt zum Beginn des Liedes eine fanfarenartig aufmunterndes Solosequenz eines Blechblasinstruments. Auf geht’s, Ruth und Eileen, ruft sie Ihnen zu! Ich mag das außerordentlich, darum ist es für mich eher schade, dass dieser genialen, erzählenden Musik die Geschichte hinterherhinkt.
Das lateinamerikanisch angehauchte Conga bringt immensen Schwung und rhythmische Abwechslung.
Aber auch die „100 goldene Tipps, einen Mann zu verlieren“ fallen ein wenig aus dem Rahmen: Es wechseln sich Gesang und Sprechen ab: immer, wenn Ruth romantische Situationen beschreibt, singt sie weich und harmonisch, unterbricht dann aber, und erzählt, was genau man – sie – in dieser Situation falsch machen würde. Das unterstützt durch die Vorhersehbarkeit nur zu gut die Komik: am Beginn jeder Strophe fragt man sich, wie sie es diesmal wohl versauen wird. Ein großer Spaß, wie die dazupassenden Melodien!
Die Inszenierung der Volksoper
Das Bühnenbild (verantwortlich: Mathias Fischer-Diskau) ist aus meiner Sicht durch und durch gelungen. Der Wechsel zwischen den hohen Wolkenkratzern New Yorks und der schäbigen Souterrainwohnung ist hervorragend kombiniert.
Die beiden Mädls kommen aus dem kleinstädtischen eher engen Ohio und suchen in New York Freiheit und Erfolg. Und schon der Zuschauer bekommt über das Bühnenbild die Idee, dass das mit der Freiheit in dieser Stadt nicht unbedingt funktioniert, da man sich mit den vielen Wolkenkratzern um einen rum schon auch eingeengt fühlen muss. Dazu kommt die Wohnung, wo man ebenfalls immer den Blick nach oben richten muss und eben nicht auf Augenhöhe mit den anderen ist.
Ich mochte in dem Zusammenhang das Spiel mit der Baustelle der U-Bahn, die zwar auf der Bühne nie sichtbar ist, aber unterschwellig immer wieder auftaucht. Auch bei den beiden Schwestern ist noch einiges im Rohbau und möglicherweise muss altes Gedankengut, alte Fesseln und Ideale erst mal gesprengt werden, um etwas Neues zu erschaffen.
Diese wunderbare Aufbauten wurden auch ausgiebigst genutzt. Regisseur Matthias Davids hat es genial verstanden, die Bühnen in Sekundenschnelle zu bevölkern. Jeder einzelne Mitspieler war dabei durchdacht präsent und mit viel Liebe zum Detail sowohl im Kostüm als auch in Gestik und Mimik. Genauso schnell, wie Menschen auf der Bühne zusammenfanden, so schnell hat sich die Bühne auch wieder über toll choreografierte Laufwegen entvölkert. So wurde dieses großartige Ensemble wohldosiert eingesetzt. Die Choreografien von Melissa King waren einfallsreich und dem Show- bzw. Revuecharakter des Musicals gemäß überbordend und spritzig und haben so das Herz der Show getroffen.
Besonders erwähnenswert dabei das Stück Swing, für das ich alleine schon stehenden Applaus gespendet hätte. Natürlich hat das Wiener Staatsballett diese sicher und exzellent ausgeführt.
Der Ton war gut, allerdings war ich sehr überrascht, eine derartige Lautstärke in der Volksoper vorgesetzt zu bekommen. Es war wenige Male haarscharf am „zu laut“, passte aber zum Charakter des Stückes.
Die Darsteller
Ruth Sherwood, Schriftstellerin: Sarah Schütz
Man kommt nicht umhin, dem herausragende Gesangs- und Showtalent von Sarah Schütz ausgiebig Tribut zu zollen. Auch ich nicht. Es ist begeisternd, mit wieviel Energie sie ihre Ruth ausstatten kann und diese bis zum Schluss hält. Sie hat ihren Charakter so weit ausgestaltet, wie die Vorlage sie ließ. Und die Figur an sich ist schon einzigartig. Ihre trotzige Schlagfertigkeit und wie sie mit großen Gesten und lauter, tiefer Stimme den Widrigkeiten ihres Lebens begegnet und diese versucht zu relativieren, zeugt schon von großem Drama. Ihre betonte Souveränität verbirgt ihre große Unsicherheit und dieser Zwiespalt ist wunderbar von Sarah Schütz herausgearbeitet worden. Sie besitzt eine überragende Präsenz, die sie durch ihr großes Spiel noch passend stützt. Mir war das zu viel, ich verstehe aber durchaus, dass das so gewollt ist und in diesem Sinne Sarah Schütz eine Meisterleistung abliefert.
Spannend für Musiktheaterliebhaber ist auch die Tatsache, dass in diesem Fall eine Altstimme die Hauptrolle innehat. Das klang in meinen Ohren exotisch, aber hinreißend. Überragend auch ihre Bewegungen in allen durchchoreographierten Teilen, auch hier muss Swing als Referenz unbedingt genannt werden. Eine herausragende Leistung.
Eileen, ihre Schwester: Olivia Delauré
Eileen ist blond und süß und unbedarft. Naiv ist sie nicht, das arbeitet Olivia Delauré schön heraus. Ich glaube, Ihr ist schon auch klar, welche Wirkung sie auf Männer hat. Sie kokettiert aber nicht damit, fordert es auch nicht heraus. Aber sie nimmt wohlwollend und freudig, teils auch amüsiert und leicht an. Dass dieses leichte Annehmen und ein „es ist ihr nicht bewusst“ ziemlich eng nebeneinander stehen und nur schwer unterscheidbar ist, ist mir schon klar. Es darf deshalb so oder so interpretiert werden. Ich fand Eileen der Welt und vor allem sich selbst und ihrem Leben sehr zugetan. Vielleicht auch ein Grund dafür, dass es bei ihr – zumindest in Sachen Männer – ein wenig leichter läuft.
Sie singt, dass sie ein kleines bisschen verliebt ist, nach der Szene, in der sie Robert Baker kennenlernt. Aber ich habe das jetzt nicht zwingend auf Baker bezogen. Ich habe das so interpretiert, dass sie immer ein kleines bisschen in jemand verliebt ist, vielleicht ist sie auch ein bisschen in die Situation verliebt, dass ihr alle zu Füßen liegen. Da zeichnet Olivia Delauré das Bild sehr feingliedrig differenziert. Auch sonst hat sie ihre Figur fest im Griff: Unaufgeregt legt sie eine ganz leichte Unbeschwertheit auch in der Bewegung an den Tag (so zum Beispiel bei Conga), dass sie perfekt die versteckte Schwermütigkeit ihrer Schwester ausgleicht. Stimmlich ist sie wunderbar und angenehm zu hören und harmoniert mit ihrer Bühnenpartnerin perfekt. Mir war diese Figur deutlich näher.
Robert Baker, Redakteur: Drew Sarich
Ihr wisst, ich bin Drew–Fan allererster Güte. Und gerade deshalb, dass man mir nicht blindes Fan-Sein unterstellt, begründe ich mal wieder ausführlich:
Zum einen ist Drew perfekt besetzt, denn ich kenne niemanden, der so schön und phonetisch aussagekräftig New York sagt (mit unverwechselbarem Rrrrrr). Da hat er nun mal den entscheidenden Muttersprachler-Vorteil. Und dann kommt er auf die Bühne, und ohne, dass ich etwas über das Stück und Robert Baker weiß, offenbaren sich mir mehrere Charaktereigenschaften dieser Person nur durch seine Haltung: Er hat die Hände in den Hosentaschen. Für mich schon mal Zeichen dafür, dass er weniger der Macher ist. Eher der, der gezwungen wird, stillzuhalten, aus welchen Gründen auch immer. Der – wie seine Hände aus den Taschen – nicht so wirklich rauskommt. Den Kopf hat er ein bisschen nach vorne geschoben und die Schultern ein wenig hochgezogen.
Wenig frei sieht er aus, angespannt. Dazu passt später im Stück sein Lied Stilles Girl. Das braucht er. Und wie Drew selber interpretiert, braucht er kein leises Mädchen, sondern eines, das ihn hört, erkennt. Er sucht Anerkennung und Verständnis. Eine Frau, die ihm Platz einräumt, um aus sich herauszukommen und ihn unterstützt. Das singt er mit großer Sehnsucht in der Stimme. Und mit großer Unsicherheit: Gibt es das für ihn? Und mit dieser Unsicherheit ist er wieder ganz bei Ruth, die das ebenfalls kennt.
Im Clinch mit Ruth ist er famos. Denn er ist da ganz bei sich. Wenn Ruth ihn anblafft in ihrer Wohnung, dann ruft er ihr hinterher: Ruth… Ruth…! Eben nicht ärgerlich. Sondern unverstanden. Sehnsuchtsvoll. Drew belässt Robert Baker sehr behutsam in seiner Rolle. Es braucht einige Zeit und Reiberei, bis die Fronten geklärt sind. Das mit der Erkenntnis des Verliebens geht alles ein wenig schnell, da hätte ich ihm mehr Bühnenzeit gewünscht. Allerdings zeigt er im Lied Verliebt seine Entwicklung so schön: zunächst steht er noch steif und in sich gefangen da. Beim zweiten Verliebt erlaubt er sich dann schon einen Blick zur Seite und einen Schritt vorwärts. Und wenn ihn die Erkenntnis dann überfällt, wenn er es tief in sich wahrnimmt, das Verliebt-sein, dann streckt er die Hände, die er so weit in den Hosentaschen vergraben hatte zu Beginn, weit aus. Da nimmt er sich Raum, da nimmt er den Raum um sich wahr.
Drew Sarichs Schauspiel war wie immer eine große Freude. Seine besondere Stimmfarbe ist auch hier wieder ein Garant für Gänsehaut.
Jetzt kommt der Fangirl-Teil: Ich mag den Look mit den vollen Haaren und wie er sich mit den Händen immer wieder durchfährt. Ich mag die Art, wie er sich bewegt, zum Beispiel, wenn er im Büro vom Stuhl springt, oder wie er am Ende mit Sarah Schütz nach dem Schlussapplaus noch tanzt. Hach!
“The Wreck“ Loomis, Footballspieler und seine Verlobte Helen: Marcus Günzl und Juliette Khalil
Marcus Günzl gibt sein Volksopern-Debüt und zeigt den abgehalfterten Footballspieler in entwaffnender Einfachheit, aber mit Herz. Dazu hat er eine glänzende Solonummer. Mir hat sich zwar nicht erschlossen, wie die sich in den Inhalt einfügt, war aber superb und mit viel Rampensau-Charisma gespielt. Richtig herzig ist er im Zusammenspiel mit Juliette Khalil, die seine ebenfalls einfach gestrickten Freundin spielt. Sehr sympathisch und den Charakteren entsprechen erfrischend schlicht haben beide ihre Figuren dargestellt.
Frank Lippencott und Fremdenführer: Oliver Liebl
Der sehr ruhig, aber beständig um Eileen buhlende, unscheinbare Supermarktleiter gehört zu den stilleren Figuren und hat es mir vielleicht deshalb besonders angetan. Ich mag, welche Wirkung Eileen auf ihn hat. Er kann nicht mit wirklich viel punkten, außer mit den Sonderangeboten seines Ladens. Das ist ein feiner Running Gag, für mich aber noch weitaus mehr. Es rührt mich, Dass er dabei so mutig und hartnäckig bleibt trotz der großen Konkurrenz. Es macht ihn zur positiven, sympathische Konstante im Stück. Oliver Liebl macht das bezaubernd. Beim Lesen des Programmheftes habe ich festgestellt, dass er auch den Fremdenführer in der Auftaktszene – ein gänzlich anderer Charakter – dargestellt hat. Das finde ich immer wieder höchst eindrucksvoll, wenn Schauspieler den Spagat zwischen zwei Rollen so glatt hinbekommen. Es ist Ihr Beruf, das weiß ich, und dennoch ist es mir hier einige Zeilen wert. Toll gemacht!
Warum mir Wonderful Town dennoch nicht gefallen hat
Es klingt wirklich ein wenig verquer, aber gefallen hat mir das ganze trotz allem nicht. Komisch, oder? Da kann ich so viele Worte verlieren über die Brillanz, die die Volksoper da abgeliefert hat. Und dennoch geh ich persönlich enttäuscht nach Hause.
Ich hab mir jetzt lange Zeit gelassen, um das zu sortieren, und komme zu folgendem Schluss:
Musical verbindet Schauspiel und Musik zu einem Ganzen. Menschen sind unterschiedlich und gewichten und priorisieren Dinge anders. Im Zwiegespräch mit der brillanten Kulturwoelffin, die mal wieder meine Begleitung war, kam dabei auch ans Licht, dass ich ein Mensch bin, der über die Geschichte kommt. Mir ist der Gesamteindruck und die Stringenz, den die Geschichte hinterlässt, wichtiger, als der, den die Musik transportiert. Die Musik hat mir hier sehr viel vermittelt, aber das Storytelling kam dem nicht hinterher. Es geht nicht tief genug, als dass es mich berührt hätte. Deshalb habe ich mich über weite Strecken schlicht und einfach gelangweilt.
Die Geschichte und ich
Mir ist die Geschichte zu banal, zu unausgereift, zu wenig tief erzählt. Ich empfinde sie als zu laut und zu übertrieben, um ehrlich und authentisch zu wirken. Die Buchautoren Joseph Fields und Jerome Chodorov wollten natürlich ihre Geschichte genau so erzählen, und ich möchte und darf die Autoren darin auch nicht kritisieren. Es geht hier um die Lust an der Unterhaltung. Das ist gerechtfertigt. Ich tu mich schwer, mich auf so etwas einzulassen. Aber wie schon gesagt: das ist etwas, was ich persönlich mitbringe: die Lust am Tiefgang. Dass dieser hier oft fehlt, darauf war ich nicht vorbereitet und insofern enttäuscht.
Dabei war die Ouvertüre so vielversprechend. Sie hatte den Tiefgang, sie lockte mit lauten und leisen Tönen, mit Vorwärtstreiben und Innehalten. Sie war vielschichtig, mitreißend und spannend.
Aber der erste Akt zog sich: Mit 1 1/2 Stunden ist er objektiv im Vergleich zu anderen Werken sehr sehr lang und er konnte die Spannung, die die Ouvertüre mit ihrem Auf und Ab, ihrem Laut und Leise aufgebaut hat, über diese Dauer nicht halten.
Das Lied über Greenwich Village ist spannend. Ich fühlte mich mittendrin, auch, weil der Auftritt durch den Seiteneingang stattfand und die Reisegruppe quasi durchs Publikum marschierte. Darüber hinaus war es schillernd und bildete das Viertel auch für den Zuschauer nachvollziehbar ab.
Danach geht es zunächst um das Vorstellen der Charaktere, um einen ersten Einblick, wer für was steht. Das klappt für Ruth und Eileen wirklich gut. Wenn sich beide Schwestern, ihre Träume und Ziele im Lied Ohio, vorstellen, dann klingt das ruhig, und nachdenklich, auf alle Fälle aber ehrlich und authentisch. Ruths 100 goldene Tipps, einen Mann zu verlieren passt ebenfalls perfekt in den Reigen.
Dann allerdings wird es schwieriger, zumindest für mich. Robert Bakers Lied finde ich schwach, und wenn nicht ein durch und durch großartiger Drew Sarich famos aufgespielt hätte (genaueres gab es schon in der Darstellerkritik), wäre mir dieser Charakter noch deutlich fremder geblieben als er es ohnehin schon war. The Wreck ist eine witzige Nebenfigur mit eigenem Handlungsstrang. Sein Lied ist zwar toll dargeboten, stellt den Charakter vor… aber wie viele folgenden Lieder geht es nicht tiefer als die Anfangslieder. Man hat deshalb das Gefühl, dass die Geschichte auf der Stelle tritt. Es entwickelt sich nicht: die Figuren nicht, die Geschichte nicht und die Spannung nicht. Deshalb zieht sich für mich der erste Akt zieht wie Kaugummi.
Es gibt einiges an Humor auf, der aber oft in die selbe Kerbe schlägt. Die in meinen Augen beste Szene ist die, als Sprachlosigkeit herrscht zwischen den drei Männern und den Schwestern in der kleinen Wohnung. Beinahe wortlos wird darin mehr über die Menschen im Stück erzählt als in den restlichen knapp drei Stunden. Jeder einzelne Darsteller nutzt diese Szene aber auch grandios.
Ich würde den ersten Akt als oberflächlich charakterisieren, denn er bildet hauptsächlich beschreibend die Szenerie ab. Es war für mich eher eine Revue denn ein Musical. Zuwenig entwickeln sich die Figuren mit der Geschichte, deshalb wirkt es für mich oft einfach wenig authentisch. Im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass das Plakat, mit dem Wonderful Town beworben wird, schon sehr viel über die Art des Stückes aussagt und insofern als Plakat genial gemacht ist: Bunt und laut und sehr explizit in der Mimik.
Im zweiten Akt, wenn die Erzählstränge ineinanderfließen und sich verbinden, da fand ich stellenweise den Tiefgang, den ich persönlich brauche. Durch das Verknüpfen der losen Enden bekomme ich auch unausgesprochene und nicht explizit dargestellte Einblicke in die Akteure: Auf dem Polizeirevier liegen der wegen Unruhestiftung verhafteten Eileen sämtliche Polizisten zu Füßen. Diese Szene ist absolut köstlich. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich das Ensemble loben, das über das ganze Stück hinweg wirklich großartig zusammenspielte.
Diese Szene hat ebenfalls wenig Tiefgang, und ist nur einweiterer Beleg für die These, wie die unbefangene reizende Eileen ungewollt die Männer um den Finger wickeln kann (Häng doch bitte mal das Kleid in meine Zelle…). Aber es wird gezielt selbstironisch auf die Spitze getrieben, darum macht Darling Eileen immense Freude. Und der Chor singt es Weltklasse!
Prinzipiell fehlen mir leisere Momente, zum Beispiel bei Ruth. Natürlich erhalte ich eine Einblick in ihr Seelenleben, aber er könnte einfach noch deutlich vollständiger ausfallen. Ich mag die Szene, als Robert sie entdeckt, als sie mit dem Werbeschild für das Vortex Village um den Hals auf der Straße steht. In dieser kurzen Sequenz, wo sie ertappt erscheint, blitzt ihre ganze Unsicherheit auf, bevor sie wieder laut und schlagfertig eine Erwiderung auf Lager hat. Da bemerkt der Zuschauer, dass ihre Art einfach nur ein Schutzschild ist, aus Angst vor der immer wieder erfahrenen Zurückweisung. Mit dieser hübschen Schwester, die in Sachen Männer einfach immer die Nase vorn hat, kann man die übliche Zurückweisung einfacher ertragen, wenn man selber ein bisschen mithilft, zurückgewiesen zu werden, oder das flapsig zur Seite schiebt.
Eileen hat meiner Meinung nach viel zu wenig Raum. Die Konzentration auf Ruth in der Geschichte und auf Sarah Schütz in der Inszenierung ist gewollt und gefällt dem Großteil der Zuschauer sichtlich, weil Ruth einfach ungewöhnlich erscheint und als Energiebündel alle Blicke auf sich zieht. Weil sie dem Strudel des Lebens auf Ihre ganz eigene Art begegnet. Von ihrer Schlagfertigkeit würde man für sich selbst auch hin die wieder gerne eine Scheibe abschneiden. Ich persönlich fand den Charakter und seine Eigenheiten aber relativ schnell ausgereizt – trotz aller Brillanz von Sarah Schütz.
Ich finde Eileen sehr viel mehr beachtenswert. Durch ihre eher unscheinbarere Art im Vergleich zu ihrer Schwester möchte ich ihr lieber folgen und sehen, was es zu entdecken gibt. Insofern hat sie mir viel besser gefallen. Aber zur Entfaltung ihres Charakters jenseits von Unbedarftheit und Unbekümmertheit bietet auch ihr das Musical zu wenig Platz. Dabei ist es wunderbar, die leise Annäherung an Robert Baker zu beobachten: Innerhalb einer Szene wird aus Mr. Baker zunächst ein freundschaftliches Robert und dann ein vertrautes Bob. Auch die Beziehung der beiden Schwestern wird nicht sehr stark beleuchtet.
Oh je, so viele Gedanken über ein Stück, das möglicherweise einfach nur unterhalten will. Wer im Theater genau das sucht, wird hier phänomenal bedient. Aber das bin einfach nicht ich. Insofern bin ich da mit falschen Vorstellungen reingegangen. Dabei kann ich sogar verstehen, dass andere das anders sehen. Die Kulturwoelffin zum Beispiel ist mehr als angetan und ich kann das aus ihrer Sicht auch verstehen. Die Musik ist wirklich toll, und die Anstrengung aller ist offensichtlich.
Nochmal zur Klarstellung: Das ist nicht den Akteuren anzulasten und schon gar nicht der Inszenierung.
Ich freue mich, dieses Werk gesehen zu haben. Es hat mich herausgefordert und mich zum Nachdenken gebracht. Und es hat meinen Mut herausgefordert, öffentlich zu sagen, dass mir das einfach nicht gefallen hat. Und es hat mir die Herausforderung gebracht, einen Artikel zu schreiben, in dem ich darstellen konnte, dass ein schlichtes Nichtgefallen durchaus gut sein kann, um nicht nur über das Stück, sondern auch über sich selbst nachzudenken.
Fazit
Die Inszenierung von Leonard Bernsteins Wonderful Town in der Volksoper Wien verdient vollstes Lob. Orchester, Regie und Akteure agieren auf höchstem Niveau. Die Produktion wird mit Sicherheit viele Fans gewinnen, und ich spreche deshalb eine unbedingte Empfehlung aus an Menschen, die…
- Swingmusik mögen,
- brillante Darsteller sehen wollen,
- ein bisschen Sitzfleisch mitbringen,
- sich vom Orchester mitreißen lassen können,
- sich drei Stunden blendend unterhalten lassen wollen.
Aber auch Menschen wie ich, die eher über die Geschichte in ein Musical eintauchen, fordere ich auf, euch das anzusehen. Vielleicht seht ihr mehr als ich, vielleicht seht ihr das ja trotzdem anders, vielleicht fordert es euch auch heraus! Ich persönlich wäre in einem Konzert mit eben diesen Melodien besser aufgehoben gewesen, da mich die Figurenzeichnung gelangweilt und der Fortgang der Story eher irritiert hat. Trotzdem Danke an die Volksoper für einen äußerst interessanten Abend!
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