Nach vier Monaten Zwangspause führte mich mein erster Kulturausflug auf die Freilichtbühne meiner Heimatstadt. Unter Einhaltung der momentanen Hygiene-Bestimmungen (Tragen eines Mund-Nase-Schutzes, Abstandsregeln und begrenzte Spielzeit ohne Pause) gab es an der Stelle, wo in diesem Jahr Kiss me, Kate Premiere hätte haben sollen und das Fugger-Musical Herz aus Gold zur Wiederaufführung gelangen sollte, eine eigens zusammengestellte Musical-Gala mit den für diesen Sommer verpflichteten Sängerinnen und Sänger. Unter dem Titel The Show Must Go On sangen sich die Darsteller durch die Welt des Musicals, lieferten nachdenklich-ruhige, energetisch-powervolle, pathetisch-erhabene und ausgelassen-feiernde bis charmant-liebevolle Momente.
Alexander Frantzen, ursprünglich verpflichtet als Hauptakteur in Kiss me, Kate, hob in seiner Moderation die Mühen und den unbedingten Willen des Theaters und ihres Intendanten Andre Bücker hervor, diese Gala an dieser Stelle zu diesem Zeitpunkt ins Leben zu rufen. Mit 17 Gast-Solisten und einem Liveorchester lieferte das Staatstheater Augsburg ein klares Bekenntnis zu Kunst, Kultur und allen Kulturschaffenden. Franzen proklamierte, Kunst sei alternativlos und unbedingt erhaltenswert als Teil einer funktionierende Gesellschaft: für ein stimmiges gesellschaftliches Gesamtbild müsse jedes Puzzleteil an ihrem Platz sein – auch das Puzzleteil Kultur – und zitierte einen Satz aus dem später von Chris Murray dargebotenen Lied Sternenstaub (Musical Einstein)
Es ist alles verbunden
ist untrennbar
ist eins
Liederliste
- The show must go on
- Kiss me, Kate-Medley
- Mylady ist zurück (3 Musketiere)
- This is the moment (Jekyll&Hyde)
- Superstar (Jesus Christ Superstar)
- A whole new world (Aladdin)
- All that Jazz (Chicago)
- One day more (Les Miserables)
- Sweet Transvestite (Rocky Horror Show)
- Mamma Mia (Mamma Mia)
- The winner takes it all (Mamma Mia)
- Sternenstaub (Einstein)
- One night only (Dreamgirls)
- Nach oben (Herz aus Gold)
- Du durftest mich nicht zwingen (Herz aus Gold)
- Wo bin ich geblieben (Herz aus Gold)
- Herz aus Gold (Herz aus Gold)
- Zugabe: You’ll never walk alone (Carousel)
- Zugabe: Time Warp (Rocky Horror Show)
Ich muss sagen, ich habe einen wirklich phantastischen Abend verlebt. Ich bin an sich nicht so der Musical-Gala-Gänger, mir persönlich ist die durcherzählte Geschichte immer lieber als einzelne dargebotenen Songs.
Aber: Ich war wirklich beeindruckt von der Liederauswahl. Sie erschien für diese Veranstaltung zu dieser Zeit unter diesem Motto Show must go on perfekt und für die vortragenden Künstler auch passgenau zusammengestellt.

Dem titelgebenden Queen-Klassiker, in dem schon Gänsehaut aufkam ob der Ensemble-Stimmen, die hervorragend zueinanderpassen, folgte das Stück Mylady ist zurück aus 3 Musketiere. Als Titel eine Kampfansage stellvertretend für das ganze Theater, also eher ein Wir sind zurück und für Katja Berg ein sehr persönliches Statement, spielte sie doch zuletzt seit November 2019 die Mylady in Magdeburg.
Alexander Frantzen beschwörte This Is Moment, der sich ihm bietet und man hat so die Ahnung, dass er nicht nur die große Stunde des Dr. Henry Jekyll aus dem Musical besingt, sondern vor allem den großen Moment der Künstler, die endlich wieder – wenn auch eingeschränkt – ihrer Leidenschaft und ihrem Broterwerb nachgehen dürfen. Mit Superstar folgt ein Klassiker aus Jesus Christ Superstar, das letztes Jahr auf der Freilichtbühne am Roten Tor gegeben wurde. Im Ausblick auf nächstes Jahr folgt mit All that Jazz dann ein Appetizer auf Chicago.
Superstar setzt ganz gekonnt auf den Wechsel zwischen den lauten provozierenden Solopassagen von Murray und den Zeilen, die den Soulgirls vorbehalten sind und leise, unsicher, nachfragend klingen. Interessanterweise wurde hier zeitweise das Männerensemble eingesetzt, was eine spannende Dynamik ergab.
Aus Les Miserables ertönt danach die Hymne, die die individuellen Hoffnungen alle Beteiligten unter einen Hut bringt: One day more und auch hier hat man das Gefühl, dieser Song wurde nicht nur aufgrund seiner Qualität (für mich das überhaupt beste, jemals für Musiktheater komponierte Stück überhaupt), sondern aufgrund der Unsicherheit in dieser besonderen Situation ausgewählt.
Nach dem Rocky-Horror-Klassiker Sweet Transvestite wechselten in der zweiten Hälfte (es wird ohne Pause gespielt) dann geschickt große Ohrwürmer wie Mamma Mia und The winner takes it all (Katja Berg gehörte zur Premierenbesetzung von Mamma Mia in Hamburg) mit dem einem breiten Publikum eher unbekannten Sternenstaub aus dem Musical Einstein von Stephan Kanyar. Der Komponist hat nicht nur dieses Musical und Herz aus Gold komponiert, sondern zeigt sich auf für die Arrangements dieser Gala verantwortlich.
In einer kraftvollen Nummer besingen Ensemble und Solisten-Damen fetzig One Night Only, bevor als Abschluss vier Melodien aus Herz aus Gold erklingen.
Orchester und Arrangement
Stephan Kanyar, der Komponist von Herz aus Gold, hat alle hier dargebotenen Lieder eine durchgängige Orchestrierung unterzogen. Wie aus einem Guss wirkt das, vor allem die schnelleren Nummern sind hervorragend. Einzig One day more fehlt der Schwung, das treibende Moment. Es ist deutlich zu langsam, was vielen im Publikum möglicherweise gar nicht auffällt, Les Miserables-Jünger, wie ich einer bin, aber schon arge Qualen auferlegt. Die Augsburger Philharmoniker unter der musikalischen Leitung von Justin Pambianchi spielen diese Arrangements sauber und auf den Punkt. Besonders gefällt die Akzentuierung bei All that Jazz oder Mylady ist zurück.

Bühnenbild
Die historische Kulisse der Augsburger Freilichtbühne an sich ist bereits wunderschön. Links sitzt gewöhnlich eingehaust die Augsburger Philharmoniker. Die große Showtreppe aus Golddukaten erlaubt den ein oder anderen großen Auftritt, vier Stellwände im Backstein-Look mit beleuchtbaren Rahmen erlauben dezente Auf- und Abgänge sowie Lichtspielereien und das Verbergen der spärlichen, aber wirkungsvollen Requisiten.

Choreographie (Mario Mariano)
Es wird getanzt! Zwar nicht allzu ausladend, aber überaus leichtfüßig und natürlich mit Mindestabstand. Beim Kiss me Kate-Medley wurde der sogar deutlich unterschritten, aber: auch hier fand man eine augenzwinkernde Lösung, die im Publikum für Erheiterung sorgte: Paartanz mit staatlich verordneter Plexiglas-Scheibe zwischen den jeweiligen Tanzpartnern ließen auch zugehauchte Luftküsse zu. Schön, dass man sich diesen Humor zutraut, der zurecht mit Szenen-Applaus bedacht wurde.
Die Vorschriften, die bei Unterschreitung des Mindestabstandes gelten, sind auch bis ins Schloss zu Frank N’Furter in die Rocky Horror Show gedrungen: Dort reiben sich seine Groupies nur mit dem vorgeschriebenen, aber stilecht fluoreszierenden Mund-Nase-Schutz am Sweet Transvestite.
Die Treppe leuchtet Stufe für Stufe für den hinauf schreitenden Jakob Fugger-Murray, bei Les Miserables leuchten sie konsequenterweise in den französischen Nationalfarben weiß/ blau/ rot.
Die beiden Hauptakteure aus dem Musical Aladdin-Aladdin und Jasmin- hingegen ziehen sich dagegen an den rechten Bühnenrand zurück in ihre eigene whole new world, abseits der großen Scheinwerfer. Zwar schweben sie nicht auf einem fliegenden Teppich, dafür stehen sie auf Fuggers überdimensionalen Goldmünzen, die dem Besitzer in Herz aus Gold ebenfalls den Aufbruch zu Neuen Welten ermöglichte.
Die Solisten
Chris Murray
Chris Murray ist bei den Augsburgern bestens bekannt und außerordentlich beliebt: Hat er doch den berühmtesten Augsburger Jakob Fugger lebendig werden lassen und zwar in einer beeindruckenden Art und Weise. Herz aus Gold hätte auch dieses Jahr auf dem Spielplan stehen sollen, wird aber jetzt verschoben und nicht aufgehoben und das ist eine wundervolle Information. Das Stück Herz aus Gold ist ein absoluter Genuss.

Mit gewohnter Qualität brachte Murray sowohl das titelgebende Lied Herz aus Gold und das – mir mehr liegende – Nach Oben. Es scheint, als hätte er diese Partie verinnerlicht, lässt sie klingen und entfaltet in diesen beiden kurzen Sequenzen den Charakter des Jakob Fugger als einsamen, strebenden bis hin zum getriebenen.
Extrem gut gefällt er aber auch in allem, was rockig daher kommt, sowohl als Judas in Superstar als auch schon in der Auftakthymne Show must go on. Ein gewaltiges Stimmvolumen, absolut perfekt eingesetzt, das sich aber gleichzeitig vom Soloteil sofort wieder zurück und in das Ensemble harmonisch einordnen kann. Wann immer ihr Chris Murray sehen könnt, tut es!
Katja Berg
Die Gewinnerin des 1. Preises des Bundeswettbewerbs Gesang (2001) zeichnet sich durch so viele Dinge aus. Ihre Stimme ist so gewaltig, umfasst vier Oktaven und hat eine immense Power. In Augsburg bekannt durch Roxy und ihr Wunderteam, war sie letztes Jahr in Amstetten (Österreich) als Magenta in der Rocky Horror Show, wäre diese Jahr aber auch als Herzogin Ludovika in Elisabeth vor Schloss Schönbrunn gebucht gewesen. Dies nur zur Vielseitigkeit dieser unglaublichen Sängerin.

Auch in Augsburg gelingen ihr scheinbar mühelos sämtliche Rollenwechsel, sämtliche Musikarten scheinen perfekt und wie für sie gemacht. Enorm, wie sie ein Lied von der ersten Silbe entwickeln kann. Mylady ist zurück ist ein klares Bespiel dafür: Man hat nicht das Gefühl, das Katja Berg etwas singt, was so auch geschrieben steht, sondern dass SIE das Lied erst formt. Ein Phänomen, wirklich allererste Klasse.
Daneben berühren ihre leisen Töne wie bei The winner takes it all, harmoniert sie top mit ihrer Gesangspartnerin Susanna Panzner in One night only. Ihr Duett mit Katharina Wollmann als Mutter und Tochter Fugger gerät zwischen Anklage und Vorwürfen zur puren lauten Dramatik, während das Solo Wo bin ich geblieben von leiser Ernüchterung umschlägt in verzweifelte Wut. Wir hoffen, dass Katja Berg bei der Wiederaufnahme von Herz aus Gold nächstes Jahr auch tatsächlich die Partie der Sibylla senior übernehmen wird. Unglaublich, diese Frau!
Susanna Panzner

Eines der letzten Musicals, die ich vor der Corona-Pause sehen konnte, war die Uraufführung von Wüstenblume in St. Gallen. Perfektes Musiktheater mit hervorragender Besetzung, unter anderem mit Susanna Panzner in der Rolle der Agentin von Waris Dirie. Da war sie perfekt gecastet, denn ihre Stimme besitzt von Natur aus extreme Kraft, aber auch eine gewisse Strenge. Die kann sie leider nie ganz verdrängen, was bei manchen Liedern aber wirklich gut passt (All that Jazz), bei manchen (Mamma Mia) eher hinderlich ist.
Wenn die beiden starken Frauenstimmen von Panzner und Berg aufeinandertreffen, gibt es kein Halten mehr: So viel Energie und Fülle in diesem so dynamischen Song! Wow!
Alexander Franzen

Da musste ich kurz grübeln und dann fiel es mir auch schon ein: Über Alexander Franzen hab ich schon geschrieben, war er doch auch diese Saison schon neben Armin Kahl und Erich Windegger einer der Drei Männer im Schnee am Münchner Gärtnerplatztheater. In der Verwechslungskomödie gab er ganz zauberhaft den bemühten und absolut integeren Butler Johann. Da musste man hier schon zweimal hinschauen, vor allem, als er dann als Sweet Transvestite plötzlich – nach einigem Pech mit der zerreißbaren Hose in goldenen Pants dastand. Den Transvestiten gab er zwar nicht ganz so extrovertiert, aber gesanglich einwandfrei. This is the moment (das ich bei aller Liebe zu den Originaltiteln ausnahmsweise wirklich gerne auf deutsch gehört hätte) gerät ebenfalls nicht ganz so aufwühlend wie vielleicht schon anderswo gesehen. Frantzen ist ein bisschen arg bemüht, den Augenblick, den Moment, auch wirklich herbei zu singen. In der Tiefe gefällt er mir ausnehmend gut, seine Moderation ist gänzlich ungekünstelt charmant.
Ensemble
Das gesamte Ensemble ist großartig zusammengestellt! Jeder einzelne für sich beeindruckend, im Zusammenspiel großartig.
Unbedingt Erwähnung finden muss Manuel Dengler mit der Partie des Marius in One day more: Er hat mich mit den wenigen Zeilen, die er darin zu singen hat, vom Stuhl gefegt! Selten so einen stimmstarken und den Charakter der Figur vollkommen so vollkommen treffenden Marius gehört. Davor konnte auch schon bei A whole new World zusammen mit Janina Moser überzeugen und ich werde auf alle Fälle ein Auge auf seine weiteren Engagements legen!

Auch Katharina Wollmann, in der Uraufführung von Herz aus Gold als Sibylla junior schon Augsburger Freilichtbühnen-Luft geschnuppert, ist immer ein Genuss. Sie hat nochmal deutlich an Präsenz und Kontur gewonnen. Sie fühlt sich ganz ein in das ihr aus dem vorvergangenen Jahr bekannte Du durftest mich nicht zwingen und macht es zu einem echten Armlehen-Kraller!

Fazit
Es war ein wirklich unterhaltsamer Abend und nicht nur deshalb, weil ich den Besuch eines Theater schon sehr herbeigesehnt hatte. Die Stückauswahl hat mir sehr zugesagt, die Künstler sind fantastisch. Standing Ovation vom Premierenpublikum, das allerdings – und nicht nur wegen der Corona-Lücken – nicht so zahlreich erschienen war wie vielleicht erhofft. Das jubelnde Publikum wurde mit zwei Zugaben Zugaben belohnt: Mal wieder (wie schon öfter in letzter Zeit) wurde zunächst die große Solidaritäts-Hymne You’ll never walk alone aus dem Musical Carousel bemüht. Ein immer wieder schöner Gedanke, aber in diesen Zeiten mir meist zu bedeutungsschwanger und pathetisch interpretiert, war ich doch ziemlich begeistert, dass mit dem zwar ebenfalls eher abgenudelten Time Warp aus der Rocky Horror Show das Ensemble aber noch mal richtig Stimmung ins Publikum transportieren konnte.
Insgesamt ein wahrhaft erfrischender Abend, der nach Wiederholung schreit. Einziger Kritikpunkt trifft am Premierenabend die Tonregie. Exzellente Sänger wie Murray oder Katja Berg hätte man noch ein Quäntchen mehr Lautstärke vergönnt. Im weiten Rund der Freilichtbühne gehen diese Klasse-Sänger ob ihrer Stimmen keinesfalls unter, das Orchester lieferte auch den nötigen Drive. Aber der letzte Wumms hat dann leider doch gefehlt. Möglicherweise hat man sich auch nicht mehr getraut, die Anwohner rund um die Freilichtbühne sind unglaublich pingelig und bemühten in der Vergangenheit nicht nur einmal die Gerichte. Insofern kann das auch alles gewollt gewesen sein, denn die Ensemble-Stellen waren alle gut abgemischt.
Die Gala spielt noch bis 31. Juli auf der Freilichtbühne in Augsburg. Packt euch euer Sitzkissen und euren Mund-Nase-Schutz und macht euch auf den Weg. Ihr werdet es nicht bereuen!
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