Es gibt Ankündigungen von Musicals, die machen neugierig und welche, die einen freuen. Aber es gibt auch die, die Skepsis hinterlassen.
Waris Diries Wüstenblume habe ich kurz nach dessen Erscheinung im Jahr 1998 gelesen. Es hat mich erschüttert und tatsächlich wurde ich – wie viele andere auch – zum erstem Mal mit dem Thema der weiblichen Beschneidung konfrontiert. Bedrückend habe ich es in Erinnerung, obwohl es eigentlich die furiose Lebensgeschichte einer Frau ist.
So, und daraus jetzt ein Musical? Um es vorweg zu nehmen: „Wüstenblume“ war eine der beeindruckendsten Musiktheater-Erlebnisse, die ich bis jetzt machen durfte.
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Inhalt des Musicals „Wüstenblume“
1. Akt
Die meisten Menschen, die sich das Musical Wüstenblume ansehen werden, sind wahrscheinlich im Groben mit der Lebensgeschichte von Waris Dirie vertraut. Sie wird so auch im Musical erzählt, wird aber eingebettet in eine Rahmenhandlung:
Für eine Dokumentation kommt Waris und ein Kamerateam nach Somalia, wo ein Zusammentreffen mit ihrer Mutter als Teil einer Dokumentation aufgezeichnet werden soll. Die Mutter lässt aber zunächst auf sich warten. Jede der umstehenden Frauen versucht aus Eigennutz, davon zu überzeugen, dass sie selbst die Mutter des berühmten Models ist.

Das Kamerateam ist genervt davon, dass die Mutter auf sich warten lässt und zweifelt an deren Kommen. Aber Waris erklärt ihnen, dass die Uhren in Afrika einfach anders ticken. Sie verliert sich in sich, in Afrika, im Gefühl ihrer Kindheit. Hier blendet das Musical zurück und der Zuschauer beobachtet nun die kleine Waris in Somalia. Die Familie gehört einem traditionellen Nomadenstamm an und trotz eines harten, entbehrungsreichen Lebens scheint die Familie zufrieden, die Kinder unbeschwert.
Als Waris 13 Jahre alt ist, entscheidet sich ihr Vater, das Mädchen zu verheiraten. Ausschlaggebend dabei ist wohl der Brautpreis von 5 Kamelen. Waris wehrt sich laut und heftig, aber der Vater bleibt hart. Sie hat in der folgenden Nacht einen heftigen Alptraum, nach dem in ihr die Idee zur Flucht reift. Die Mutter unterstützt sie dabei und so macht sich ein 13jähriges Mädchen allein, barfuß, mit so gut wie keinem Geld und ohne Lesen und Schreiben zu können, auf den langen und gefährlichen Weg in die Hauptstadt Mogadischu, wo es hofft, die ältere, vor Jahren ebenfalls geflohene Schwester zu finden.
Dort angekommen trifft sie tatsächlich auf ihre Schwester und kann einen Job auf einer Baustelle ergattern. Dann nimmt ihr Onkel, ein Diplomat, sie mit nach London. Dort verdingt sie sich in dessen Haushalt als Dienstmädchen, allerdings ohne Lohn und ohne, dass ihr jemand die englische Sprache beibringt.

Haji, ein im Haus lebender Verwandter, stellt ihr Bücher zur Verfügung, mit denen Waris leidlich lesen lernt. Eines Nachts allerdings versucht Haji Waris zu vergewaltigen. Nach diesem Vorfall müssen beide den Haushalt verlassen, dazu wird auch der Onkel versetzt, der Haushalt aufgelöst.
Da Waris ihren Pass versteckt hält, kann sie nicht nach Somalia ausgeflogen werden und wird sich selbst überlassen. Sie schläft auf der Straße und findet als Illegale einen Job bei McDonalds.
So trifft sie auf Marilyn, eine quirlige Londonerin, die zu einer guten Freundin wird und die Waris bei sich aufnimmt. Endlich lernt Waris London kennen und beginnt, die englische Sprache zu verstehen. Waris fasst zunehmend Fuss im englischen Leben und Vertrauen zu Marilyn, und so erfährt die Freundin von Waris Trauma: Sie wurde als Kind in Somalia von einer Hexe beschnitten.
In einer Disco wird Waris zum ersten Mal von einem Fotografen angesprochen und um Probeaufnahmen gebeten.
2. Akt
Waris möchte sich von einem Frauenarzt behandeln lassen, aber noch ist die afrikanische Denkweise und das traumatische Erlebnis zu sehr Teil von ihr, so dass sie den Besuch abbricht.
Ihre Probeaufnahmen indes haben die Agentin Veronica so sehr beeindruckt, dass sie Waris zum Casting für den weltbekannten Pirelli-Kalender schickt. Allein Waris hat überhaupt keine Idee, für welchen Zweck sie fotografiert werden soll und so endet das Casting in einem Desaster: als sie gebeten wird, ohne Oberbekleidung zu posieren, verlässt sie verstört und wütend das Studio. Nach längerem guten Zureden durch Marilyn und der Agentin wird Waris doch noch Teil des Kalenders. Das würde sie in die erste Liga der Models katapultieren, aber:
Um reisen und damit weiter modeln zu können, muss sie einen gültigen Pass haben. Ein Anwalt übernimmt diese Angelegenheit und wenig später findet sich Waris in einem Standesamt wieder, um gegen eine Gebühr von 2000 Pfund einen ihr unbekannten Schein-Ehemann zu ehelichen. Der alte, alkoholkranke O’Sullivan ist augenscheinlich nicht jemand, den man gerne heiratet und so muss das ungleiche Paar noch einen Kontrollbesuch der Einwanderungsbehörde überstehen. O’Sullivan geht dort in einem emotionalen Lied aus sich heraus und sichert Waris so den ersehnten Pass.

In einer Bar lernt Waris den Jazzmusiker Dana kennen und knüpft erste zarte Bande.
Gleichzeitig nimmt ihre Karriere fahrt auf, Waris wird zum weltweit bekannten und bestgebuchten Topmodel. Auf dem Laufsteg erinnert sie ein anderes Model an die Frau, die sie damals beschnitten hat, und in einem Flashback kommen alles Erinnerungen wieder hoch: Der Tag, der ihr Leben für immer veränderte, war der Tag ihrer Beschneidung.

Und so engagiert sich Waris Dirie als UN-Sonderbotschafterin gegen die weibliche Genitalverstümmelung und klärt die Welt über dieses scheußliche Verbrechen auf, dem täglich 8000 kleine Mädchen zum Opfer fallen.
Das Musical
Musik
Verantwortlich zeigen sich für die Melodien der international erfolgreiche Komponist Uwe Fahrenkrog-Petersen und für Liedtexte Frank Ramond, der seit 2017 Präsident des Deutschen Textdichter-Verbandes ist. Geballte Kompetenz also im Autorenteam, und sie werden mühelos allen Ansprüchen gerecht.

Die Musik kann von ausgelassen-fluffig über traditionell und afrikanisch-erhaben eine große Vielfalt an Musikstilen abbilden: 80er Jahre Discosound, eleganten Tango, eindringliche Balladen. Dabei bleibt sie immer gefällig, sprich, sie geht ganz leicht ins Ohr. Spannend dabei bleibt von Anfang bis Ende die Abwechslung zwischen den schnellen und stark rhythmisierten Stücken und den ruhigen.
Bereits das Lied Ein Tag in Afrika entführt durch fremdländische Klänge in Waris Geburtskontinent und nutzt einen Effekt, der unheimlich wirkt und das ganze Musical hindurch trägt: Zu einer Leadstimme singt das Ensemble Background-Vocals. Diese weben mit langen mehrstimmigen, meist auf einen Vokal reduzierten Tönen eine unheimlich starken Klangteppich. Es wird nicht nur gesungen, es wird musiziert, richtig Musik gemacht. Dabei entstehen nicht nur Lieder. Man hat das Gefühl, die ganze Bühne klingt, die ganze Szene ist durchzogen mit Melodie, mit Atmosphäre, mit dem Gefühl, das die Musik transportiert. Diese Stimmung greift sofort um sich. Das Theater schwirrt, man hat ab der ersten Szene das Gefühl, man ist Teil davon.

Traditionell erklingt diese Idee der afrikanische Musik, rutscht dabei aber nicht ab ins Klischee. Diese Lieder sind wie Tücher, die ganz leicht schweben, sich fast unbemerkt um den Zuhörer legen.
Ich habe mich selten von Musik so aufgenommen gefühlt. Sie trägt durchs Stück, sie leitet und ist dabei nie einfach nur zum Zweck da, eben ein Musical zu kreieren. Die Musik erzählt diese Geschichte. Und zwar auf allerhöchstem Niveau.
Songvielfalt
Ich gebe euch im Folgenden einen kurzen Überblick über die Songs.
- Ein Tag in Afrika
Waris kommt in Afrika an. Nach langer Zeit hat sie heimischen Boden unter den Füßen. Sie zieht die Schuhe aus, um den Sand zwischen den Zehen zu spüren, um sich mit ihrer Heimaterde zu verbinden. Es gibt einen kleinen Einblick in den afrikanischen Kulturkreis, dem Waris entstammt. Es singen afrikanische Frauen und Mädchen in traditionellen Gewändern. - Kamele
Die kleine Waris spielt mit ihren Geschwistern unbekümmert beim Hüten der Kamele Ein langer Weg
Waris Mutter unterstützt ihr Kind, so dass sie nachts fliehen kann. Sie gibt ihrer Tochter schützende Worte mit auf den Weg
Am nächsten Tag sucht die ganze Familie im Nomadencamp nach Waris.
Waris singt auf dem Weg durch die Wüste Meine Begleiter sind Hunger, Durst und Angst.- Mogadischu Worksong
Scheu nicht den Dreck auf deiner Haut. Waris findet Arbeit auf einer Baustelle. Weiß wird dein Gesicht
Waris soll mit nach London. Sie ist aufgeregt und möchte dorthin, um ihrem Leben in Afrika zu entfliehen. Allerdings kann sie ihre Angst vor der weiten Reise in ein fremdes Land und eine fremde Kultur nicht verbergen. Ihre Schwester erzählt ihr, dass, wenn sie in London lebt, ebenfalls ein weißes Gesicht bekommen wird.London Worksong
In London werden ihr im Haushalt ihres Onkels ihre Aufgaben erklärt. Waris kennt weder Bügeleisen noch sonstige Haushaltsgeräte und muss sich erst vertraut machen. Hier wechseln die Darsteller. Naomi Simmonds, die die kleine Waris spielt, tauscht ihren Platz mit Kerry Jean als erwachsene Waris.Zauber der Worte
Waris lernt lesen. Ein cleverer Schachzug, dass die ersten Worte, die sie liest, lauten: geboren in Somalia. Dort, wo ihre Wurzeln sind, aber wo sie bestimmungsgemäß niemals das Lesen erlernt hätte.London lebt
Das Ensemble preist die Vorzüge Londons und singt, die Stadt macht dich glücklich.Wüstenblume
Nachdem sich zwischen Marilyn und Waris ein Wortgefecht über die Verwendung/ Verschwendung von Wasser entwickelt, taucht Waris gedanklich wieder ab: hinter einer herabgelassenen durchsichtigen Leinwand wird die Bühne in goldenes Licht getaucht, Waris ist gedanklich in Afrika. Das Ensemble, einschließlich Waris Mutter singt davon, welche Freude herrscht, wenn in der Wüste der Regen fällt. Alle sind unbeschwert und glücklich, die Wüstenblumen fangen entfalten sich zu ganzer Pracht.Eine wunderschöne Allegorie auf Waris Leben. Auch diese Wüstenblume fängt zart an, zu blühen. Es ist der Ohrwurm schlechthin, erklingt später noch einmal als Reprise und wurde beim Schlussapplaus vom Ensemble noch einmal gesungen. Es ist das prägende Stück.So wirst du Frau. Kennst du es wirklich nicht
Im Lied versucht Marilyn Waris einen Einblick zu geben, was bei Sex gefühlsmäßig passiert und dass es einen zur Frau macht. Sie fragt: Kennst du es wirklich nicht? Waris ist vollkommen geschockt und erklärt der wiederum fassungslosen Marilyn das grausame Ritual der Beschneidung. Auch sie fragt Marilyn: Kennst du es wirklich nicht? Gekonnt werden beide Situationen mit fast identischem Text belegt und gegenüber gestellt.
Das eindringlichste Lied, dass die schockiert zurücklässt. Marilyn hat sich beschwert, dass sie, seit Waris bei ihr wohnt, keine Gelegenheit mehr auf Männerbesuch hat. Waris versteht nicht, was die Freundin meint, sie kennt nur die afrikanische Tradition, dass der Ehemann allein die Frau aufschneiden darf.Du spürst die Frau in die erblühen wird zu Du spürst das Kind in dir verblühen
Zwei Seiten
Hier projiziert die Bühnentechnik wunderbare Bilder von Kerry Jean als Waris überlebensgroß auf eine Leinwand. Der Fotograf spielt dabei mit dem Schwarz-Weiß-Kontrast, denn auf den Bildern mit dunklem Hintergrund wirkt Waris Gesicht heller und andersrum scheint ihr Gesicht deutlich dunkler auf hellem Hintergrund. Schließlich wird beides auf einem Bild zusammengefügt, Waris scheint zweigeteilt. Wieder eine Allegorie auf ihr Leben, in dem sie schwarze und weiße Komponenten miteinander vereinen muss. Gemessen an ihrer Herkunft erscheint sie dabei deutlich europäischer, aus europäischer Sichtweise ist sie durch und durch Afrikanerin.
Wo gehör ich hin? Afrika oder Europa, schwarz oder weiß, traditionell oder modern?2. Akt. Wüstenblume Reprise
Was soll ich ihnen sagen (darüber spricht man nicht)
Beim Frauenarzt traut sich Waris nicht, ihr Schicksal zu offenbaren.Verhör Agentin
In diesem einen Augenblick
Spiel das Spiel
…kommt durch Zufall mal das Glück angetanzt
Die Agentin Veronica versucht, Waris zu überzeugen, ihre Prinzipien zu überdenken, um nach oben zu kommen. Sie stellt ihr in Aussicht, dass nur der Anfang schwer sei, wenn sie aber den Durchbruch schafft, sie ihre eigenen Spielregeln aufstellen kann.Das Lied ist passenderweise als Tango konzipiert.
Bond und das Model
Sie hat den Look
Schenk mir dein Geheimnis (Ich weiß nichts von dir, du bist mir völlig fremd)
Waris knüpft zarte Bande mit Dana in einer Bar.Verhör Beamte
Robinson Crusoe
gesungen vom Schein-Ehemann O’Sullivan. In einem beeindruckendem Vortrag überzeugt Waris Schein-Ehemann die Beamten der Einwanderungsbehörde von der Richtigkeit der Ehe.Catwalk/ Flashback
Auf dem Catwalk erinnert ein anderes Model in seiner Aufmachung Waris an die Hexe, die sie beschnitten hat. Traumatische Erinnerungen kommen wieder hoch.Achttausend
Waris hält in New York als Sonderbotschafterin eine eindringliche Rede und informiert die Öffentlichkeit über die weibliche Beschneidung, der täglich bis zu 8000 Mädchen zum Opfer fallen, von denen die Hälfte beim Ritual oder dessen Folgen verstirbt.
Geschickt werden immer wieder Reprisen eingestreut, oft verknüpfen sich dadurch Szenen über den Text oder die Melodie miteinander.
Als Gag lässt Fahrenkrog-Petersen in einer Disco sein erfolgreichstes Lied 99 Luftballons erklingen.
Texte
Mit Texten bin ich sehr eigen, mir ist Sprache und Ausdrucksweise extrem wichtig. In dieser Leidenschaft bin ich schon oft genug von Musicaltexten enttäuscht worden, egal ob Original oder Übersetzung. Das reim-dich-oder-ich-fress-dich-Prinzip ist doch eher häufiger Pate eines Songs.
Anders hier: Clever getextet, spielen viele Lieder mit der Situation, die man immer von zwei Seiten betrachten kann. Ein wirklich grandioses und auszeichnungswürdiges Meisterstück dabei ist Kennst du es wirklich nicht. Das Duett von Waris und ihrer Freundin Marilyn ist textlich schon zu beginn wunderschön und prickelnd, nimmt aus Waris Mund aber eine schockierende Wendung.
Wüstenblumen-Band
Typische Bandbesetzung (Keyboard, Gitarre, Bass, Percussion) trifft auf traditionelles Streichquartett und kreiert dabei einen sehr individuellen Sound, der variiert, aber immer wie aus einem Guss klingt. Viel Arbeit leisten die Rhythmus-Instrumente, die immer prägnant den Takt und die Stimmung des Liedes wiedergeben. Perfekt orchestriert (Alberto Mompellio) und arrangiert (Koen Schoots) ergibt das eine Mischung, die viel Variation erlaubt, von ausgezeichneten Musikern dargeboten wird (Musikalische Leitung: Christoph Bönecker) und so ein Genuss für die Ohren ist.
Einzig die Abmischung war nicht einwandfrei. Die Instrumente sind im Verhältnis zum Gesang zu laut eingestellt, so dass manche Darsteller waren sehr schlecht zu verstehen waren. Da müsste die Tontechnik ein wenig nachbessern.
Inszenierung

Kostüm (Claudio Pohle)
Am meisten ins Auge stechen schon zu Anfang die afrikanischen Gewänder des Ensembles. Das sind offensichtlich die bunten Alltagskleider somalischer Frauen.
Auch in der westlichen Welt dominiert die Alltagskleidung, je nach Situation variiert diese und von jugendlichen Disco-Klamotten über Anzüge der Geschäftsreisenden im Flugzeug. Alles ist authentisch vertreten, mit viel Liebe zum Detail werden die drei Bereiche Afrika, London und Laufsteg dezent und unaufdringlich vertreten.
Bühnenbild (Christopher Barreca)/ visueller Eindruck
Hier gehts rund. Die Schauplätze der Geschichte sind zahlreich, und jeder davon wird ansatzweise realistisch nachempfunden. Die daraus entstehende Materialschlacht fällt aber dennoch nicht störend auf. Zwei große, von links und rechts zur Mitte der Bühne verschiebbare Mauer-Elemente trennen Wohnräume voneinander und Häuser von der Straße ab. Darüber hinaus gibt es eine durchscheinende Leinwand im Vordergrund, die die ganze Bühne umspannt. Sie wird für Video-Projektionen (Austin Switser) genutzt: Sie lässt Regen fallen und die Sonne scheinen (Licht: Michael Grundner), Wüstenblumen fangen an, über die ganze Bühnenbreite zu erblühen.
Zusätzlich wird ein langes Stück Leinwand in der Mitte der Bühne vielfach benutzt, als Zelt oder als Vordach.
Der Clou der Inszenierung sind unzählige kleine Elemente, die bestimmte Szenenorte andeuten, ohne sie in Gänze entstehen zu lassen. Bei Waris Flug nach London reichen zwei Flugzeug-Sessel, um das Flugzeug anzudeuten, den Rest erledigt das Ensemble: Alle tragen ihre Koffer, stellen sich in 2 Reihen auf. Dabei tun sie so, als würden sie ihre Koffer in die Ablage oben legen, nur um sie dann wieder auf den Boden zu stellen und sich draufzusetzen.
Eine Tür und ein von einem Tänzer gehaltenes Waschbecken reichen aus, um mitten in der Disco-Szene einen Dialog von Marilyn und Waris auf der Toilette zu verorten.
Die von Bauarbeitern getragenen Bretter werden im Nu zu einer Wand von Waris Schwesters Haus. Ständig ist das ganze Ensemble damit beschäftigt, Szenerien und Orte entstehen zu lassen.
Spannenderweise geht das schnell, aber ohne Hektik vonstatten, oftmals wird der Umbau in eine Choreografie eingebunden. Dabei wirkt jeder Handgriff durchdacht, clever und dabei doch dabei durch und durch unaufdringlich. Diese originelle und fantasievolle Art der Bühnengestaltung lehnt sich an an erzählendes Musiktheater im Stile von Der Glöckner von Notre Dame. Es bringt die ganze Geschichte in einen starken Erzählfluss, der einen förmlich mitreißt und verhindert, dass Löcher entstehen.
Am meisten beeindruckt aber immer wieder Waris Erscheinung, bzw. ihrer Darstellerin Kerry Jean. Auf den Hintergrund werden in einer Szene Bilder von ihr in riesiger Größe projiziert. Es ist die Szene, in der sie ihrer Zerrissenheit zwischen den Kulturen Ausdruck verleiht. Ihre feinen, edlen und doch von einem ereignisreichen Leben geprägten Gesichtszüge erscheinen mal heller vor dunklem Hintergrund, mal schwärzer von hellerem Hintergrund. Was ist Waris? Eine schwarze Frau in der weißen Welt? Eine sich immer mehr der weißen Kultur Zuwendende vor dem Hintergrund ihrer afrikanischen Wurzeln? Diese Bilder sind so wunderschön und absolut professionell gemacht, sie fügen sich so perfekt in die Szene und die Größe dieser Bilder ist so monumental, dass das bei mir einen ganz starken Eindruck hinterlassen hat.
Mit der Größe wird am Ende noch einmal eine ohnehin starke Szene nochmal um vieles eindringlicher gemacht: Waris Rede bei den Vereinten Nationen wird auf die große Leinwand übertragen, überlebensgroß (sie hat ja auch im wahrsten Sinne des Wortes überlebt) sieht man ihr zu, wie sie einen höchst emotional und den Zuhörer betroffen zurücklassenden Appell an die Menschheit richtet, die Augen vor dem Elend der afrikanischen Mädchen nicht zu verschließen.
Choreografie (Jonathan Huor)
Die Choreografie hinterlässt pures Staunen. Die traditionellen Tänze der Somali führen geschickt ins Geschehen. Doch nicht nur diese Art des Tanzens, die man in so einem Musical ja sowieso vermutet, ist präsent. In der Alptraum-Szene der kleinen Waris wird sie umringt von den fünf Kamelen, die der zukünftige Ehemann zu zahlen bereit ist. Fünf Ensemblemitglieder mit stilisierten Kamelköpfen und -beinen bewegen sich bedrohlich ein wenig roboterhaft um das verängstigte Kind. Ein Faszinosum!
Tänzerisch besticht dann noch vor allem die Auftaktszene des 2. Aktes. Waris steht in der Mitte, umringt von afrikanischen Frauen. Während einer Reprise von Wüstenblume entfalten diese an Waris Kleid mehrere Stoffbahnen. Das sieht frontal auf die Bühne blickend schon toll aus. Zusätzlich filmt eine Kamera die Szenerie von oben und projiziert das auf die durchscheinende bühnenüberspannende Leinwand. Von oben sieht das so aus, als würde Waris im Mittelpunkt strahlen wie die Sonne.
Sie sagt an einer Stelle, wie einsam sie in London ist. Ihr fehlen die Sprache und die Sonne. Über die Gedanken an ihre Heimat holt sie sich ein Stück Afrika zurück. Zugleich hatte ich sofort die Assoziationen mit der erblühenden Wüstenblume. Diese Art der Darstellung war so wirkungsvoll und neuartig und hat zusammen mit dem Ohrwurm-Lied ein unglaublich erhaben-frohes Gefühl in mir geweckt.
Mehrmals verfallen die Darsteller in Zeitlupe, zum Beispiel als Waris in Mogadischu nach dem Stehlen von Tomaten auf dem Markt von einer ganzen Meute verfolgt wird. Oder als Waris in der Bar Dana kennenlernt. Es bleibt die Zeit um sie quasi stehen, allein sie und Dana bewegen sich in normaler Geschwindigkeit, alle anderen verlangsamen ihr Tempo bis fast zum Stillstand.

Darüber hinaus sind diese Choreografien immer perfekt getimt, zum Beispiel das Kennenlernen in der Bar: Da stimmt jeder Blick und jedes Glas-Hochheben.
Toll choreografiert ist natürlich auch die Modenschau, auf der die vier Models perfekt zur Musik ihre vorgegebenen Posen einnehmen.
Die Erzählidee des Musicals (Buch: Gil Mehmert)
Der größte Clou des Musicals ist es, dass das Thema Beschneidung zu Beginn überhaupt nicht thematisiert wird. Es nimmt dem Musical die Schwere, die unweigerlich aufgetreten wäre, würde dieses Ereignis von Beginn an über der erzählten Lebensgeschichte schweben. Es würde alles überdecken und man würde alles in der Folge dieses Ereignisses sehen. Damit wäre ein Weg vorgegeben. Man wäre um vieles weniger empfänglich als Zuschauer und würde so weniger offen sein für die darüber hinaus reichende Lebensleistung dieser Frau. Gerade durch das bewusste Weglassen dieser Episode hat die Geschichte eine Chance, als Ganzes wahrgenommen zu werden und Waris Dirie gerecht zu werden.
So entfaltet sich die Persönlichkeit von Waris wie von selbst durch dieses geschicktes Manövrieren durch ihre Lebensgeschichte.
Erst nach und nach erfährt der Zuschauer davon und welch Einschnitt das im Leben von Waris gewesen ist und welche Auswirkung es immer noch hat. Zum ersten Mal kommt die Beschneidung gegen Ende des ersten Aktes zur Sprache, so wie auch Waris ja in London erstmal tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes zur Sprache findet.
Immer wieder hinterlässt der kulturelle Unterschied zwischen der afrikanischen Mentalität und der westeuropäischen ungezwungenen Offenheit ein großes Ohnmachtsgefühl bei Waris. Diese Zerrissenheit begleitet sie ein Leben lang: Marilyn begleitet sie zum Frauenarzt, um sich wegen Komplikationen ihrer Beschneidung helfen zu lassen. Dort trifft sie einen Mann aus ihrem Kulturkreis und sofort hängt sie fest in der afrikanischen Tradition: Darüber spricht man nicht.
Mir fehlen die Worte, wie eindringlich dem Musical gelingt, darzustellen, was diese Frau alles hinter sich lassen musste: Zunächst einmal physisch ihre Heimat Afrika und dann nach und nach die ihr bekannte Sprache, die Traditionen, die Denkweisen. Dabei sich nicht selbst zu verlieren, weil man sich ja stückweise aufgeben muss, stell ich mir so schwer und schmerzhaft vor, dass das alleine reichen würde, um uneingeschränkte Bewunderung für Waris Dirie zu empfinden.
Aber Waris hat sich nicht ausgeruht auf ihrem Erfolg. Sie hat es auch noch geschafft, dieses intime Thema weibliche Beschneidung, über das man nicht spricht, in die Öffentlichkeit zu bringen. Sie hat tausenden hilflos ausgelieferten Mädchen ihre Stimme gegeben, aufgeklärt und damit unzählige Mädchen vor Leid, Schmerz und Tod bewahrt.
Wie sehr das grausame Erlebnis der Beschneidung noch immer auf sie wirkt, wird dramatisch bei der Modenschau gezeigt: Afrikanische Frauen mit Tonkrügen kommen in einem Flashback von links und rechts zum Laufsteg und schütten aus den traditionellen Gefäßen Blut auf den Catwalk, auf dem eben noch Waris umjubelt wurde.
Das Musical zeigt diese Geschichte ungeschminkt, legt sie einfach pur dar, ohne zu werten. Das ist die größte Leistung des Stückes, dass Waris nicht als Superstar verehrt wird, dass es nicht darauf ausgelegt ist, dem Topmodel und der UN-Botschafterin zu huldigen. Nein. Es erzählt ihre Geschichte einfach und eindringlich. Der Zuschauer verfolgt eben diese Geschichte und ohne erhobenen Zeigefinger a la diese Frau musst du gut finden, wird er erfasst von einer ungeheueren Bewunderung für diese außergewöhnliche Frau.
Mein einziger Kritikpunkt – von der Tonabmischung abgesehen – ist der letzte Satz der Agentin. Die kommt auf Waris zu und sagt:
Ich schulde ihnen kein Geld, sondern Dank und Respekt. Ich dachte immer, ich bin eine starke Frau, die den Mädchen zeigen kann, wo es lang geht. In Wahrheit sind sie die starke Frau.
Es wäre mir viel lieber gewesen, wären diese Worte ungesagt geblieben. Es ist zwar ein eindeutiges Fazit, aber ich werde ungern mit eben dem erhobenen Zeigefinger in die Nacht entlassen, der mir vorkaut, was ich über das Gesehene denken soll. Jeder, ich bin mir sicher, wirklich jeder Zuschauer, hat ohnehin dasselbe gedacht. Und wenn man dieses Fazit für sich selbst ziehen kann, dann fühlt man sich Waris Dirie und ihrem Schicksal nochmal auf eine ganz eigene Art und Weise verbunden.
Die Darsteller
Kerry Jean als Waris

Kerry Jean ist schon mal optisch eine Wucht, denn sie ähnelt Waris – auf alle Fälle von weitem (letzte Reihe) – sehr. Anmutig ist sie in ihren Bewegungen und, was ich bemerkenswert finde, sie hat einen absoluten Modelblick drauf. Bemerkenswert außerdem ist außerdem, dass der Fotograf davon solche Bilder gemacht hat: Kerry trägt in ihrem Blick einen natürlichen Stolz, zeigt ebenso wie Waris ein sehr erhabenes Profil und man sieht ihrem Gesicht trotz aller Schönheit an, dass diese Person schon vieles erlebt hat. Eindringliche Blicke gelingen ihr, auch in ihrer Rede vor der UN.
Zerrissen ist Waris und genau das bringt Kerry Jean exzellent auf die Bühne. Die Zerrissenheit weicht mehr und mehr einer Bestimmtheit, ausgelöst durch eine Weitsicht, die ihr sagt, was getan werden muss, damit das Spiel zu dem Ihren wird.
Einwandfrei bekommt sie den Wandel hin zu einer immer deutlicheren und besseren Sprache.
Der Zuschauer beobachtet die von Jean fein ausgearbeitete Entwicklung eine schüchterne junge Frau (meine Geschichte ist zu klein, sie zu erzählen) zu einer Person, die, obwohl sie ihre Vergangenheit noch spürbar trägt, bestimmt auftritt und sich erlaubt, in sich zu ruhen.
Natürlich kann Kerry ihre Stimme perfekt benutzen: Mal singt leise staunend als sie Dana trifft, dann wieder erklärt sie Marilyn schmerzerfüllt den Schmerz der Beschneidung. Dabei nimmt sie jede Gefühlsregung sehr subtil, denn Gefühle zu offenbaren gehört nicht zur Tradition afrikanischer Erziehung. Kerry Jean trägt dieses wuchtige Stück ohne jede Mühe.
Naomi Simmonds als junge Waris

Eben erst in Augsburg auf der Freilichbühne Augsburg als eines der drei Soulgirls gesehen, freute ich mich ganz besonders, dass diese Stimme eine solche Chance bekommt!
Naomi Simmonds hat mich von allen großartigen Darstellern am meisten überzeugt. Sie bringt so eine wundervolle Natürlichkeit auf die Bühne, man nimmt ihr die Jugendliche sofort ab. Sie trotzt dem Schmerz auf dem langen Weg, hält sich aufrecht. Und freut sich wie ein Kleinkind über ihre ersten eigenen Schuhe. Ein junges Mädchen, das aufgrund der Umstände zu schnell erwachsen werden muss, sich aber dem stellt und dabei alle Gefühle wie Angst und Heimweh tragen muss: Naomi Simmonds ist stets authentisch und präsent.
Ihre Stimme ist glasklar und übertönt mühelos die laute Band, ihre Artikulation ist einwandfrei.
Dionne Wudu als Marilyn

Wüstenblume ist Waris’ Geschichte. Marilyn hat darin einen festen Platz, tritt deutlich zu Tage, bleibt aber dennoch im Hintergrund als Teil des Weges, den Waris geht.
Besetzt mit Dionne Wudu, da war ich sehr gespannt. Ich habe sie am Münchner Gärtnerplatztheater als Maria Magdalena gesehen, da konnte sie mich schon überzeugen.
Ihre Rolle hier meistert sie perfekt. Sie ist plötzlich einfach da, in einer sehr sympathischen Art und Weise und nimmt sich der fremden jungen Frau einfach sehr selbstlos an. Quirlig ist sie, selbstbewusst, bunt und ein wenig verrückt und doch irgendwie herrlich normal. Dazu ohne Berührungsängste der fremden Kultur gegenüber. Sie schafft es, den passenden Kontrapunkt zu setzen: Auf der eine Seite Waris, das afrikanische Mädchen eines sehr geschlossenen Kulturkreises, auf der anderen Seite Marilyn als typischer Vertreter einer offenen Londoner Gesellschaft.
Sie legt die gleiche Art, wie sie Marilyn spielt, auch in die Stimme: Die tönt manchmal voller Lebendigkeit und Leichtigkeit, manchmal sensibel und zurückhaltend. Eine wunderbare Performance, sehr ausgewogen und natürlich.
Susanna Panzner als Veronica

Die Agentur-Chefin Veronica tritt zunächst sehr klischeehaft auf: Frisur, Kostüm, die herablassende Art. Dann aber nimmt diese Frau in ungewöhnlicher Art und Weise Einfluss auf die weiteren Geschehnisse: Veronica dringt zu Waris vor. Und das nicht nur im übertragenen Sinne: Auch bildlich findet sie Einlass in Waris Leben, sitzt in Waris Schlafzimmer und redet auf sie ein. Eine sehr clevere Szene, da es eine Allegorie ist: Bis zu diesem Zeitpunkt hat zu diesem Schlafzimmer nur Marilyn zutritt, wie auch Marilyn die einzige ist, der Waris alle Wahrheiten anvertraut und von der sie sich leiten lässt. Schließlich aber vertraut sie sich auch der Führung von Veronica an, schenkt ihr glauben und kann sich dann zu den Fotoaufnahmen überwinden.
Susanna Panzner zeigt eine spritzige Darstellung der Agenturchefin. Sie bemüht sich um Waris natürlich ob des Wertes, den das Mädchen für sie haben wird, findet aber doch einen persönlichen Draht zu ihr und versucht, Waris ein wenig abzuhärten. Toll besetzt, denn Susanna Panzner spielt ihre Rolle erfrischend und ein wenig selbstironisch, rollert auch mal mit dem Bürostuhl über die halbe Bühne zum Telefon und mildert so das Bild einer Agenturchefin-Zicke ab zu einer sympathischen Person.
Ensemble
Es wäre zu viel, die einzelnen Mitglieder des Ensembles einzeln zu besprechen. Alle meistern nicht nur eine, sondern gleich mehrere Rollen. Zum Beispiel Cedric Lee Bradley als zwar liebender, aber hart auftretender Vater, der danach noch den Botschafter-Onkel mit ähnlicher Ignoranz ausstattet. Oder dem mir als Wien-Musical-Fan bestens bekannten David Rodriguez-Yanez, der weder in seiner Maske als Bräutigam noch als Haji sofort zu erkennen ist, aber beständig ein hohes Niveau an Bewegung und Gesang an den Tag legt. Zu erwähnen noch die weiblichen Cast-Mitglieder, die grandiose Walks auf den Laufsteg zaubern.

Die Anforderungen in diesem Stück sind für alle gleichermaßen hoch: ständige Kostümwechsel, Springen in verschiedene Rollen und die häufige Präsenz auf der Bühne meistern alle ausnahmslos wunderbar. Alles greift in einander, perfekte Teamarbeit wurde da also nicht nur hinter, sondern auch auf der Bühne geleistet.
Wie oben schon erwähnt, klingen die Stimme perfekt zusammen, wenn sie den dichten Klangteppich unter die Solonummern legen, und schaffen damit Gänsehaut-Atmosphäre.
Fazit
Anschauen! Unbedingt!
Selten gebe ich so gerne und ausdrücklich eine Empfehlung ab. St. Gallen hat alles richtig gemacht: die Autoren des Musicals Wüstenblume haben ein Stück geschaffen, dass mit seinem schweren Inhalt sensibel umzugehen versteht, kurzweilig und unterhaltsam das Aufblühen einer Persönlichkeit begleitet und dabei lange nachwirkt. Musik, Text, Bühne und Darsteller sind absolut perfekt. Es gibt hier ein einwandfreies Gesamtpaket und ich wünsche der Produktion Wüstenblume nur das Allerbeste!
Alle Fotos: Dr. Joachim Schlosser Fotografie
Vielen Dank für diese ausführliche Kritik und die lobenden Worte.Sie haben die Produktion wirklich sehr genau beobachtet, wenn auch einige Zitate nicht wörtlich stimmen. Ich bin in den meisten Punkten ihrer Meinung.
Es ist uns allen eine absolute Herzensangelegenheit, in dieser Produktion zu sein und auch auf diesem Weg das Bewusstsein der Menschen auf dieses Thema zu lenken.
Und ich wäre noch begeisterter, wenn irgendwer mal meinen Namen richtig schreiben würde. Hahahaha, aber so aufmerksam ist tatsächlich kaum jemand. Herzliche Grüße von Susanna