In Augsburg erwartet den Zuschauer eine durchwegs stimmige Inszenierung: Bühnenbild, Kostüm, die Art und Weise, wie gespielt, getanzt und gesungen wird: das passt alles perfekt ineinander, kommt aber für meine Begriffe auch ein wenig behäbig und harmlos daher.
Eine Woche nach einem fulminanten Musicalerlebnis mit Dracula auf der Wilhelmsburg in Ulm, ging es auf die für mich schönste – weil heimische – Freilichtbühne nach Augsburg. Chicago, das Musical von John Kander und Fred Ebb, wird hier noch bis Ende Juli unter freiem Himmel aufgeführt.
Chicago
Inhalt
Das Musical spielt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts und ist eine große Revue, deren Handlung auf den ersten Blick ein wenig skurril wirkt, aber in ihrer Gesellschaftskritik bis heute aktuell bleibt.
Velma Kelly sitzt im Frauengefängnis wegen Mord ein und wartet auf ihren Prozess. Dafür hat sie über die Anstaltsleiterin Mamma Morton den Anwalt Billy Flynn engagiert. Dieser versteht es perfekt, Velma in der Presse so zu verkaufen, dass sie zum Medienstar wird, obwohl sie im Knast sitzt.
Da hinein platzt Roxie Hart. Sie hat ihren Liebhaber erschossen, weil der sie verlassen wollte. Zuerst deckt ihr Ehemann sie noch, bis er erfährt, dass Roxie fremdgegangen ist. Und so landet auch Roxie im selben Gefängnis wie Velma.
Wieder vermittelt Mamma Morton Flynn als Rechtsanwalt und der wittert bei Roxie das weitaus größere Starpotential. Mit höchstem Engagement geht er diesen Fall an und vermarktet Roxies Geschichte so, dass die bald mit der Wahrheit nichts mehr zu tun hat. Die eher naiv wirkende Roxie versteht schnell, wie das System funktioniert und sieht sich ihrem Traum, als Tänzerin berühmt zu werden, plötzlich sehr nah. Mord als Tor zum Erfolg.
Weil Flynn über diese neue Entwicklung Velma vollkommen vernachlässigt, reagiert diese eifersüchtig, da ihr eigener Stern und damit die Chancen auf einen Freispruch am Sinken sind.
Bei Roxies Prozess geben sie und Flynn eine hanebüchene Tränendrüsen-Story zum Besten und benutzen alle Tricks, die eigentlich für Velmas Prozess vorbereitet waren. Roxie wird tatsächlich vom Mordvorwurf freigesprochen. Dieses Urteil geht aber im allgemeinen Trubel unter, denn schon sind die Reporter der Klatschblätter einem neuen Mordfall mit einem neuen „Star“ auf den Fersen und auch Roxie wird so – wie Velma – mit der Schnelllebigkeit der Boulevardpresse konfrontiert.
Beide schließen sich daraufhin zusammen und erfüllen sich ihren Traum: Sie treten gemeinsam in ihrer eigenen Show auf.
Musik
Die Musik von Chicago ist absolute Wohlfühl-Musik mit Mitwipp-Faktor. Jazz, Swing, Bigband-Sound, der aber nie experimentell-anstrengend ist, zwischendurch lateinamerikanische Anleihen wie im Cell Block Tango: Da kann jeder mitgehen und eintauchen in die Zeit der 20er Jahre.
Und natürlich wird diese Musik vertanzt. Hier wird gesteppt, was das Zeug hält, Choreografen können sich hier vollkommen frei austoben.
Das ist peppig, das ist spritzig. Das ist gute Laune, das ist Augenzwinkern, das ist das pralle Leben, immer wohldosiert unterbrochen von wunderschönen, weil harmonischen Balladen und Duetten.
Interpretation
Erstaunlich ist, dass das Stück – uraufgeführt 1975 – zeitlos aktuell scheint. Sobald man die Klatschpresse aufschlägt, wird man konfrontiert mit Schlagzeilen, von denen keiner weiß, ob sie richtig sind. Ganze Industrien ernähren sich von Geschichten über Promis, die vielleicht stimmen, vielleicht nicht, die geschönt sind und auf den Leser zugeschnitten. Zeitungsredakteure, Paparazzi, Berater, Manager und Anwälte sind immer auf der Suche nach einer Story, bei der der Wahrheitsgehalt nicht so wichtig ist wie die Emotionen, die sie auslösen kann.
Paris Hilton hat es in den 2000ern vorgemacht: Man kann berühmt sein fürs Berühmt-Sein. Und im Zeitalter von Instagram ist das 20 Jahre später schon keine Besonderheit mehr.
Aber was darf als Grundlage für Ruhm benutzt werden? Gibt es eine Grenze des guten Geschmacks? Im Chicago der 20er Jahre war Mord an der Tagesordnung. Ist ein Mord Unterhaltung? Was genau ist dann Unterhaltung und wo ist die Grenze des guten Geschmacks? Worauf darf Ruhm und Reichtum gründen?
Ist es legitim, für den eigenen Erfolg zu schummeln? Darf man sich jünger machen wie Popstar Anastacia? Eine Scheinehe eingehen wie Schlagersänger Rex Gildo? John Kander und Fred Ebb treiben diese Frage auf die Spitze und im Chicago der 20er Jahre muss man sich diese Frage durchaus stellen: Gesellschaftlicher Aufstieg durch Mord?
Der Prozess, in dem Roxie schussendlich freigesprochen wird, entlarvt das ganze Gewerbe: Es ist alles ein großer Zirkus. Der Anwalt ist der peitschenschwingende Zirkusdirektor, der alle und alles im Griff hat. Die Geschworenen sind das bunte Volk der Zirkusleute.
Es geht um Unterhaltung, um nichts anderes. Kommen sie, staunen sie und lassen sie ihr Geld dafür da. So ist es gar nicht verwunderlich, dass keiner mehr den Ausgang mitbekommt. Ob Roxie freigesprochen wird oder nicht, ist zweitrangig. Das ist alles so schnell„lebig“, dass bereits der nächste Mord die ganze Show wieder auf Null setzt, in der Hoffnung, es werde noch spektakulärer.
All that jazz – die erste Nummer des Stückes und auch die letzte, ist bezeichnend für das Thema des Musicals: Es ist ja nicht nur Hommage an die vorherrschende Musikrichtung, sondern bedeutet in der Übersetzung auch Das ganze Zeug/ Der ganze Quatsch“. All das Zeug, das im Leben auf einen wartet, im Gegensatz zu dem, was geschrieben und gefordert wird. Der ganze Müll und der ganze Glamour dicht an dicht.
Locker-lässig, mit viel Ironie und Witz ist dieses klassische Musical unserer Zeit abseits der Musik erstaunlich nahe.
Inszenierung und Choreographie: Gaines Hall
Gaines Hall inszeniert Chicago passend für die Freilichtbühne sehr raumgreifend. Das Ensemble sowie das Bühnenbild nutzen gekonnt die gesamte Fläche. Alle Gewerke greifen passend ineinander.
Ausstattung
Die Kostüme sind vielfältig und individuell. Es dominiert an allen Ecken und Enden der Glitzer. Aleksandra Kica versucht keine Experimente, sondern orientiert sich am Kleidungsstil der 20er Jahre. Fransen und Glitzer, Boas und lange Handschuhe verbreiten Glamour, und das für jedes Ensemblemitglied sehr individuell.
Die Prozess-Szene als Zirkuselement ist eine Augenweide. Da sieht man Clowns mit übergroßen Schuhen sowie alle Arten an Zirkusartisten in spannender kreativer Vielfalt.
Bühnenbild: Harald B. Thor
In einem großen Halbrund ist quasi das Gefängnis mit seinen einzelnen Zellen zu sehen, die in zwei Reihen übereinander angeordnet sind. Diese vergitterten Zellen haben was von Schaufenster. Wechselt die Stimmung von Knast auf Glamour, wird in jeder einzelnen Zelle ein silbern schimmernder Vorhang zugezogen, so dass das große Halbrund eher wie eine große Leinwand oder die hoch aufragende Bühne eines Theater anmutet. Dorthinein wird dann einmal Roxies Name projiziert.
Davor auf der Drehbühne gibt es einen balkonartigen Aufbau, der von links und rechts über jeweils eine Treppe begehbar ist sowohl auf der einen Seite als auch auf der anderen – um 180° gedrehten – Seite bespielbar ist. Darunter finden wir quasi das Gefängnis-Entrée. Rechts von diesem Aufbau gibt es eine Showtreppe und daneben noch eine kleine halbrunde, mit einem Vorhang verhängte Drehbühne. Sie ist Schauplatz von Flynns Büro, aber auch zum Beispiel Roxys Schlafzimmer. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Nebenschauplatz.
Eine pfiffige Idee ist es auch, das Orchester, das wie immer eingehaust auf der Bühne am linken Seitenrand Platz findet, ebenfalls hinter Gitter sitzen zu lassen und somit bildlich in die Szenerie einzufügen.
Es ist ein eher klassischer Aufbau, er ist zweckdienlich und fügt sich optisch sehr gut in die Kulisse des historischen Gemäuers der Augsburger Freilichtbühne ein.
Choreographie
Die Choreographie ist überaus klassisch gehalten und ist sehr gefällig. Man sieht steppenden Menschen einfach gerne zu.
Als die Insassinnen nach und nach ihre Geschichten erzählen, ist dabei immer ein Tanzpaar auf der Bühne, das diese Geschichte in ganz einfacher Weise verbildlicht. Ein roter Fächer spielt dabei eine wiederkehrende Rolle und das war sehr eindrücklich. Genauso wünsche ich mir Theater.
Die Pressekonferenz, die Roxie gibt, ist augenscheinlich eine Farce. Gaines Hall setzt Roxie in eine Schaukel. So kindlich unschuldig wie sie damit daher kommt, sind ihr die Sympathien der Reporter sicher. Außerdem hängt diese Schaukel an Federseilen. Flynn im Hintergrund ist es, der diese kontrolliert und im übertragenen Sinn die Fäden in der Hand hält.
Die steppenden Damen in den den Gefängniszellen sind mir im Gedächtnis geblieben sowie die kunterbunte Zirkusszene am Ende.
Kritik
In sich perfekt aufeinander abgestimmt, aber…
Letzte Woche in Ulm hat eine super Inszenierung und eine genial kreierte Atmosphäre mit wahnsinnigem Orchestersound eine eher mittelmäßige Story zu einem Highlight gemacht. Hier in Augsburg gehts anders herum: Ein Knaller-Musical, das voller Schwung, Elan und stellenweise großem Witz daher kommt, wird ausgebremst von einer eher zahnlosen Inszenierung.
Wie oben schon beschrieben, passt alles ineinander. Alles hat den gleichen Drive, den gleichen Elan und ist deshalb in sich perfekt aufeinander abgestimmt, aber es ist mir einfach zu wenig von allem.
Bitte lauter!
Das Orchester ist zu leise. Dieser wunderbare Bigband-Sound, den die Augsburger Philharmoniker unter der Leitung von Justin Pambianchi auch wirklich ordentlich hinbekommen, hat einfach für die flotte Geschichte zu wenig Wumms. Natürlich ist es ungleich schwieriger, so eine große Freilichtbühne zu be„tonen“. Aber mir klingt das persönlich zu verhalten. Und wird zum Beispiel einer Katja Berg auch nicht gerecht. Ich hatte das Gefühl, sie spielt den ganzen Abend gegen diese zahme, eher gedeckte Stimmung an. Viel zu überbordend ist ihr Talent, ihre Stimme, ihr Bewegungstalent (siehe eigenen Unterpunkt). Sie zeigt es, ja, aber ich hatte das Gefühl, dass das drumherum sie ausbremst.
Einerseits perfekt, andererseits…
Das Stück lebt unter anderem vom Gegensatz von Knast und Glamour. Das ist auch sehr schön angedeutet. Die Knastdamen tragen ihre blaugrauen Mantelkleider, die Gitterstäbe sind so trostlos. Da spielt der Bühnenaufbau auch sehr gut rein. Die übereinandergestapelten Zellen, das hat so was von gesichtsloser Massenabfertigung. Hier im Knast ist das Leben gleichgeschaltet, es tragen alle Insassinnen auch die gleiche Kleidung.
Auf der anderen Seite wird der glitzernden Seite des Lebens gehuldigt. Da geht es um den Glamour, den Starruhm, den die Presse errichtet. Da sind die Insassinnen dann alle in verruchtem Schwarz. Verrucht, sinnlich, sexy: im Glamour spiegeln sich die ganze zügellose Seite, die instinktive, die verführerische. Wer verführt hier wen? Die Presse die Damen oder die Damen die nach Skandalen trachtenden Leser? Das ist mir hier alles nicht nur optisch ein bisschen zu wenig. Da ist mir schon die Choreografie zu brav, zu wenig lasziv. Da fehlt mir das „Geh-aufs-Ganze“. Ich vermisse die Skrupellosigkeit in diesen Szenen.
Die Presselandschaft ist skrupellos in ihrem Enthüllungswahn, die einsitzenden Damen waren skrupellos bei ihren Verbrechen, das Schicksal zeigt sich für eine erbarmungslos. Und da fehlt mir dann der Bogen zur Skrupellosigkeit in der Laszivität, in der Sinnlichkeit.
Glamour ist Glitzer?
Überdies ist Glanz und Glamour nichts, was sich automatisch einstellt, wenn die Darsteller überall am Kostüm Glitzer haben. Glamour ist ein Lebensgefühl, eine Atmosphäre. Die möchte ich überall sehen und spüren. Das Bühnenbild, so passend es auch für die Gefängnisszenen war, hätte deutlich mehr Glamour versprühen können. Da war die Lichttechnik ein wenig verhalten. Auch die Treppe, die entweder Zeugenstand oder Showtreppe ist, hätte gerade am Ende einfach noch ein wenig mehr Pfiff verdient, LED-Beleuchtung oder irgendwas.
Die Kostüme des Ensembles waren in gerade in der Anfangsszene hatten für mich etwas von einem beliebigen Durcheinander. Jedes einzelne war unterschiedlich und individuell. Das ehrt die Kostümbildnerinnen und Gewandmeisterinnen, weil sie viel Zeit und Kreativität haben fließen lassen. Jedes Kostüm ist für sich auch wirklich gelungen. Wenn ich das richtig erkannt habe, sind die Handschuhe ein wiederkehrendes Element, aber auch die unterscheiden sich bei allen farblich.
Glamour ist für mich aber auch überbordender Überfluss. Wenn alle das gleiche tragen, wenn einem visuell klar wird, dass hier ein Mehr auf der Bühne ist. Nicht zwei gleiche Tänzer, sondern vier, sechs, zehn oder zwölf. Das hätte für mich Glamourfaktor. Der Überfluss wird augenscheinlich, das hat was Verschwenderisches.
In den Szenen, in denen alle die gleichen Kostüme getragen haben oder zumindest paarweise die gleichen, war da viel mehr zu spüren.
Da machen die Männertanzszenen schon allein deshalb was her, weil eben die in der 6er Besetzung alle gleich gekleidet sind. Wie Roxie ja auch von sich gibt:
Ich werde mir einen Mann nehmen, nein, zwei, ach was rede ich, eine ganze Menge…
In der Geschichte geht ja darum, dass das individuelle Schicksal nicht interessiert, dass da verschleiert und gelogen wird. Das Innere ist egal, es wird zurechtgestutzt, bis es massentauglich ist. Das Einzelschicksal ist nur dann interessant, wenn er massentauglich verkauft werden kann.
Gleichgeschaltet wie im Knast finden sich die Damen auch in der Glamourwelt. Da ist es vollkommen egal, dass Flynn die ganzen Tricks für Roxie vor Gericht benutzt. Es ist egal, es geht nicht ums Individuum. Auch aus diesem Grund fand ich diese individuellen Kostüme schon nicht passend. Aber es kann ja sein, dass die Ausstatter das absichtlich als Gegensatz gestaltet haben.
So, jetzt hab ich lange und ausführlich kritisiert. Im abschließenden Fazit muss ich aber sagen, dass die Inszenierung deswegen nicht schlecht ist. Das ist gute Unterhaltung und vor allem: es ist familientaugliche Unterhaltung. Da kann man die 10jährige genauso mit hinnehmen wie die 83jährige Omma. Keiner wird je erröten oder beschämt zu Boden schauen. Das macht das Theater Augsburg insofern ganz richtig, wenn eine möglichst breite Zielgruppe angesprochen werden soll.
Es ist – wie alles in der Kunst – einfach Geschmacksache. Es ist gut gemacht, es ist in sich stimmig und alles passt zueinander. Die Darsteller sind sehr gut. Es swingt (wenn auch zu leise), und ist gefällig. Aber mir war es zu zahnlos, zu bieder, zu harmlos.
Da aber das Musical Potential für so viel mehr hat, finde ich es schade, dass man das nicht oder nur teilweise nutzt. Mit so einer grandiosen Vorlage hätte sich mehr anstellen lassen als diese Inszenierung, die, ich betone es nochmal, wirklich gute Unterhaltung ist. Aber auch nicht mehr.
Darsteller
Roxie Hart: Katja Berg
Ich habe selten eine so umwerfende, perfekte Darstellung gesehen, wie Katja Berg sie als Roxie Hart abgeliefert hat. Da passt einfach alles. So mühelos gelingt ihr, die verschiedenen Seiten dieser Figur zu zeichnen. Roxie Hart ist so kindlich naiv. Da sitzt Frau Berg x-beinig auf den Stühlen, rollt ihre großen Kulleraugen mit offen stehendem Schmollmund. Aber sie kann auch berechnend sein. Sie liebt, aber zeigt oft auch innere Distanz. Oft denkt man, sie ist nicht die hellste Kerze auf der Torte, wenn sie bis in die höchsten Töne überrascht quietscht-, dann wieder versteht sie das Spiel mit der Presse perfekt und wird dramatisch-theatralisch. Sie hat einen Liebhaber und lebt wohl eher unkonventionell, bemüht aber auch immer ihren Glauben über diverse Stoßgebete. Sie ist überrascht und erschrocken, aber auch abgebrüht und zielorientiert.
Naiv-ironisch singt sie, als Amos sie bei der Polizei verrät: was fällt dem ein, ist das nicht gemein? und übersieht ihre damit ihre tatsächlich Verantwortung vollkommen.
Katja Berg macht diese Figur so authentisch. Und so charmant. Heißt es Mord ist in Chicago kein Verbrechen, sondern Unterhaltung, dann nimmt man ihr genau das ab. Sie erschießt ihren Liebhaber, aber man ertappt sich dabei, dass man selber denkt: So schlimm war das nicht, die ist so süß.
Man weiß nie genau, woran man ist. Was ist echt, was nicht? Was gibt Roxie vor, zu sein, weil sie es möchte, was gibt sie vor, zu sein, weil sie keine Wahl hat? Und was ist sie selbst? Katja Berg macht aus Roxie Hart die Evelyn Burdecki der 20er Jahre.
Die Frau hat eine unerschöpfliche Energie. Sie singt, sie tanzt und ihre Mimik und Gestik gerade in den lustigen Momenten sind grandios.
Ganz große Kunst von einer großen Künstlerin.
Velma Kelly: Sidonie Smith
Gegen Katja Berg fällt Sidonie Smith ein wenig ab. Das hat aber mehr mit der überragenden Leistung von Katja Berg zu tun. Sidonie macht ihre Sache mehr als gut, wobei sie ihre stärkeren Momente eher in den Gefängnis-Szenen hat als in den Glamourszenen. Da ist sie ein wenig authentischer, aber sie legt diese Rolle auch so an. Velma ist nicht so fein und naiv wie Roxie, sondern ein bisschen berechnender, ein bisschen herrischer, etwas mehr Verbrecherin als Roxie. Nicht ganz so charmant und verspielt, ein bisschen plumper und kühler. Das hat Sidonie sehr clever gelöst: So leuchtet dem Zuschauer ein, warum der Anwalt sich später auf Roxie und ihren Fall stürzt. Roxie ist da die erfolgversprechendere, weil lieblichere Variante.
Zu Beginn fand ich sie ein wenig zurückhaltend. Gesanglich zu jeder Zeit einwandfrei, gefallen mir ihre ruhigeren Stücken am besten. Das Duett mit Marianne Larsen zu Beispiel war unfassbar schön.
Billy Flynn: Alexander Franzen
Ich mag Alexander Franzens Stimme unheimlich. Die hat eine tolle Stimmfarbe und wohl von Natur aus ganz viel durchdringende Energie. Und mit genau dieser Energie stattet er den berechnend-kreativen Anwalt Billy Flynn aus. Es sieht so aus, als fühle er sich in dieser Rolle auch überaus wohl. Der windige Anwalt, der immer auf das beste Pferd setzt, mit allen Wassern gewaschen ist und dem die Wahrheit herzlich egal ist. Der seine – lukrative – Arbeit macht.
Dabei ist er skrupellos, aber gar nicht so schmierig, wie man sich das vielleicht denken könnte. Eher so schnoddrig. Oft dachte ich mir, er wäre der bessere Aufseher über die Insassinnen des Gefängnis. Während Mamma Morton ja eher kumpelhaft auftritt, hat Flynn seinen Laden ganz anders im Griff. Daran lässt er auch keinen Zweifel: So tritt er auch schon zu Beginn im Kostüm des Zirkusdirektors auf und legt da schon seine Rolle im Stück fest.
Alexander Franzen hat diese Rolle und das Publikum auch stimmlich im Griff, eine wirklich tolle Darstellung.
Mamma Morton: Marianne Larsen
Marianne Larsen ist die Studiengangsleiterin Musical in der Theaterakademie August Everding.
Ihre Mamma Morton tritt auf mit langen Fasanenfedern am Kragen des roten Mantels und fügt sich so ein die die Scheinwelt des Glamour. Im Knast ist sie eine eher burschikose Gestalt und die Schaltstelle, über die alles läuft. Sie hält bei jeder Gefälligkeit für ihre Damen die Hand auf, fühlt sich aber den den Insassinnen verbunden. Man hat den Eindruck, als hätte sie Verständnis, dass die Dinge so ablaufen und wenigstens einige Damen Profit rausschlagen können.
Das Duett Class mit Sidonie Smith ist wundervoll, ein ruhiges Highlight im zweiten Teil. Die beiden Darstellerinnen singen in dem Stück über die fehlende Moral der Gesellschaft. Perfekt harmonieren da die Stimmen der beiden, man kann seine Ohren darin baden, so schön ist das.
Conferencier: Cedric Lee Bradley
Oh, Bradley hat mir sehr gut gefallen. Er war so geschmeidig, so perfekt, so glamourös. Er bringt genau das, was das Stück an natürlichem Glamour braucht einfach durch die Art, sich zu bewegen. So leichtfüßig, so elegant und so charmant. Sein Akzent ist perfekt passend. Ich hab natürlich keine Ahnung, ob dieser Akzent nach Chicago passt, aber für mich ist das so das Bindeglied in das Land, wo diese Geschichte stattfindet.
Als Conferencier hält er die Geschichte zusammen und ich kann es nur nochmal sagen: Cedric Lee Bradley macht das perfekt.
Amos Hart: Pascal Herington
Nach Katja Berg die beste Darstellung des Abends. Dieser Amos ist – wie Katja Berg schon eingangs singt – nicht sehr schlau. Aber wie Pascal Herington den Funny Honey, in der deutschen Übersetzung den Schussel-Dussel, verkörpert… genial! Schon allein die Haltung und die Mimik. G’schau sagt man bei uns. Herrlich. Der Mann ist ein klassischer Verlierer: Beständig spricht ihn Flynn mit falschem Namen an. Er weiß das auch selbst und entschuldigt sich beim Publikum (ich hoffe, ich habe sie nicht zu lange aufgehalten) und bekommt nach seinem Solo nicht mal mehr eine Abgangsmusik. Das tut ihm aber nur bisweilen weh. Er findet sich damit ab, wie er sich mit so vielem abfindet in seinem Leben.
Als Zellophan-Mann weiß er um seine Unsichtbarkeit.
Ein klassisches Stehaufmännchen mit ganz großem Herz und gepaart mit dieser Naivität war das herzzerreißend. Seine Liebe und Loyalität zu Roxie ist nur schwer nachzuvollziehen, aber das macht ihn so sympathisch. Irgendwie weiß er auch nicht, was und wie es passiert, aber Roxie ist seine Konstante. Die, die ihn nicht übersieht. Oder zumindest nur ab und zu.
Es war eine umwerfende Vorstellung von Pascal Herington. Seine Stimme war fantastisch. Ich habe in jeder Sekunde mit ihm gefühlt und mit ihm gelitten und man kann einem Darsteller ja wohl kein größeres Kompliment aussprechen, oder?
Mary Sunshine: Chris Kolonko
Der Travestiekünstler ist in Augsburg äußerst bekannt und beliebt. Leider kann er in der eher kleinen Rolle nicht wirklich Akzente setzen. Das einzige Lied gelingt darüber hinaus auch nicht an jeder Stelle einwandfrei. Aber trotz allem ist Chris Kolonko eine beeindruckende Persönlichkeit, der man relativ hypnotisch mit den Augen folgt. Eine tolle Gestalt in wundervollen Outfits, die er/sie mit Verve tragen kann!
Fazit
Das Augsburger Theater bringt mit Chicago einen Klassiker der Musicalwelt auf die wunderschöne Freilichtbühne. Ich kann es empfehlen als launige Unterhaltung in wunderschöner Kulisse. Die aufeinander abgestimmten Gewerke sowie die Darsteller gefallen als Gesamteindruck und bieten einen schönen Abend für eine breite Zielgruppe. Mir war die gesamte Inszenierung zu harmlos, sie hatte mir zu wenig Biss, war mir zu wenig spitz in der Ausgestaltung.
Weiter Aufführungstermine bis 31.7.2021 auf der Homepage zu finden. Achtung: Stand heute, 25.6., sind alle Vorstellungen ausverkauft!
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