Musical 1 nach Dauer-Lockdown
Lange Monate sind zäh vergangen, in denen ich und ihr mit Sicherheit auch, höchst abstinent gelebt haben. Musiktheater-abstinent natürlich. LiveStreams mildern das ganze zwar ein wenig ab, bringen aber nicht das nötige Feeling eines Theaterbesuches.
Und dann das: das erste Musical nach dem Lockdown und dann gleich so ein Hammer: Dracula von Frank Wildhorn in wunderschöner Kulisse auf der Wilhelmsburg in Ulm. Mit Berufsvampir Thomas Borchert in der Hauptrolle und Allzweckwaffe Patrick Stanke prominent und den Damen Alexandra-Yoana Alexandrova und Navina Heyne absolut top besetzt, war das ein Leckerbissen. Und das nicht nur, weil ich ausgehungert war!
Dracula – das Musical
Dracula wurde von Frank Wildhorn geschrieben und 2005 deutschsprachig in St. Gallen in der Schweiz erstaufgeführt (Uraufführung 2001 in San Diego).
Inhaltsangabe
Das Musical ist eng angelehnt an den Briefroman Dracula von Bram Stoker. Es geht um den Grafen Vlad Dracula, der, aus Transsilvanien kommend, in London eine Immobilie kauft. Sein Beauftragter für dieses Geschäft ist Jonathan Harker. Als Dracula ein Bild von Harkers Verlobten Mina erblickt, nimmt sein Leben eine entscheidende Wende: Der Vampir sieht in ihr die Inkarnation seiner verstorbenen Frau und setzt alles daran, Mina für sich zu gewinnen. Diese wiederum verfällt dem charismatischen Grafen immer mehr. Auf dem Weg zum Glück mit Mina macht Dracula noch deren Freundin Lucy zum Vampir. Das ruft Vampirjäger Van Helsing auf den Plan.
Dieser tötet zusammen mit ihrem Ehemann und zwei weiteren ehemaligen Verehrern Lucys zunächst Lucy selbst, bevor sie weiteres Unheil anrichten kann, und dann Mina aus der unheilvollen Liebe zu Dracula retten will.
Dracula erkennt schlussendlich, dass er für Mina eine Liebe empfindet, die sein ganzes Dasein in Frage stellt. Er bittet Mina, ihn von seinem kläglichen Leben voller Blut und Tod zu erlösen. Mina durchbohrt ihn mit einem Dolch.
Schwächen der Story
Ich persönlich kann mit der Geschichte innerhalb des Musicals nur bedingt etwas anfangen. Auch, wenn sie sich eng an die Romanvorlage hält, finde ich sie innerhalb des Musicals schlecht erzählt. Eine umfassende Entwicklung der Figuren, auch der Hauptfiguren, fehlt. Alles geht einen Ticken zu schnell, der Zuschauer sieht sich immer wieder mit Tatsachen konfrontiert, die keine Zeit hatte, sich zu entwickeln. Man hat öfter die Idee, man habe jetzt irgendwo einen erklärenden Moment verpasst.
Die Geschichte entwickelt sich an manchen Stellen über gesprochene Erläuterungen. Also Stellen, an denen Teile der Handlung innerhalb eines Gespräches weitergeführt werden oder in denen Teile offenbar werden, die nicht unmittelbar Teil der gesungenen und gespielten Handlung sind.
Mina zum Beispiel unterhält sich mit Lucy darüber, dass man auf dem Meer ein Schiff ausgemacht hat, auf dem keine Seemänner mehr waren, außer der Kapitän, der aber am Steuerrad festgebunden war. Von diesem sei bei der Ankunft ein riesiger schwarzer Hund gesprungen und verschwunden. Sie nehmen damit Bezug auf die Tatsache, wie Dracula mit dem Schiff aus seiner Heimat nach London gekommen ist. Ob diese Verbindung sich aber tatsächlich den Zuschauern – also hauptsächlich den unkundigen Erstzuschauern – so offenbart, bleibt zu bezweifeln.
Von Dracula gibt es zwei Textversionen: Die auch in Ulm gespielte Urversion von Roman Hinze und eine zweite, die bei der österreichischen Uraufführung in Graz genutzt wurde und von Herwig Thelen geschaffen wurde. Die zweite Textversion ist für mich die eindeutig bessere. Sie erzählt ein wenig mehr aus, bringt bestimmte Aspekte der Geschichte deutlicher auf den Punkt und auch die Entwicklung der Gefühle werden an manche Stellen klarer. Schade, dass man nicht auf diese Version zurückgegriffen hat.
Das Ende ist ein sehr sehr plötzliches. Meine Dracula-unkundige Begleitung war davon jedenfalls vollkommen überrascht, dass sich die Geschichte im letzten Lied nochmal so dramatisch ändert und dann sofort endet.
Auch deswegen holt mich diese Geschichte rein inhaltlich nicht ab. Es bleibt in der Hauptsache düster, konfliktreich, unheimlich. Die große Liebe, diese umfassende romantische Liebe, für die Dracula sich am Ende opfert, bekommt ihren Platz über wunderschöne Lieder, bettet sich aber relativ gleichberechtigt zwischen die anderen Handlungsstränge um Lucy und Van Helsing. Das Musical mäandert da so vor sich hin und für die nur langsam ansteigende Spannung fällt der Höhepunkt dann tatsächlich unvorbereitet und kurz aus. Als Zuschauer bleibt da bei mir eine innere Distanz, ich kann da nicht so mitgehen, wie diese Liebesgeschichte es eigentlich verdient hätte.
Die Musik
Stark ist dieses Musical trotz alledem. Denn die Musik ist wirklich großartig. Die Musik trägt das Stück und die Musik trifft das Herz der Geschichte.
Die zarte romantische Liebe zwischen Mina und Jonathan spiegelt sich in Whitby Bay wieder. Draculas Bräute sind quasi aus einer anderen Welt und so klingen auch ihre Lieder. Oft mit eher ungewöhnlichen Intervallen, mit dem lateinischen Text. Dass Mina und Lucy ganz gewöhnliche junge Frauen mit Sinn für Humor sind, hören wir in Wie wählt man aus.
Dracula zu Hause sehen und hören
Das Musical „Dracula“ gibt’s nun endlich auch in der Fassung aus Ulm als CD, DVD und BluRay bei Sound of Music* und Amazon*.
Der verantwortungsvolle Jonathan besingt ruhig gegen Ende sein Schicksal und was er bereit ist, zu tun, um seiner Verantwortung gerecht zu werden.
Aber die ganze Energie, quasi die Jahrhunderte überdauernde Kraft der Vampire, ballt sich in Draculas Liedern. Diese rockigen Nummern schleudern ihre ganze Kraft nach außen, erzeugen einen Sog, ganz wie der Vampir auf Mina. Lucy erwacht mit einer solchen Energie ins Leben der Untoten bei Leb noch einmal, dass man spürt: hier geht kein Leben zu Ende, hier beginnt etwas mit einer schier unerschöpflichen Kraft, unendlicher Energie.
Mein persönlicher Höhepunkt ist da das Duett von Dracula und Van Helsing. Ein kunstvoller, energischer Kampf, der mich auch rein auditiv genauso fordert wie die beiden Figuren auf der Bühne. Klingt stellenweise wirklich wie ein Gefecht.
Da verzeiht man Frank Wildhorn auch, dass er relativ schamlos von seinem eigenen Meisterwerk Jekyll & Hyde abgekupfert hat. Dramatisch ähnlich sind sich da Sein Lebenswerk (Jekyll & Hyde) und das hier von Van Helsing gesungene Nosferatu. Aber gut, besser gut abgeschrieben als schlecht neu komponiert.
Inszenierung – Regie: Alex Balga
Atmosphäre
Alex Balga erzählt meist sehr ausführlich und bildgewaltig, gerne auch explizit.
Er findet hier in Ulm auf der Burg besondere Bedingungen und nutzt sie perfekt: Die Wilhelmsburg wurde zwischen 1842 und 1859 Festungsring zur militärischen Absicherung erbaut und ist heute Deutschlands größtes erhaltenes Festungsensemble. Sie liegt auf einem Berg hoch über der Stadt. Wo verortet man Dracula besser aus auf einer Burg? Vor welchem Hintergrund stellt man sich sein Treiben besser vor als vor diesem dicken, alten Gemäuer? Schon allein die Umgebung schafft von Beginn an diese besondere Atmosphäre, die es einem leicht macht, sich gedanklich in eine ferne Zeit zurückversetzen.
Ich komm aus der Dunkelheit – aus einer fernen Zeit
singt Dracula schon zu Beginn und man kommt nicht umhin, festzustellen, dass passend zu diesem Zitat neben dem Ort und auch die Aufführungszeit perfekt gewählt wurde. Start in Ulm für Dracula ist 20:30. Da ist es zwar noch hell, aber schon nach der Pause findet man sich in tiefer Dämmerung und bald in gräflicher Dunkelheit wieder. Das macht es wirklich noch mal ganz anders interessant, spannender, und zieht einen noch mal ganz anders in die Geschichte rein. Genauso wie der ständig hörbare Wind. Hier macht sich die Tonabteilung schon vor Vorstellungsbeginn sehr viel Mühe, dem Zuschauer das passende Feeling unterzujubeln. Man glaubt außerdem beständig, Fledermäuse flattern zu hören.
Die Beleuchtung ist ebenfalls perfekt auf das Ereignis abgestimmt. Vorherrschend ist eisblaues Licht, es wirkt kühl, unnahbar, geheimnisvoll. In den Burgfenstern hinter der Bühne stehen Kerzen, die gegen Ende stimmungsvoll leuchten.
Dass hier so dicht atmosphärisch gearbeitet wurde, trägt einen großen Anteil daran, dass ich diesen Abend als herausragend empfand.
Eine Freilichtbühne in dieser Breite wie die auf der Wilhelmsburg zu bespielen, ist sicherlich eine Herausforderung, hat der Regisseur aber sehr gut gelöst.
Bühnenbild
Auf der Bühne gibt es einen durch Wände angedeuteten Raum, jede einzelne Wand ist mit einer Doppeltüre versehen. Dieser angedeutete Raum ist das Herzstück der Bühne. Links und rechts davon ist ebenfalls noch – etwas erhöht – noch Platz, der bespielt werden kann. Von dort kommt man auch über Treppen noch ein Stockwerk höher: Über dem genannten Szenario thront Draculas Sarg. Ein schwarzes Tuch, das dahinter drapiert wurde, lässt die Vampirschlafstätte von weitem aussehen wie eine Fledermaus.
Diese Art Tücher – Stoffbahnen trifft es eher – ziehen sich durch die gesamte Inszenierung. Sie wehen (Wehe!), verdecken, verschlingen, übermannen.
Als Jonathan Harker von Dracula gebissen wird, wälzt er sich schmerzverzerrt in einem blutroten Tuch, versinkt darin. Auch schwarze Stoffbahnen sind immer wieder im Einsatz. Wie Wellen versuchen sie, wellenartig ihre Figuren zu übermannen. (Ich verweise hier gerne auf den Trailer vom Stück. Bei 0:53 bekommt man einen Eindruck dieser Stoffbahnen.)
Ein verschiebbares Podest, das ähnlich einem doppelten Tor gestaltet wurde, ist noch ein weiteres Ausstattungsdetail, das sofort auffällt. Dracula wird darin auf die Bühne gebracht, das Tor ist Teil seines Schlosses. Es ist das Tor zu seiner Welt. Jonathan findet sich darin ebenfalls einmal wieder, findet aber keinen Ausweg. (Trailer 0:47)
An Ausstattung braucht es darüber nicht allzuviel mehr als ein Bett und diverse Alltagsmöbel und Gegenstände. Aus mehreren Koffern werden bei der Zugfahrt die Sitzplätze des Zuges geschaffen, immer gebracht und umgebaut von dunklen Gestalten.
Egal, wann es auf der Bühne etwas zu bauen, zu schieben oder zu verändern gibt, sind diese finsteren, das Gesicht mit Tüchern bedeckten Gesellen am Werk. Sie verleihen der düsteren Stimmung noch einmal klein wenig mehr an Unheimlichkeit. Als dunkle Gestalten, eben nicht individuell und damit gesichtslos, schwer greifbar, aber immer präsent, tragen sie perfekt zur Gesamtstimmung bei, die das Musical verbreitet. Diese finsteren Mächte sind um die Figuren herum, jederzeit tauchen sie auf, sind präsent, ohne, dass sie den Figuren der Geschichte ins Bewusstsein dringen. Es ist, als würden sie dem Schicksal die Bahn bereiten.
Kostüm
Schwarz dominiert hauptsächlich die Garderobe des Ensembles und des Chores, der schon in der Ouvertüre bildlich zum Einsatz kommt: Alle ganz in schwarz und – Bravo an die Kostümabteilung – sehr individuell gekleidet. Jedes Kleid ist unterschiedlich, wunderschön detailreich. Ich war mit Schauen genauso beschäftigt wie mit hören. Gefiel mir außerordentlich gut. Gleich hier zu Beginn verliert sich Mina zwischen diesen schwarzen Menschen und in deren choreografierten Laufwegen. Sie verirrt sich darin, wird sich im Laufe der Handlung darin verlieren.
Wie es in Live after Live im Originaltext heißt:
There’s no need to wear black.
Uns so sind auch hier zunächst Draculas Bräute wie gewohnt in weiß. Nachdem Lucy zum Vampir geworden ist und damit ebenfalls zu Draculas Bräuten gehört, wandelt sich auch ihr Outfit vom rosafarbenen Mädchentraum mit Puffärmeln zum weißen rockigen Vampirinnenlook mit Stehkragen.
Auch Mina trägt eine weiße Bluse, die wohl eher die Unschuld verdeutlichen soll, sowie einen blauen Rock: Blau steht in Grafik und Literatur für Ferne und Sehnsucht, und so deutet die Farbwahl schon darauf hin, dass es in ihrem Leben noch unentdecktes gibt.
Dracula selbst präsentiert sich zu Beginn in seinem Heimatschloss im folkloristisch-edlen roten-goldenen Mantel. Mina wird am Ende ebenfalls ein langes rotes Kleid tragen: seine Herkunft und ihre Ankunft verbinden sich hier.
Ab dem Zeitpunkt, an dem er sich in London aufhält, trägt er einen eleganten, aber unauffälligen schwarzen Gehrock.
Mir gefällt es außerordentlich, dass Thomas Borchert hier lange Haare trägt. Es steht ihm exzellent, es passt in die Zeit und wirkt dabei aber auch irgendwie klassisch-zeitlos.
Insgesamt gefällt dieses Musical mit klassischer, detailreicher Ausstattung.
Orchester
Die Musiker des Philharmonischen Orchesters der Stadt Ulm haben großartiges geleistet! Obwohl nicht sichtbar, weil hinter den Kulissen, waren sie für mich die, die den meisten Applaus einheimsen sollten. Da war so viel Dynamik im Spiel, so viel Drive in den schnellen Nummern! Es war eine große Freude, die wirklich tolle Musik so mitreißend serviert zu bekommen.
Da die Orchestrierung von keinem geringeren als Koen Schoots. stammt, passt hier wirklich alles perfekt. Für mich ein Hörgenuss der besonderen Art.
Darüber hinaus danke ich der Tontechnik, die sich hier schon rein Lautstärke-mäßig einiges getraut hat. Holla, die Waldfee, so einen Sound hab ich lange vermisst. Die rocklastigen Stücke wie Leb noch einmal oder Zu Ende gingen mir durch und durch. Eindringlich ist das Wort, dass das vielleicht am besten beschreibt.
Das Theater Ulm macht hier schon von Grund auf so viele Dinge richtig in Sachen Ausstattung und Orchester. Alex Balgas Regie war eindrucksvoll, gab den Darstellern viel Raum, viel Atmosphäre und damit das Rüstzeug zu einem rundum gelungenen Theaterabend. Die Cast war ebenfalls überaus fein und rundete das ganze zu einem vortrefflichen Gesamtpaket ab.
Darsteller
Jonathan Harker: Philip Schwarz
In Ulm, um Ulm und Ulm um herum kennt man Philip Schwarz wohl bestens: Wie schön, dass das Theater für diese Spielzeit den Darsteller verpflichten konnte, der in Ulm geboren wurde! Ich kannte Philip Schwarz von seinen Engagements in Bad Segeberg. Zurück in seiner alten Heimat zeigt er sich als Verlobter/ Ehemann von Mina als ruhiger, verlässlicher Begleiter seiner Geliebten. Besonders gefühlvoll gelingt ihm mit seiner Bühnenpartnerin das Duett Whitby Bay. Man spürt seine Liebe zu Mina als tief und romantisch, er erkennt aber auch die Verantwortung an, die die tiefe Liebe zu ihr mit sich bringt. In seinem ersten Lied war er leider schlecht zu verstehen, aber offenbar war die Tonregie da auf Zack. Danach war alles einwandfrei!
Graf Dracula: Thomas Borchert
Ein Wahnsinn. Ich bin tatsächlich kein ausgewiesener Borchert-Fan, schon gar nicht als Graf Krolock im Tanz der Vampire. Diesen Vampirgraf in Ulm aber hätte kein anderer besser spielen und singen können. Unfassbar wandelbar seine Stimme, die sogar innerhalb einer Liedzeile modulieren kann: von liebevoll-zart bis herausfordernd, von stolz-sicher bis verzagend. Sein stimmliches Volumen ist ja eh von jeher enorm. Er füllt diese Rolle aus bis ins letzte.
Ganz altersloser Untoter hat er eine körperliche Geschmeidigkeit, die einer Katze gleicht. Egal ob treppauf oder treppab oder fliehend vor Van Helsing: Die Agilität macht eine Menge von der Faszination für diesen Dracula aus. Schon im Roman wird davon geschrieben, dass Dracula eine Wand hinabklettert, als sei er eine Eidechse. Und genau das verkörpert Thomas Borchert.
Faszination für diese Darstellung ist das passende Wort. Thomas Borchert lässt diese Magie, dieses Mystische so lebendig werden. Ich war sprachlos. Man konnte das spüren, dieses Anziehende, diese Faszination, die er auf Mina ausübt und versöhnt mich an dieser Stelle ein wenig mit der Geschichte, die da weniger intensiv ist. Schon allein diese Darstellung wäre es wert, nochmal hinzufahren. Tiefster Respekt.
Van Helsing: Patrick Stanke
Van Helsing halte ich für eine spannende Figur, wird aber von der Geschichte, die sich auf die Liebesgeschichte konzentriert und auch noch Lucys Schicksal beleuchtet, ein wenig vernachlässigt. Die wenigen Lieder werden seiner Person nicht umfassend gerecht.
Aber! Der Herr Stanke zeichnet durch Spiel und Gesang die Figur doch deutlich facettenreich. Seine Motivation, Dracula zu jagen, basiert auf einem eigenen Verlust: Ähnlich wie Dracula hat Van Helsing seine große Liebe verloren. Roseanne starb früh und Für Roseanne erschaff ich eine bessre Welt. Dieses Lied gelingt ihm nachdenklich und zärtlich.
Van Helsing will Mina genauso helfen wie sich selbst. Seine Fürsorge für sie tritt stark hervor, genauso wie seine Neugier. Im Kampf gegen den Vampir bleibt er unerbittlich. Seine Energie ist eine andere als Thomas Borcherts und doch liefern sich beide in Zu Ende ein Duell auf Augenhöhe.
Mina: Alexandra-Yoana Alexandrova
Diese Frau ist ein Tausendsassa. Gibt es etwas, was sie nicht kann? Egal ob Dramaturgie, Fotografie, Singen, Modeln, Schauspielern… Ihr Talent ist überbordend. Für die Rolle der Mina ist sie perfekt: Sie bringt von Natur aus eine solche Zartheit mit. Eine Natürlichkeit, eine Zerbrechlichkeit, aber auch eine sprühende Energie.
Mina kann ganz in sich versunken sein, in ihr Gefühl, in ihre Liebe. Sie kann erschrocken sein ob ihrer Leidenschaft, verängstigt ob des Zwiespaltes. Sie liebt und sie kämpft und sie leidet. Das alles, diese ganze Klaviatur an Gefühlen, gelingt Alexandra-Yoana so leichtfüßig. Ihre Stimme hat eben diese angesprochene Zartheit bis in die Höhen. Ein Genuss!
Der Graf verfällt Mina ja sofort, da sie ihn an seine tote Frau erinnert. Alexandra-Yoanas Bewegung, ihre Grazie, ihre Art, einfach die Reinheit ihres Wesens passen so gut zu dieser Mina, der man dadurch auch abnimmt, dass der Graf sie an (s)eine Gräfin erinnert. Bravo!
Lucy: Navina Heyne
Minas Freundin Lucy ist Minas Freundin und scheint auf den ersten Blick die extrovertiertere, energetischere der beiden zu sein. Navina Heyne bringt das sofort schon in der Stimme rüber. Positiv-energetisch, unbedarft, sucht sie zu Beginn aus den drei Verehrern den richtigen aus, während sie sich mit Mina einen Joint teilt. Sie bringt die Vorzüge ihrer Freier auf den Punkt und präsentiert sich so als jemand, der abwägen kann im Leben, der eine Idee hat davon, eine Richtung. Bis sie gebissen wird von Dracula.
Dann ändert sich der Ton der Stimme. Da legt sie noch eine Schippe drauf und der Ton wird wilder, animalischer, noch kräftiger. Das hat mir so wahnsinnig gut gefallen. Als Vampir ist Lucy eher wildes Tier, primitiver in der Leidenschaft, ungebändigt. Wie sie mit Thomas Borchert Leb noch einmal singt, hat mich restlos begeistert.
Dr. Jack Seward: J. Emanuel Pichler, Quincey Morris: Thomas Schön, Arthur Holmwood: Robert Tilson
Die drei Verehrer Lucys sind per se ja sehr unterschiedlich angelegt, auch eher stereotyp, und genau so haben sich die drei Herren präsentiert:
Thomas Schön als Texaner Quincy hat allerdings am wenigsten Möglichkeiten, sich hervor zu tun, dazu ist die Rolle zu klein. Das, was er zu tun hat, macht er gut. Ein witziges Detail, von dem ich nicht weiß, ob es so geplant war, ist, dass man den schwäbischen Akzent deutlich raushört. Texas-Slang auf Deutsch übersetzt ergibt also schwäbisch! Phantastisch!
J. Emanuel Pichlers Rolle ist dagegen schon deutlich größer: Ganz mit dem Habitus eines damaligen Arztes versehen agiert er als Arzt der Irrenanstalt bedacht, abwartend.
Robert Tilson darf als Arthur Lucy ehelichen. Diese Rolle füllt er souverän. Er ist reicher Erbe, und mehr ist da auch nicht. Und genau so macht er das. Er steht meistens herum in seinem Samt-Gehrock, der ein wenig an einen Haus- oder Schlafanzug erinnert. Passend, denn der Herr Erbe hat ja den ganzen Tag nichts anderes zu tun als Erbe sein. So ein wenig desinteressiert an der Welt scheint er zu sein. Robert Tilson hat diese Rolle sehr gut gefüllt.
Im Zusammenklang waren die drei Männer allesamt wunderbar harmonisch.
Fazit
Mein Lieblingsmusical ist Dracula nicht, dazu ist mir die Story zu wenig zielführend umgesetzt. Schade, dass nicht die Grazer Textfassung zum Zuge gekommen ist. Die Musik allerdings liebe ich sehr und dabei bin ich vollkommen auf meine Kosten gekommen. Das Orchester ist der Wahnsinn, das hatte Verve und Wumms. Der Ort, die Atmosphäre und die darin galant eingebettete Inszenierung sind eine Wucht und holen wirklich alles aus diesem Musical heraus.
Ein ganz spezieller Abend für mich, so dass ich Dracula in Ulm ohne Abstriche empfehlen kann. Hingehen, ein wenig gruseln, genießen… und sich auf dem Spaziergang nach Hause immer mal wieder nach hinten umsehen, ob nicht vielleicht doch ein Untoter aus der Burg noch Hunger hat 😉
Weitere Aufführungen noch bis 23.7.
Alle Fotos vom Ehemann Joachim Schlosser.
Heidy Staudt
Herzlichen Dank für diese tolle Rezension, liebe Julia….. Jetzt habe ich NOCH mehr Lust auf Morgen Abend!!!
Julia Stöhr-Schlosser
Gern geschehen und viel Vergnügen bei der Vorstellung!
Ina
Sehr sehr gut getroffen. Das alles,
da oben auf der Burg, überwältigt einen schier. Man weiß teilweise gar nicht wohin, mit seinen Gefühlen.🤩
Julia Stöhr-Schlosser
Ja, ging mir auch so! Danke Ina!
Bernd
Perfekte Beschreibung. Ich war gestern in der Vorstellung…..und ebenfalls das erste Mal wieder bei einem Live-Musical seit C….
Die gesamte Bewertung kann ich fast komplett teilen. Ich möchte nur Thomas Borchert noch mehr hervorheben…..das war der absolute Hammer – mit Energie und Wucht gespielt und gesungen so, wie ich lange kein Darsteller mehr gehört habe (nicht C…. geschuldet, sondern auch davor schon)
Meine besondere Aufmerksamkeit würde ich aber noch gerne dem Team rund um die Location schenken. Ich fand die Organisation, der Ablauf und das gesamte Drumherum perfekt. Kostenloser Parkplatz, kostenloser Shuttlebus, zügige Abwicklung der Kontrollen, etc.
Riccardo van Krugten
Was für ein toller Bericht. Sehr kompetent und ausführlich. Eine Seltenheit.
Riccardo van Krugten – sound design.
Julia Stöhr-Schlosser
Vielen Dank!