Das Jahr 2022 geht zu Ende und ich möchte an dieser Stelle noch eine kurze Zusammenfassung in Form eine Prämierung geben.
Ich habe einige Stücke gesehen, die mich sehr begeistert haben, auf unterschiedliche Art und Weise. Ich habe – bis auf eine einzige – ausschließlich wirklich sehr gute Produktionen gesehen, die Qualität von Musical im deutschsprachigen Raum ist offenbar wahnsinnig hoch. Allerdings hab ich natürlich nur einen Bruchteil von dem, was auf deutschsprachigen Bühnen überhaupt läuft, besucht. Vor allem der Norden Deutschlands ist bei mir leider sehr sehr selten vertreten.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit also möchte ich euch dennoch hier meine Highlights zusammenstellen.
Bestes Musical
Hier vergebe ich zwei erste Plätze, denn beide Produktionen sind meiner Meinung nach nicht zu vergleichen, aber auf ihre eigene Art geradezu herausragend:
Bestes Musical: Der Glöckner von Notre Dame, Wien, Ronacher
Den dazugehörige Artikel habe ich gerade erst Online gestellt. Wer also nachlesen will: Der Glöckner von Notre Dame
Der Glöckner von Notre Dame ist an sich schon ein herausragendes Musical. Es ist Märchen und Abbild einer bittereren Realität zugleich, es erzählt von einer längst vergangenen Zeit und ist doch aktueller denn je.
Die Musik ist so überaus raumgreifend und erfüllend, dabei tief emotional. Ein hervorragendes Orchester sowie eine außergewöhnlich brillante Darstellerriege machen daraus ein perfektes Erlebnis. Prädikat: Wenn man das nicht gesehen hat, hat man was verpasst.
Bestes Musical: Hamilton, Operettenhaus Hamburg
Lang ersehnt, konnte ich in Hamburg die Premiere von Hamilton besuchen. Artikel dazu gibt es hier: Hamilton – Deutsche Medienpremiere Hamburg 5.10.2022
Auch Hamilton gehört für mich zu den schon über alles Maßen perfekt komponierten Musicals. Lin-Manuel Miranda hat die Biographie des 1. Finanzministers der USA ungeheuer vielschichtig und mit genialer Rapmusik erzählt. Hamilton erzählt von einer Revolution und ist selbst eine. Darüber gibt es auch wenig zu streiten, Hamilton ist brillant vom ersten bis zum letzten Ton. Große Sorge gab es aber im Vorfeld der deutschsprachigen Premiere in Hamburg: Funktioniert ein Musical, dessen Stärke unter anderem in der Genialität der Texte liegt, auch in einer Übersetzung? In einer so sperrigen Sprache wie Deutsch?
Ja, und wie. Hamilton ist auch in Hamburg in der deutschen Übersetzung ein Juwel, und genauso intensiv und genial wie die englische Version. Die Übersetzung ist nicht immer 1:1, sondern spielt mit der Situation und den Charakteren und nimmt so die Art und Weise, wie Miranda mit seinem Stück umgeht, auf.
Man muss Hamilton sehen, denn es ist spannender Geschichtsunterricht, irre Erzählkunst mittels unmittelbarer und einfallsreicher Choreographie und einfach geile Musik. Und die Darsteller sind einfach der Hammer!
Beste Komödie: Tootsie, München, Gärtnerplatztheater
Ebenfalls nicht verpassen sollte man Tootsie.
In der europäischen Erstaufführung spielen Armin Kahl und Julia Sturzlbaum, Bettina Mönch und ein grandioser Alexander Franzen in einer herrlichen, von amerikanischen Screwball-Komödien inspirierten Komödie über den Kampf der Geschlechter und mit sich selbst.
Das ist so luftig, lustig und leicht (Tootsie, Gärtnerplatztheater 10.7.2022). Perfekt orchestriert und phantastisch gesungen, gelingt es dem Gärtnerplatztheater einmal mehr, dem Publikum einen unbeschwerten und künstlerisch perfekten Abend zu präsentieren. Wer die Möglichkeit hat, sollte unbedingt einen Besuch in München einplanen. Drei Termine stehen diese Spielzeit noch auf dem Plan: 27. bis 29.05.2023.
Bester Darsteller: Andreas Lichtenberger
Obwohl Armin-Kahl-begeistert und Drew-Sarich-fanatisch und auch beide mit tollen Produktionen dieses Jahr, geht mein 1. Platz für den besten Darsteller an Andreas Lichtenberger. Lichtenberger gibt im Wiener Ronacher den Claude Frollo im Glöckner von Notre Dame und stiehlt der dortigen ohnehin schon brillanten Darstellerriege die Schau. Er spielt und singt sie an die Wand. Sein gewaltiges Stimmvolumen lässt das gesamte Theater nahezu erbeben. Ich war so derart begeistert, berührt, schockiert. Das war ganz großes Kino. Geradezu unheimlich, wie Lichtenberger den Frollo vom beherrschten Geistlichen zum maßlosen, sich in ein Hass und Zorn verlierendes Scheusal wandelt. Ich werde dieses Stück – nicht nur, aber nahezu hauptsächlich – noch einige Male wegen Andreas Lichtenbergers Leistung anschauen.
Beste Darstellerin
Auch hier dürfen sich zwei Granaten des Musicals den ersten Platz teilen. Beide konnte ich jeweils drei Mal in verschiedenen Stücken sehen:
Beste Darstellerin: Dorina Garuci
Dorina Garuci brillierte in:
- Jesus Christ Superstar in St. Gallen. Dort spielte sie an der Seite von Riccardo Greco als Jesus die Maria Magdalena.
- Sunset Boulevard als Betty Schaefer in Baden bei Wien
- und ebenfalls in Baden war sie in Neun die Carla Albanese, siehe Neun, Bühne Baden, Premiere 22.10.2022
Jedes Mal glänzte Dorina mit ihrer Stimme, die auch in den Höhen so wunderbar klar klingt und insgesamt so wundervoll wandelbar scheint. Mit ganzem Körpereinsatz zeigte sie sich in den Produktionen in glänzender Spiellaune. Ihre überschäumende Darstellung in Neun hat sich mir nachhaltig eingeprägt. Hier agiert sie fabelhaft neben so phantastischen Frauen wie Milica Jovanovic, Ann Mandrella und Wietske van Tongeren.
Dorina Garuci ist ein Garant für beste Musicalkunst.
Beste Darstellerin: Katja Berg
Katja Berg ist die Brillanz in Person, für mich reicht keine Stimme an die ihre ran. Ich sah sie in
- Lady Bess in St. Gallen als Anne Boleyns Geist, siehe Lady Bess – St. Gallen
- Die Schatzinsel in Füssen als Fanny Osbourne, siehe Die Schatzinsel – Festspielhaus Neuschwanstein Füssen, 22.1.22
- und in Herz aus Gold als Sybilla Fugger senior, siehe Herz aus Gold, Freilichtbühne Augsburg, Wiederaufnahmepremiere 17.7.2022
In diesen drei unterschiedlichen Rollen konnte Katja Berg die gesamte Bandbreite ihres Könnens ausspielen: Stimmgewaltig und geheimnisvoll begleitet sie als Geist Anne Boleyns ihre Tochter Elisabeth I. durch die Unwegsamkeiten des intriganten höfischen Lebens in Lady Bess, findet als Fanny Osbourne im Schriftsteller Louis Stevenson nicht nur die Schatzinsel, sondern auch ihre große Liebe, die ihr als Sybilla in Herz aus Gold verwehrt bleibt.
Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir ihr Solo im Fugger-Musical „Wo bin ich geblieben“. Gänsehaut pur, das Resümee von Sybillas Leben und ihre wütende Abrechnung mit sich selbst. Das war eine Sternstunde des Musicals und des Gesangs an sich.
Bestes Gesamtkunstwerk: Hundertwasser – das Musical
Ein spannendes und herausforderndes, aber auch tief berührendes Stück durfte ich im Festspielhaus Neuschwanstein in Füssen sehen:
Hundertwasser – das Musical ist eine musikalisch wunderschöne Reise durch das Leben des Künstlers Friedensreich Hundertwasser. Die Rezension gibt’s hier: Hundertwasser – Das Musical, Festspielhaus Neuschwanstein – Weltpremiere 29.10.2022
Man nähert sich diesem eher sperrig wirkenden Menschen in einzigartiger Weise, weil seine Lebensidee, seine Einstellung dieses Musical durchdringt. Daher eher experimentell, aber dann doch auch irgendwie bodenständig bildet dieses Stück den Künstler in einer berührenden Tiefe ab. Felix Martin nähert sich in der Titelrolle dem Künstler mit Anerkennung und Respekt, spart aber nicht aus, dass Hundertwasser als Mensch im Umgang manchmal seltsam anmutete. Ich war tief beeindruckt, wie sehr man die Seele eines Menschen in ein Musical gießen kann. Die Musik gefällt insgesamt und bietet zudem auch einen elegischen Ohrwurm.
Das Festspielhaus Neuschwanstein hat ob der guten Kritiken angekündigt. den Hundertwasser in 2023 wieder auf die Bühne zu holen.
Überraschung des Jahres: Jesus Christ Superstar, Theater St. Gallen
Ich habe schon unzählige Fassungen von Jesus Christ Superstar gesehen. Insgesamt waren da viele wirklich durchdachte Produktionen dabei, die alle mit den unterschiedlichsten Ansätzen arbeiteten. Insofern war ich nicht wirklich darauf vorbereitet, in welcher spannenden Art und Weise mich nochmal eine Jesus Christ Superstar Inszenierung vollkommen umhauen könnte. Die Rezension gibt’s hier: Jesus Christ Superstar, St. Gallen, 2.3.2022
In St. Gallen ist Jesus ein cooler Rockstar im Stil von Adam Lambert und zugleich Influencer par excellence. Seine Jünger sind die Follower, und man beobachtet diesen modernen Jesus, wie er in der heutigen Zeit wohl lieben und leiden würde. Beim Verhör sind per Livestream tausende Menschen vor ihren Bildschirmen dabei. Sein Tod aber ist nicht nur ein physischer, sondern auch der soziale: Jesus stirbt alleine, ohne irgendeinen Follower an seiner Seite, die Höchststrafe im Social-Media-Bereich.
Dieser Ansatz war zum einen sehr erfrischend und zum anderen genialst bis in die letzten Spitzen umgesetzt. Immer mal wieder sieht man moderne Inszenierungen des Webber-Erfolgsmusicals, aber wie sich diese Inszenierung vehement in unsere Zeit verpflanzt, ist einfach nur genial. Zudem gab Riccardo Greco einen umwerfenden Adam-Lambert-Jesus und Dorina Garuci die perfekte Maria Magdalena.
Mein Herzensstück: Sherlock Holmes – The Next Generation
Dieses tolle Stück war im November und Dezember unterwegs auf Tour in 20 deutschen Städten und auch bei mir in Augsburg zu Gast. Hat mich der erste Besuch in München im Juni 2019 schon so begeistert (Rezension Sherlock Holmes – The Next Generation; Deutsches Theater München, Preview 21.6.19), kann ich auch diesmal wieder bestätigen: Dieses Musical ist so liebevoll und sympathisch gemacht: Hier gibt es eine durchdachte Krimistory, viele witzige Elementen, liebevolle Charakterzeichnungen von Figuren, die der Zuschauer alle schon ein wenig zu kennen glaubt, und viel Liebe zum Detail.
Überdies swingt der Titel Kein Fall für Sherlock Holmes so genial, dass man diesen noch Tage lang vor sich hinsummt. Die Darsteller der Tour standen denen der Produktion in München vor drei Jahren in nichts nach. Erneut brachte Ethan Freeman als alternder Sherlock Holmes trotz aller autistisch-herrischen Züge einen grundsympathischen Charakter auf die Bühne, die freche Alice Wittmer eine so selbstbewusste und dynamische junge Frau, die sich mit einem jungen Mann namens John (Florian Minnerop) aus einem Waisenhaus zusammenrauft, der sich am Ende als Sohn von Sherlock Holmes entpuppt, an den Sherlock sein Erbe weitergeben kann.
Respekt vor dieser Leistung und vor dem Mut, dieses Musical unter schwierigsten Finanzierungsbedingungen so auf die Bühne zu bringen. Klein, aber fein und qualitativ wirklich hochwertig. Etwas fürs Herz – und für einen unbeschwerten Abend!
A.
Danke für deine stets sehr ausführlich begründeten Beiträge. Wenn du Katja Berg schätzt und auch mal ein (zu) selten gespieltes Musical sehen magst, fahr mal nach Münster zu Aspects Of Love. Schönes Stück, gute Umsetzung, schöne Stadt, alles zentral gelegen, guter Bahnanschluss. Grüße aus dem Westen Deutschlands!