Der erste Eindruck eines Musicals hängt immer auch ein bisschen an den Erwartungen, die man an es knüpft. Ich bin da ganz ehrlich: Ich kenne das Buch Die Schatzinsel nicht, hatte nie auch nur die Idee, es mal zu lesen. Und dann Piraten im Musical? Ich weiß nicht. Dann kam ich von Flashdance, wo die Story schon sehr dünn war, über Cats (fulminate Show, perfekt vorgetragen, aber halt Cats: null Handlung) und hatte schon ganz vergessen, dass es so was wie eine geniale Storyline geben könnte in einem Musical. Zudem fällt bei Der Schatzinsel hin und wieder das Wort Familienmusical. Und auch das dämpft die Hoffnung auf etwas wirklich Geniales.
Und dann sitze ich in meinem geliebten Ludwigs Festspielhaus und da! Da war es wieder: der Grund, warum ich Musical über alles liebe: Geschichte, Musik, und die Performance der Menschen auf der Bühne vereinigt sich zu etwas, was mich ganz tief im Inneren berührt.
Die Schatzinsel ist eine genial erzhälte Geschichte mit der genau passenden Musik, die trägt und zusammenhält, die erzählt und Emotionen weckt. Zusammen ergibt das ein Gesamtkunstwerk für mich, wie ich es schon länger nicht mehr gesehen habe. Ich wollte nur, dass die Pause schnell vorbeigeht, denn ich wollte wissen, wie es weitergeht. Vielleicht heißt das deswegen Familienmusical? Weil sich die Erwachsenen wie die Kinder freuen?
Wer weiß?! Am Ende hatte ich Tränen in den Augen, weil es eine Piratencrew geschafft hat, mich für drei Stunden mitzunehmen ans Ende der Welt.
Die Schatzinsel – Das Musical
Inhalt
Spotlight Musical brachte am 17. Juli 2015 in Fulda Die Schatzinsel zur Uraufführung. Musik, Liedtexte und Libretto stammen von Dennis Martin (u.a. Die Päpstin), außerdem involviert waren Christoph Jilo und Wolfgang Adenberg (u.a. Gefährliche Liebschaften). Als Vorlage diente zum einen die Lebensgeschichte von Robert Louis Stevenson, dem Autor des Welterfolges Die Schatzinsel, wie auch der Inhalt seines Buches selbst. Geschickt wird beides miteinander verwoben: Stevensons Biographie mit den Geschehnissen des Abenteuerromans.
Das Musical beginnt mit Louis Stevenson als kleinem Jungen. Der kleine Louis, stets kränklich, liegt im Bett und bittet seinen Vater, ihm eine Geschichte zu erzählen. Dieser erfüllt ihm nach anfänglichem Zögern den Wunsch.
Und schon ist der Zuschauer mittendrin und beobachtet, wie in jeder Piratengeschichte, die der Vater erzählt, ein gewisser Kapitän Flint beim Vergraben eines Schatzes die Männer erschießt, die sich gegen ihn auflehnen.
Jahre später ist Louis immer noch kränklich. Aber er hat sein Jurastudium abgeschlossen, der Vater drängt ihn, eine Anstellung als Junganwalt anzunehmen. Doch Louis will Schriftsteller werden. Es kommt zu einem Disput zwischen Vater und Sohn, jeder von beiden wirft gewaltige Argumente in den Ring und am Ende verlässt Louis seine Familie, um nach Frankreich zu gehen, um sich dort von anderen Künstlern inspirieren zu lassen und seinen Traum zu leben.
Dort lernt er Fanny Osbourne kennen. Die Amerikanerin ist Malerin und für Landschaftsstudien in Frankreich. Zwischen Fanny und Louis entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte.
Fanny hat ihren Sohn Lloyd bei sich, der sich für Malerei herzlich wenig interessiert, wohl aber für die Geschichte des immer noch kränkelnden Louis. Die beiden freunden sich an, ja, finden zueinander als zwei, deren Leidenschaften nie gesehen werden und Louis erfindet quasi als Fortsetzungsroman Die Schatzinsel für den kleinen Lloyd.
Ab hier vermischen sich die Szenerien häufiger zwischen der realen Lebenswelt des Robert Louis Stevenson und der Protagonisten seines Romanes Die Schatzinsel.
In diesem Roman lebt der der kleine Jim allein mit seiner Mutter Mrs. Hawkins, die ein Hafenlokal betreibt. Immer in der Nähe, aus Sorge und Zuneigung zu Mrs. Hawkins ist auch Dr. Livesey. Eines Tages taucht ein Pirat auf, der Jim den Auftrag gibt, nach einem Einbeinigen Ausschau zu halten. Als dieser tatsächlich eines Tages auftaucht, stirbt der Pirat. Jim konnte aber vorher herausfinden, dass dieser eine Karte bei sich trug, deretwegen ihm andere auf den Fersen waren. Jim nimmt diese an sich.
Als klar ist, dass diese Karte den Weg zu einem Schatz zeigt, finanziert der Gutsherr Squire Trelawney daraufhin eine Reise von Bristol aus zur eben jener Insel, Jim und Dr. Livesey gehen mit an Bord. Ebenso eine Crew, die angeheuert wurde. Dass sie in der Hauptsache aus Piraten aus der Mannschaft des legendären Captain Flint besteht, die „ihrem“ Schatz hinterher sind, besteht, bleibt den Reisenden unter dem Kommando von Captain Smollett jedoch zunächst verborgen.
Auf der Reise freundet sich Jim mit Long John Silver an. Dieser hatte ihn schon im Hafen vor zwielichtigen Halunken gerettet. Er hält viel von dem mutigen Jungen und ist stolz auf ihn wie auf einen Sohn.
Kurz bevor das Schiff die Insel erreicht, meutern die Piraten, nehmen Trelawney, Smollett und Jim gefangen, während Dr. Livesey angeschossen wird. Diesen lassen sie auf dem Schiff zurück und brechen zur Insel auf. Nach längerer Suche und klugen Überlegungen von Jim finden sie schließlich den Schatz. Da taucht Ben Gunn auf. Dieser gehörte zu Flints Mannschaft und wurde von Flint damals angeschossen und sterbend auf der Insel zurückgelassen. Allerdings hat Ben Gunn überlebt und die Piraten in eine Falle gelockt: Der Schatz wird zerstört. Long John Silver garantiert durch sein Opfer – er begibt sich als Geisel in die Hände von Smollett – eine friedliche Heimfahrt beider Parteien.
In der anderen Ebene der Geschichte finden Fanny und Louis zusammen, Louis’ Abenteuerroman wird ein riesiger Erfolg. Nach einer Zeremonie zu seinen Ehren in seiner Heimatstadt Edinburgh kehren Louis, Jim und Fanny England den Rücken und gehen auf große Fahrt. Jim bekommt noch die Gelegenheit, sich mit seinem leiblichen Vater auszusöhnen.
Musik
Dennis Martin komponiert flüssig und authentische Musik in allen Szenen des Musicals. Einige Reprisen halten den Zuschauer und Zuhörer in der Geschichte.
Die Piratenmusik ist schmissig und einfach großartig. Sie vermittelt die passende Stimmung, sie zieht einen mit hinein. Da ist ein bisschen Pathos und ein bisschen Abenteuer, Gemeinschaftsgefühl und typische Phrasen wie Aye und He Ho. Die ruhigen Momente sind verträumt und groß, die Ensemblenummern voller Elan und Leben. Mehrere große Duette sind zu Hören, sie alle vermitteln tiefe Gefühle.
Im wahrsten Sinne des Wortes fantastisch ist diese Musik, ein Fingerzeig der eigenen Fantasie. Etwas, das beflügelt.
Große Erzählkunst
Die wahre Kunst in diesem Musical ist die, dass zwei Geschichten wie selbstverständlich ineinander verwoben werden.
Ich bin da ein schwieriger Zuschauer. Im Kino komme ich mit Filmen, die auf zwei Zeitebenen operieren, nie so recht mit. Aber hier wird so sagenhaft und trotzdem eindeutig interagiert, getrennt und wieder miteinander verbunden, dass wirklich jeder in der Lage ist, die vielen wunderbaren Verknüpfungen zu sehen, darüber zu staunen und einfach zu genießen.
Die eine Geschichte ist die Biographie von Louis Stevenson. Sie hält sich grob an die Fakten und legt sehr viel Wert auf die Darstellung des Innenlebens von Louis. Er schwankt permanent zwischen der Hoffnung, dass seine Leidenschaft ihn emotional und auch finanziell zu tragen vermag und der Verzweiflung, dass das vielleicht nie passieren wird. Das andere Thema ist die Liebe. Die Liebe und Loyalität zum Vater ist nicht einfach. Die Liebe zu Fanny erscheint zunächst deutlich leichter, aber auch hier gibt es riesige Hürden zu überwinden. Die Geschichte wird eindringlich und ruhig erzählt.
Die andere Handlung ist die Piratengeschichte und eine Abenteuergeschichte par excellence. Hier wird gekämpft und gefochten, durch Stürme gesegelt. Da gibt es eine sündige Hafenstadt und eine dunkle Schatzhöhle.
Zwei Erzählstränge, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass sie Parallelen aufweisen. Und doch finden sich alle Akteure der Louis Stevenson-Geschichte mit ihrem alter Ego auch im Abenteuer der Schatzinsel.
Louis Stevenson ist zunächst einmal ein Autor mit unbändiger Fantasie und wilden Träumen. Er möchte sich verwirklichen, er möchte mit seinen Geschichten den Menschen etwas geben. Ein wahrer Schatz an Geisteskraft und Imagination liegt da in ihm vergraben.
Sein alter Ego ist Dr. Livesey. Er ist der Arzt, der in der Hafenkneipe The Admiral Benbow immer ein liebevolles Auge auf die verwitwete Wirtin Mrs. Hawkens und deren Sohn Jim hat. Als Louis hat er sich in der parallelen Geschichte in Fanny Osbourne verliebt, die mit ihrem Sohn Lloyd reist.
Schließlich begeben sich beide mit einem Schiff auf Reisen: Louis als Autor Richtung Frankreich und später Amerika und Dr. Livesey zur Schatzinsel. Beide auf der Suche nach dem Schatz, nach Reichtum. Für Livesey das Gold, für Louis den Reichtum, frei seiner Leidenschaft nachgehen zu können. Beiden werden Hindernisse in den Weg gelegt. Als Louis muss der Autor sich immer vor seinem Vater rechtfertigen. Er leidet unter der Autorität des Vaters, er lehnt sich gegen ihn auf.
Als Livesey wird seine Freiheit von Piraten bedroht, die ihm alles nehmen wollen. Als der Vater droht, Louis zu enterben, wird an gleicher Stelle in der parallelen Geschichte Livesey von den Piraten niedergeschossen und auf dem Schiff zurückgelassen. Die Stürme des Meeres als Synonym zu den Stürmen, mit denen das reale Leben so aufwartet. Aber so wie Livesey überlebt, so findet auch Louis seinen Weg in die Freiheit und möglicherweise zu Mrs. Osbourne zurück.
Beide Protagonisten lieben eine Frau mit Kind. Fanny Osbourne ist Malerin und verheiratet, als sie – allein mit ihrem Sohn Lloyd unterwegs in Frankreich – auf Louis trifft. Als sie von den anderen Künstlern schräg angemacht wird, verteidigt Louis sie sofort und hat ein Auge auf sie – genau wie Dr. Livesey auf Mrs. Hawkins in der Hafenkneipe.
Für den Sohn jeweils wird Louis/ Livesey zum väterlichen Begleiter und das Kind für ihn zum überlebenswichtigen Freund: Lloyd liebt Bücher und bringt so den an sich zweifelnden Louis dazu, die Schatzinsel weiterzuschreiben. Jim hingegeben beweist mehr als einmal Mut und Intelligenz und trägt damit zum Gelingen der Expedition zur Schatzinsel bei.
So haben alle Figuren ihre jeweilige Entsprechung in der jeweils parallel geführten Geschichte. Louis’ autoritärer Vater wird auf dem Schiff zum Captain. Der Gutsbesitzer Mr. Trelawney taucht am Ende in Louis Leben als Bürgermeister von Edinburgh auf.
Diese Verquickung passiert so unaufregend und in jeder Situation vollkommen mühelos und ohne Stolpern. Ich bin mit stellenweise vorgekommen wie im Kino, so sensationell gehen da die Schnitte über die Bühne. Glaubt mir, so fasziniert war ich tatsächlich noch nie von einer Geschichte.
Bühnenbild
Die Schatzinsel ist Erzählkunst. Hier wird einen Geschichte erzählt, ja gelebt. Wohl über die Musik, aber eben auch ganz stark über das, wie die Bühne bespielt wird.
Da geht Sascha Kurth als Dr. Livesey von rechts nach links über die Bühne, der Vorhang folgt ihm und verdeckt nach und nach die eben gezeigte Szenerie. Er zieht sein Jackett aus und steht plötzlich als Louis Stevenson im Speisezimmer seiner Familie. Das ist nicht nur einfach funktional richtig gemacht, sondern mit gewaltiger Liebe zum Erzählen. Wie ich schon erwähnte: Wie im Kino.
Auf der Bühne gibt’s eine runde Plattform, die bespielt wird. Um die Plattform drumrum sind zwei hohe, bespielbare Viertelbögen in Fachwerk-Optik. Sie sind zunächst hinter der Plattform zusammengeschoben, so dass die Plattform fürs Spiel frei ist. Dort ist die Hafenkneipe von Mrs. Hawkins. Sind wir auf dem Schiff, werden beide Teile links und rechts um die Plattform drumherum und vorne zusammengeschoben. Es sieht dann aus wie die Takelage oder der Rumpf eines Schiffes.
Große, bildgewaltige Projektionen vermitteln, dass man mitten auf hoher See steht: Wellen, Sturm, weite See. Optisch hervorragend gemacht, ziehen sie den Zuschauer noch weiter in die Geschichte, als er eh schon ist.
Um die anderen Spielorte zu definieren, braucht es nicht viel: Ein Torbogen mit zwei Türen ist das Zuhause von Fanny Osbourne in Kalifornien. Mehrere Tische und Staffeleien die Pension in Frankreich, wo Louis hingeflüchtet ist, um sich Inspiration zu holen. Das bleibt alles ganz reduziert und dient damit umso mehr dem, was Stevenson so wichtig war: der Geschichte!
Umbauten findet sowohl auf offener Bühne statt als auch hinter dem Vorhang. Dann spielen die Protagonisten im vorderen Teil der Bühne.
Das Lichtdesign unterstützt, wie immer in Füssen, die Inszenierung mit hervorragender Tiefenwirkung, mit kräftigen Farben und abwechslungsreichen Folgen.
Fantasie und der Sinn fürs Fantastische
Mehrmals fühlte ich mich erinnert an den Glöckner von Notre Dame. Da wird auch alles, was auf der Bühne steht, verwendet, umgedeutet, in der Geschichte neu definiert. Das erzeugt eine gewaltige Faszination. Hier wird ein Bett zum Schiff, eine Krücke zum Paddel, Perücken, Hüte, Jacken werden aus- und umgezogen.
Was mich hier so packt ist das Spiel mit der Fantasie. Der Zuschauer wird Teil dieser Geschichte, weil sie mit dessen Fantasie spielt, sie nimmt, entführt, bereichert und ganz und gar fesselt. Und es ist genau diese Fantasie, diese Imagination, die Robert Louis Stevenson inne hatte und mit der so große Klassiker wie Die Schatzinsel oder Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Welch großartige Hommage an diesen Mann und dessen Fantasie!
Welch großartige Hommage an diesen Mann und dessen Fantasie! Man kann das besser nicht machen, ein Musical über ein Künstlerleben zu schaffen, indem man sich genau dessen Genialität zu eigen macht und auf die selbe Art fasziniert. Sich Stevensons Fantasie anzuschließen. Die eigene Fantasie, den Sinn für das Fantastische direkt ins Leben zu holen. Ich bin sprachlos, wie die Macher das hinbekommen haben.
Es verquicken sich nicht nur zwei Geschichte auf der Bühne, wie von selbst verquickt sich die Fantasie der Macher mit der Fantasie des großen Stevenson.
Die Charaktere und ihre Darsteller
Long John Silver/ Sam/ Captain Flint: Ethan Freeman
Am faszinierendsten war für mich die Figur des Long John Silver. Ich muss sagen, dass ich selten eine Performance gesehen habe, die mich so sehr gefesselt hat wie die von Ethan Freeman. Ich war von der ersten Sekunde fasziniert von diesem Mann und diesem Long John Silver.
Long John Silver ist die unbestrittene Autorität unter den Piraten. Alle haben Angst vor ihm. Dabei erscheint er – gerade Jim gegenüber – so freundlich und zuvorkommend, ja sogar eher leutselig. Denn Long John Silver braucht weder einen massigen Körperbau – ganz im Gegenteil, er hat ein Holzbein, ist also physisch sogar eingeschränkt – noch eine dröhnende Stimme:
Long John Silver ist intelligent und pfiffig. Er beherrscht das Spiel mit den Menschen, er weiß, wann er Hü und wann er Hott sagen muss. Seine Erfahrung ist ein größter Trumpf, vielleicht auch die dadurch um ihn herum gebaute Legende. Er ist kompromisslos in allen Entscheidungen, auch, wenn sie negative Folgen für ihn haben.
Mit seiner Bühnenpräsenz macht Ethan Freeman diesen Long John Silver zu genau der Person, vor der jeder ehrfürchtig steht. Da reichen Nuancen im Spiel, die auf den Punkt das ausmachen, was es braucht, um den Piratenchef auch als Chef wirken zu lassen. Gerade, weil er trotz aller Piraterie geradlinig ist, bleibt er die verlässliche Seite. Erfahren, gewieft, aber auch zutiefst loyal und wissend, wann das Spiel aus ist: Long John Silver ist Pirat und doch einer der Sympathieträger der Story. Ich mag diese Figur ungeheuerlich.
Obwohl die Figur des Louis/ Livesey formal die Hauptrolle und die meiste Bühnenzeit hat, ist für mich Long John Silver die zentrale Figur der Geschichte.
Warum? Er ist die personifizierte Erfüllung der Sehnsucht aller Hauptdarsteller. In einem sehr schmissigen, aber auch sehr berührenden Lied Das ist mein Junge singt er sich den Stolz von der Seele, den er gegenüber dem kleinen Jim verspürt. Der kleine Jim, der seinen Vater so gut wie nicht kennt, weil er immer auf Reisen ist. Von dem er sich aber diese Worte wünscht, diese Aufmerksamkeit. Ganz geschickt kann man Silver immer wieder dabei beobachten, wie er stumm in der Geschichte Jim die verschiedensten Dinge erklärt, erörtert, zeigt. Er ist die zentrale Vaterfigur. Er, der so erfahren und am Ende trotz aller Widerstände so loyal ist, dass er sich ausliefert, ist das, was sich Jim gewünscht hätte.
Und nicht nur Jim. Auch Louis. Das Musical beginnt damit, wie Louis noch klein ist und sein Vater ihm eine Piratengeschichte erzählt. Es spannt sich hier schon der Bogen zu seiner späteren Leidenschaft, aber auch den Bogen zur Wichtigkeit der Vater-Sohn-Beziehung. Auch Louis vermisst einen Vater, der nicht nur physisch anwesend ist, sondern auch hinter ihm steht und singt: Das ist mein Junge.
Das Erkannt-Werden der eigenen Person ist die Grundlage jeder liebevollen Beziehung. Und so sucht auch Fanny eine Person, die sie in ihrer Leidenschaft erkennt und stolz ist auf sie. Und findet sie dann in Louis, der sich vereint fühlt als ebenfalls verkannte Künstlerseele.
Long John Silver ist der, der alle Hoffnung in sich vereint und bewahrheitet. Der ehrlich und präsent ist und so das ganze Stück trägt, ohne, dass man sich das selbst derart gewahr wird.
Ethan Freeman spielt das mit einer Brillanz und einer Präsenz, die mich sprachlos zurücklässt. Das wirkt so lässig und cool, so wie aus dem Ärmel geschüttelt und natürlich. Unglaublich, wie man so eine Autorität verkörpern kann. Singen tut er natürlich auch.
Ich habe mir im Vorfeld das Material zur Schatzinsel angesehen, das auf der Seite des Musicals von Spotlight zu finden ist. Dort singt Andreas Lichtenberger. Auch hervorragend, keine Frage. Der legt aber den Long John Silver aber möglicherweise ein wenig körperlicher an. Das tut Freeman nicht. Er überzeugt mit der ganzen Authentizität eines mit allen Wassern gewaschenen Piraten. Mit einer festen Stimme, die nie laut wird, weil das dieser Pirat auch gar nicht muss. Der eher knurrig denn dröhnend zu sprechen vermag. Und gerade das macht ihn nur noch autoritärer.
Vielleicht hab ich das noch nicht erwähnt, aber ich bin sprachlos angesichts dessen, was Ethan Freeman da gezaubert hat. Herzlichen Dank, Ethan Freeman, für eine Darstellung, die ich mit Sicherheit immer in mir tragen werde.
Fanny Osbourne/ Mrs. Hawkens: Katja Berg
Obwohl die Rolle der Fanny wohl als weibliche Hauptrolle gilt, ist sie tatsächlich nur eine unterstützende Rolle für Katja Berg. Actress in a supporting Role, heißt das bei Preisverleihungen so schön. Denn Fanny ist zwar als Person charakterlich deutlich ausgestaltet, fungiert aber nur unterstützend und den Inhalt komplettierend. Denn viel Raum nimmt die Piratengeschichte ein, in der sie nicht auftaucht und zu präsent ist die persönliche Lebensgeschichte von Louis Stevenson, in der sie zwar dann ebenfalls Raum einnimmt, aber eben als Nebencharakter.
Fanny Osbourne ist eine für diese Zeit selbstbewusste Frau. Das zeigt schon die Tatsache, dass sie allein mit ihrem Kind die Atlantiküberquerung auf sich nimmt und – völlig untypisch – sich als Malerin in Frankreich Inspiration holt.
Nach außen erscheint sie taff und klug, aber nicht schnippisch und arrogant. Eine feine Seele ist sie, die weiß, was es bedeutet, künstlerische Leidenschaft zu spüren. Es ist ihr gewahr, dass die Identität des Menschen sehr stark verknüpft ist mit den Leidenschaften, den gelebten und ungelebten. In einem ganz starken und exzellent vorgetragenen Showstopper-Solo Übers weite Meer wünscht sie die Erfüllung dieser Sehnsucht auch für ihren Sohn Lloyd.
Aber sie spürt auch die Zwänge der Gesellschaft, kann sie doch nicht befreit mit Louis zusammenleben, da sie verheiratet ist. Dies und eine Loyalität zum Vater des Kindes lassen die Verbindung zunächst brechen und das, obwohl sie das große Opfer von Louis erkennt. Allerdings hatte ich da so die Idee, dass es gerade auch das war, was sie zögern lässt: Menschen, die es nicht gewohnt sind, mit Liebe und Aufmerksamkeit überschüttet zu werden, können diese – so sehr sie sich die auch wünschen – gar nicht wirklich annehmen, sollte sie ihnen doch zu Teil werden. So reagiert sie schon zu Beginn zunächst abweisend auf Louis, der sie vor seinen Künstlerkollegen verteildigt. Das hätte es nicht gebraucht. Logisch, das ist sie auch nicht gewohnt, hat es so noch nie erlebt.
Auch Fanny reiht sich ein in die Reihe von Personen, die einen persönlichen Long John Silver brauchen würden. Jemand, der sagt: Ich sehe dein Talent.
Talent ist auch das Wort, dass fallen muss, wenn man über Katja Berg schreibt. Ethan Freeman trägt das Stück durch die Piratengeschichte, Katja Berg trägt es durch die Biographie. Und zwar unaufgeregt und ruhig. Liebevoll gestaltet sie ein Bild von einer Frau, die sehr modern ihre eigene Leidenschaft und das Muttersein verbindet. Die stolz, aber in keinster Weise unnahbar ist. Und sich auch der Liebe wegen mutig nach vorne wagt. Das gelingt ihr herzlich und authentisch. Das vorhin benannte Solo ist so schön, so weich, so fantastisch gesungen, dass ich Gänsehaut bekomme.
Louis Stevenson/ Dr. Livesey/ Ben Gunn: Sascha Kurth
Wow! O.k., das war schon mal eine physische Meisterleistung von Sascha Kurth. Schon allein seine gesamte Bühnenzeit ist außergewöhnlich. Und dann jagt er seine Charaktere durch sämtliche emotionalen Strudel: Der turnt da die drei Stunden quasi toujours auf der Bühne, singt, lässt sich anschießen, stirbt fast den Lungentod, verliebt sich unsterblich, muss sich von seiner großen Liebe abweisen lassen und sich gegen den eigenen Vater durchsetzen. Dann wechselt er ständig die Rollen: vom leidenschaftlichen Schriftsteller zum eher zurückhaltenden Dr. Livesey.
Da ist Hoffnung und Verzweiflung, Leidenschaft und Zurückhaltung der Mrs. Hawkins gegenüber. Und wem das alles nicht reicht: Am Ende kommt er noch als rachsüchtiger und auf der Insel völlig ausgetickter Ben Gunn um die Ecke.
Respekt, einfach nur tiefster Respekt vor dieser Leistung von Sascha Kurth.
Den Louis führt Kurth sehr sicher durch Leidenschaft und Zweifel seines Berufes. Am besten aber ist er in der Zweisamkeit mit Fanny. Er und Katja Berg haben meine Aufmerksamkeit da total gefesselt, denn der Beginn dieser Romanze war so deutlich, aber so zaghaft. Und diese unsicheren Momente der ersten Liebe sind so zauberhaft ausgestaltet. Die Blicke ungelenk und unsicher, aber zärtlich und hoffnungsvoll. Hach… schön! Katja Berg und er lassen da ein ganz zartes Paar entstehen, eines, das man unbedingt zusammen sehen will. Dramaturgisch auch sehr wertvoll vor allem deswegen, weil diese Liebe ja zunächst nicht funktioniert, und das nach diesem großen Opfer von Louis. Ein großes Wechselbad der Gefühle zaubern beide da.
Gesanglich gefiel er mir sehr gut, wenn auch in der Höhe manchmal das Volumen ein bisschen fehlte. Andererseits hatte es der gute Louis ja auf der Lunge, als von daher: passt.
Das Duett mit seinem Vater war von ganz traumhafter stimmlicher Harmonie.
Vater/ Captain Smollett: Reinhard Brussmann
Reinhard Brussmann hat eine fulminante Stimme. Sehr angenehm, mit voller Tiefe. Er setzt sie sehr gekonnt ein und kreiert damit eine ganz eigene Autorität. Liebevolle Strenge zeichnet den Vater aus. Zunächst eine eher sorgende Bestimmtheit, die erst mit zunehmender Sturheit des Sohnes sich auswächst zu einer energetischen. Man merkt dem Vater durchweg an, dass er zwar auch, aber nicht nur aus Standesgründen heraus, sondern aus berechtigter Sorge um das Wohl seines Sohnes und dessen angeschlagener Gesundheit so massiv interveniert.
Als Captain Smollett lässt Brussmann mit eben dieser Stimme keine Zweifel daran, wer der Chef an Bord ist. Der erfahrene Seemann duldet keinen Widerspruch, weil auch er der Sorge um seine Crew verhaftet ist und weiß, dass so ein „Haufen“ nur mit Strenge sicher geführt werden kann.
Die Anführerpersönlichkeiten Long John Silver und Captain Smollett sind sich da also durchaus ähnlich in der Idee, wie sie für das Wohl der Truppe Sorge tragen können und für diese auch Verantwortung übernehmen.
LLoyd/ Jim/ Louis als Kind: Emma Garve (22.1.), Jonte Klein (19.1.)
Das beste zum Schluss: die Kinderrolle. Am Tag meines Besuches spielte Emma Garve, am Tag der Generalprobe Jonte Klein. Die Fotoaufnahmen sind von ebenda und zeigen also Jonte.
Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Das ist so fantastisch, was Emma vermochte, auf die Bühne zu bringen. Toll, einfach toll. Auch sie war ja ständig auf der Bühne. Das bedeutet Unmengen an Text, eine super Physis, denn so lange muss man ja erst mal singen und sich dabei bewegen. Mit allen Partnern war sie so natürlich im Zusammenspiel und auch sie meisterte die Übergänge von der einen zur anderen Person mühelos. Vollkommen klar in der Aussprache wie im Gesang, ganz gefühlvolle Duette. Also Emma, das war wirklich der Wahnsinn!
Jonte Klein, der sich die Rolle im Wechsel mit Emma und einer weiteren jungen Kollegin teilt. Auch Jonte macht seine Sache hervorragend, er singt klar und exzellent, spielt in beiden Rollen und allen Szenen nuanciert und eindrucksvoll.
Ensemble
Ein ganz tolles und vielfältiges Ensemble wurde da gecastet. Es hat mir enorm gut gefallen. Extra Lob an die vier Damen, die die amerikanischen Upper-Class-Ladys in ihrer Lästerei dargestellt haben. Eine ohnehin sehr gut geschriebene Szene wurde da zu einem kleinen Höhepunkt außerhalb der Piratengeschichte. Danke schön!
Fazit
Selten hat mich eine Story mehr fasziniert als diese hier! Sie war nicht nur voll, sondern erfüllt. Erfüllt mit Geist und Esprit, mit Emotion und allerlei handwerklichem Geschick und feinster Musik, ausgestaltet mit einer ganz traumhaft spielenden und singenden Cast. Es war das, was man sucht, wenn man grandioses Musiktheater sucht. Ich war nach drei Stunden einfach nur glücklich, so etwas Tolles gesehen zu haben.
Und noch nebenbei: Das Programmheft war eine ebenso eine reine Fülle fürs Auge und fürs Hirn: Da gibts eine genaueste Inhaltsangabe, die Songliste und Bilder, Bilder, Bilder… Ganz fein gemacht, auch dafür: Danke allen Beteiligten!
Alle Fotos: Dr. Joachim Schlosser Fotografie
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