Wenn ich über Hamilton schreibe, muss ich vorneweg sagen, dass ich nie in meinem Leben etwas vergleichbares gesehen habe. Hamilton ist so tief, so durchdringend, so intensiv, so umfassend. Es ist größer als alle anderen Musicals, es ist genial von der ersten zu letzen Minute. Es reißt mit, es berührt, es lässt einem den Mund offen stehen.
Es besingt eine Revolution und ist doch selbst eine.
Hamilton und ich
Ich bin dem Stück vollkommen verfallen, dabei hatte ich es bis zu dieser Woche noch nicht einmal live gesehen. Dafür kenne ich die Broadway-Aufzeichnung in- und auswendig und stimme den vielen tausend Fans des Stückes zu, dass Autor Lin-Manuel Miranda etwas ganz außergewöhnliches geschaffen hat, was bei vielen einen Nerv trifft. Ich bin also alles andere als ein neutraler Beobachter, ich bin quasi besessen.

Und trotzdem war ich schwer nervös, ob das alles auf deutsch auch funktionieren wird. Deutsche Fassungen von Musicals sind in Teilen ganz gut (Jesus Christ Superstar), bisweilen empfinde ich sie aber auch als Körperverletzung (Les Miserables). Dass es anderen ähnlich geht, zeigt schon allein die Tatsache, dass beispielsweise Dracula zwei verschiedene deutsche Texte kennt. Weil halt nicht immer alles so funktioniert, wie man es sich vorstellt.
Wieso überhaupt deutsch?
Tja, die Geschichte von Alexander Hamilton, einer der Gründerväter der USA, ist in Deutschland ohnehin eher schlecht zu bewerben. Der typische Städtetourist in Hamburg setzt da lieber auf Altbewährtes wie Mamma Mia oder geht mit Disney und der Eiskönigin auf Nummer sicher, da weiß man, was man hat. Die Rap-Musik ist per se für Menschen, die explizit ein Musical suchen, eher ungewohntes Terrain. Berieseln ist da nicht. Und diese tausenden schnellen Liedzeilen, die ein wirklich gutes Englisch voraussetzen, werden hierzulande mit Sicherheit auf Widerstand stoßen, außer bei eingefleischten Fans wie mich. Ich kann schon verstehen, warum man das Wagnis der Übersetzung eingeht.
Lest im Folgend kurz über Hamilton – das Phänomen und anschließend, wie sich die deutsche Fassung geschlagen hat.
Hamilton – die Musical-Revolution

Hamilton hat die Musical-Welt auf den Kopf gestellt. Lin-Manuel Miranda hat einen Welthit geschaffen, etwas, das so unglaublich ist, dass auf dem Schwarzmarkt 4-stellige Preise für eine Karte für eine Broadway-Vorstellung gezahlt wurden.
Aber wieso? Was ist das, dieses Musical?
Inhalt
Alexander Hamilton ist einer der Gründerväter der USA und deren erster Finanzminister gewesen. Er hat das Finanzsystem der USA geboren, er ist dafür verantwortlich, dass New York nicht die Hauptstadt der USA ist. Insofern sind immer noch alle Amerikaner an das gebunden, was Hamilton vor 250 Jahren auf die Beine gestellt hat.
Die Voraussetzungen für ein derart erfolgreiches Leben allerdings waren zu Beginn nicht gegeben: Alexander Hamilton wurde in der Karibik geboren, seine Vater verließ die Familie, seine Mutter starb. Nach einem Hurrikan, den er nur knapp überlebte, brachte er seine Gedanken zu Papier. Man erkannte sein großartiges Talent und sammelte für ihn Geld. Er konnte nach New York übersetzen und begann dort ein Studium. Er arbeitete sich im Krieg hoch, bis er die rechte Hand von General George Washington war.

Er heiratete Elisabeth Schuyler. Nach Gründung der USA wurde Washington Präsident und Hamilton erster Finanzminister des neuen Staates. Er setzte sich ein für die Gründung einer Nationalbank. Zahlreiche Scharmützel mit politischen Gegnern sind überliefert. Sein Sohn Philip fiel in einem Duell, um Alexanders Namen reinzuwaschen. Schließlich wurde auch Hamilton in einem Duell mit seinem Gegner Aaron Burr tödlich verwundet. Elizabeth Hamilton bewahrte sein Andenken und hatte großen Anteil daran, dass und wie sein Vermächtnis weitergetragen wurde.
Das Stück ist eine Mischung aus Geschichtsstunde und persönlichem Drama, es begleitet Hamilton bei seinem Aufstieg, gibt Einblicke, wie Politik gemacht wurde und auch heute noch gemacht wird. Es wird mit Leidenschaft geliebt und gehasst. Kinder werden geboren und sterben, Kämpfe verloren und gewonnen. Und es ist gar nicht so sperrig, wie man vielleicht glauben würde, wenn man erzählt: in Hamilton geht es um den ersten Finanzminister der USA. Es ist ein echtes Leben, welches uns Aaron Burr hier erzählt, welches auf einer Biographie basiert und sich doch wie eine Seifenoper anmutet.
Lin-Manuel Miranda ist ein Genie, denn er hatte den Mut, diese Geschichte auf die Bühne zu bringen. Und dabei noch in einer Art und Weise, die seinesgleichen sucht.
Die Musik
Etwa 25.000 Wörter beinhaltet das Musical. In etwa doppelt so viele, wie andere Musicals. Der Großteil dieser Worte wird gerappt. Dabei erreichen manche Figuren eine Sprechgeschwindigkeit, so dass man aufs erste Hinhören nicht glauben kann, dass da sinnvolle Dinge gesagt/ gesungen werden. Und doch sitzt jedes Wort, dank der Musik. Das gab es so vorher noch nicht und wenn man Hamilton ansieht und sich mitreißen lässt davon, fragt man sich unweigerlich: Wieso eigentlich nicht? Es ist nur die logische Fortsetzung einer Genreentwicklung.
Denn Miranda macht nichts grundlegend neues. Er bricht lediglich das Genre Musical auf. Er befreit es, führt es über den HipHop in die Moderne, der so modern ja schon wieder gar nicht mehr ist. Wo sonst eingängige Popmelodien und klassische Balladen gesungen werden, setzt Miranda auf schnelle Beats und den Rhythmus der Sprache, um Handlung voranzutreiben und vor allem: Inneres nach Außen zu tragen. Es beweist großen Mut, dieses Feuerwerk an Worten so prasseln zu lassen, es fordert heraus. Aber Mirandas ungeheures Talent ist es, diese Texte ihren Rhythmus finden zu lassen, so dass ein Sog entsteht, in dem man sich sogar für die Rededuelle von Kongressabgeordneten begeistern kann.
Hier, bei den beiden Rededuellen zwischen Jefferson und Hamilton, wird am besten ersichtlich, warum das ganze funktioniert: Zwei Menschen versuchen sich, gegenseitig zu übertreffen und mit ihren Ideen den jeweils anderen niederzuringen und schlussendlich zu überzeugen. Was anderes ist ein Rap-Battle?

Es ist eine wirklich großartige Geistesleistung, das so zu übertragen. Miranda trifft den Geist der Zeit, in dem er Grenzen verwischt. Grenzen, die es längst nicht mehr geben sollte und deren Beseitigung in allen Lebensbereichen Mut erfordern.
Doch da ist ja nicht alles Rap. Miranda schreibt auch abseits des Sprechgesangs Lieder, die treffen: die Situation, die Atmosphäre, das Herz. Für Burr beispielsweise das unheimlich intensive Wait for it. Aber auch die anderen Figuren haben unheimlich starke Melodien.
Ganz erhabene Momente ergeben sich auch an Stellen, in denen Hamilton ganz Musical-mäßig dem Ensemble wunderbare Harmonien in den Mund legt.

Die Texte
Mit Miranda-Texten geht es mir ähnlich wie mit Grönemeyer-Texten. Das sind im Grunde keine Liedtexte. Das ist Lyrik, das ist Poesie. Man kann diese Texte auch als Gedichtband veröffentlichen. Lin-Manuel Miranda hat so eine einzigartige Fähigkeit, nicht nur zu erzählen, sondern mit Sprache umzugehen. Es geht nicht darum, eine Story voranzubringen, sondern sie in allen Farben zu schildern, Tiefen und Höhen hervorzubringen. Dabei entstehen unvergleichliche Bilder, Metaphern und Reime in mitreißenden Rhythmen.
Die Choreografie
Die Choreografie von Hamilton ist das dichteste und beeindruckendste, was ich jemals in einem Musical gesehen hatte. Bis aufs Jota hält sich die Hamburger Inszenierung an die Vorlage vom Broadway, so dass sich das gesamte Ensemble inklusive Hauptdarsteller sehr oft gemeinsam auf der Bühne befindet, oft auch zwei beide Ebenen verteilt.
Die Choreografie unterscheidet sich natürlich insofern von anderen, als dass hier der HipHop als tänzerisches Element stark hervortritt.
Aber so wie Miranda jedes Wort zurecht geschliffen hat, jede Harmonie vervollkommnet hat, so hat auch Andy Blankenbuehler hier etwas vollkommenes abgeliefert. Jede Bewegung symbolisiert eine Element des Textes oder ist durch den Fortgang der Handlung motiviert.
Und alle sind in diese Choreografien mit eingebunden. Sie sind zusammen mit Text und Musik zu einem großen gewaltigen Ganzen verschmolzen. Alles ist aus einem Guss.
Als die stärksten drei Choreografien empfinde ich Yorktown, Satisfied und Eye of the Hurricane.

Während Yorktown in der Choreografie noch am ehesten dem klassischen Musicaltanz in moderner Version entspricht, ist die Choreografie von Satisfied eine Umsetzung der bildlichen Erinnerung Angelicas an den Abend, den wir ein Lied vorher schon aus der Perspektive von Eliza gesehen hatten. Beeindruckend hier ist die Präzision, mit der bereits gesehene Bewegungen und Szenerien nochmal aufgenommen und in den anderen Kontext gepackt werden. Es haben eben zwei Menschen den gleichen Abend gesehen, aber mit unterschiedlichen Augen, aus unterschiedlicher Perspektive. Es gibt also eine objektive Wahrheit und eine jeweils subjektive Empfindung dazu und beide wurden visuell umgesetzt.
Ganz anders ist die visuelle, choreografische Umsetzung von Eye of the Hurricane. Hier tauchen Elemente aus Hamiltons bisherigem Leben auf, die sich auf der Drehbühne um ihn herum – einem Wirbelsturm gleich – in einer ganz eigenen Lyrik bewegen, quasi als choreografisches Gedicht in einer Ebene über dem Handlungsstrang.
Aaron Burr erzählt Hamiltons Geschichte, das Ensemble tanzt diese Geschichte. Man kann sich Hamilton auch sehr gut ohne Text als Tanzstück vorstellen, das keinerlei Erklärung bedarf. Die Choreografien stützen nicht das Stück, sie sind das Stück und dabei den Texten und der Musik gleichgestellt.
Die Choreografien sind zudem punktgenau mit der Beleuchtung verbunden und in meinem Empfinden stark inspiriert von der Bildsprache des Kinos, Wes Anderson kommt mir hier in den Sinn. Es ist die absolut perfekte Show.
Die Struktur
Hamilton ist auf seine Art ganz neu, eine Revolution. Aber von der Struktur ist es dann doch einfach klassisch angelegt: In meiner Empfindung lehnt sich Miranda da sehr an das für mich bis dato unerreichte Les Miserables.
Es nimmt die ganze Dramatik einer Lebensgeschichte in seiner ganzen Breite auf wie in Les Mis und bettet sie in einen geschichtlichen Kontext ein. Dabei wird das Innenleben der Hauptperson ebenso beleuchtet wie deren Beziehungen zum Umfeld.
In Les Mis wie in Hamilton startet die Hauptfigur in größten Schwierigkeiten, schafft die Wende in ein erfolgreiches Leben und kann sinnstiftend wirken, bedrängt von Widersachern und dem Kampf, die eigenen Ideale nicht zu verraten.
Große innere Monologe wie in Les Mis Stars oder Soliloquy finden ihre Entsprechung in Wait for it oder I am not throwing away my shot („I imagine death so much it feels more like a memory“).
Die Rückbesinnung auf sich selbst und die damit verbundene Entscheidung für einen Weg findet ebenso statt (Les Mis Who am I und Hamilton: In the eye of a Hurricane).
Auch der Revolutionsgedanke findet seine Entsprechung.
Der am Ende selbst erwartete Tod des Protagonisten und dessen vorheriger Blick ins Jenseits zu den Vorausgegangenen beschließt beide Musicals, in denen „die Guten“ jeweils zurückbleiben.
Lin-Manuel Miranda erfindet Musical also nicht neu. Er traut sich was. Er traut sich, ein auf den ersten Blick eher sperriges Thema zu nutzen und dabei Musik und Choreografie zu verwenden, wie sie vorher noch keiner verwendet hat. Dadurch, dass aber das Konzept ein sehr klassisches ist, funktioniert das Gesamtpaket ohne Wenn und Aber.
Die Umsetzung – die Inszenierung
Auf der Bühne im Hamburger Operettenhaus wurden bis auf die Übersetzung keine Kompromisse gemacht. Das Bühnenbild und die Choreographie bleiben im Vergleich zum Original vollkommen gleich, ebenso die Kostüme. Das beeindruckende ist die Gesamt-Ensemble-Leistung dieser Inszenierung.

Die Übersetzung
Dass Hamilton ein Phänomen ist, dass es unzählige Fans hat und warum, hab ich versucht, zu beantwortet. Die Frage, die jetzt noch bleibt, ist die:
Funktioniert ein ursprünglich englisch-getextetes Rap-Musical in einer deutschen Übersetzung?
In den Foren landauf und landab wurde ja schon vorher heftigst und kontrovers diskutiert, ob eine Übersetzung der genialen und lyrischer Texte Miranda-Texte überhaupt möglich sei. Ich habe mal einer Diskussion beigewohnt, da ging es um das Lied schlechthin, um My Shot.
Es heißt ursprünglich:
I am not throwing away my shot mit einer genialen Synkope der letzten beiden Silben.
Der Satz selbst hat dreierlei Bedeutungen. Die erste ist die wörtliche: Ich werde meinen Schuss nicht wegwerfen/ vergeuden. Die zweite lautet sinnbildlicher: Ich werde meine Möglichkeiten nutzen ich werde meine Flinte nicht ins Korn werfen. Dieser Satz fällt das erste Mal in einer Kneipe und so ist Shot auch als Glas Schnaps zu verstehen, das nicht stehenbleibt und kreiert so die dritte Bedeutung.
Wie soll man die Mehrdeutigkeit allein dieses einen Satzes denn ins Deutsche übertragen? Und dieser Satz steht ja nur stellvertretend für die ganze Masse an tiefgründigen und mehrdeutigen Zeilen, die Miranda zu einem Kunstwerk verwoben hat.
Es kann nicht 1:1 funktionieren, so viel ist klar.
Die Frage aller Fragen ist dann die: Kann der Geist, der diesen Zeilen zugrunde liegt, bewahrt werden? Kann ein dem Englisch nicht mächtiger die Tiefe und Sinnhaftigkeit des Musicals im Deutschen überhaupt fassen? Wird man den Texten Mirandas im Deutschen gerecht?
Ich beantworte hier eindeutig mit ja, ja, ja.
Natürlich wird auch in My Shot nicht alles an Bedeutung rausgekitzelt, was möglich ist. Es steht hier aber sinnbildlich für den Rest der übersetzten Texte: Manchmal (selten) geht etwas verloren. Aber es wird irre viel dabei gewonnen.
Es würde Miranda nicht gerecht, wenn man nur auf die Übersetzung schielen würde mit dem Ansinnen, es möglichst der Bedeutung nach zu übersetzen, egal ob einzelne Phrasen oder Lieder. In den Texten geht es um mehr. Da ist zum einen der größere Zusammenhang, da geht es um die Persönlichkeit, die die Texte widerspiegeln, da geht es um ganz viel, was zwischen den Zeilen transportiert wird und im großen Ganzen eine ganz eigene Sinnhaftigkeit und lyrische Schönheit erhält.
Die Übersetzer haben ganze Arbeit geleistet. Es funktioniert. Es wird eine wahnsinnige Fülle an Worten, Bedeutungen, Slang und Persönlichkeit ausgeschüttet, es läuft alles ineinander, es atmet einen Geist. Es ist nicht Miranda, aber verdammt nah dran.
Mirandas Texte sind ein Meisterwerk, die Übersetzung ist es ebenso.
My Shot
„My shot“ habe ich immer als „meine Chance“ im Sinne von „mein Schicksal in der Hand haben“ gesehen. Miranda spielt Hamilton als eine Getriebenen, der ein Ziel vor Augen hat: Sein Talent zum bestmöglichen nutzen, seine Vision verwirklichen. Dazu hat er nur dieses eine Leben.

So oft hat er gesehen, wie den Menschen das Leben durch die Finger rinnt. Er hat seine Mutter sterben sehen, Freunde. Er singt selbst:
See, I never thought I’d live past twenty
Where I come from, some get half as many
Er hat so viele junge Menschen sterben sehen. Für ihn ist der Tod immer ganz nah gewesen:
I imagine death so much it feels more like a memory
Er hat das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben. Auch so ein zentraler Satz im Musical:
why does he write like he is running out of time
why does he write like tomorrow won’t arrive
Weil es es oft genug gesehen hat, dass keine Zeit bleibt. Und deshalb darf er sein Schicksal nicht aus der Hand geben. Er muss sein Talent nutzen und darf dabei keine Zeit verlieren.
In diesem Zusammenhang macht er seiner Frau in seinem vorletzten Satz auf der Bühne eine unglaubliche Liebeserklärung:
My love, take your time
Da lässt er los, da erkennt er sich und sie im Gegensatz. Denn ihre Dankbarkeit dem Leben gegenüber lies sie immer genügsam erscheinen, von ihr stammt der Satz:
Look around, look around
how lucky we are to be alive right now
Sie ist dankbar, am Leben zu sein. Hamilton auch, aber anders: er fühlt sich dem Leben verpflichtet. Er lebt noch und deshalb muss er die Zeit nutzen.
Das tritt deutlich zu tage, als er die Nachricht vom Tod von John Laurens bekommt. Auf die Frage von Eliza, ob alles in Ordnung ist, antwortet er mit:
I have so much work to do.
Denn wieder hat er erfahren, dass der Tod Visionen begrenzt, dass das Ende jederzeit kommen kann. Und so stürzt er sich in die Arbeit.
„I am not throwing away my shot“ bezieht sich in seiner Schlichtheit tatsächlich auf die Persönlichkeit Hamiltons, ist sinngebend für seinen weiteren Lebensweg, für die Art und Weise, wie er sein Leben anlegt.
„I am not throwing away my shot“ wird übersetzt mit
„Ich hab nur diesen einen Schuss.“
Ich bewundere den Mut der Übersetzer, diesen Satz so stehen zu lassen. Denn auf das zweisilbige my shot fällt im deutschen das dreisilbige einen Schuss. Klar, dass das rein von der Sprachmelodie holpriger klingt. Dem Ehemann ist das ebenfalls nicht „smooth“ genug. Ich hingegen mag es ungemein.
Es ändert tatsächlich die Bedeutung. Die deutsche Übersetzung mit dem einen Schuss finde ich eher situativ geprägt. Er hat in der jeweiligen Situation nur diesen einen Schuss. Es ist die Abfolge von Möglichkeiten, in denen Hamilton die Möglichkeiten zum Schuss hat, also sich zu entscheiden. Er hat das Ziel vor Augen, muss aber eine ganze Reihe von Möglichkeiten nutzen, sich immer wieder neu entscheiden, um an sein Ziel zu kommen. Es geht darum, keine Möglichkeit auszulassen, immer die Augen offen zu haben.
Im Gegensatz dazu steht Burr, dem ebensoviele Möglichkeiten offen stehen, aber jede davon verstreichen lässt und abwartet. Wo Hamilton die Kompromisslosigkeit als Herausforderung des Lebens annimmt, jedes Mal neu nutzen muss, bleibt Burr der, der jedesmal wieder seine Karrierechance verpasst aus Angst, sich einen Fehlschuss zu erlauben.
Das sind zwei vollkommen legitime Möglichkeiten der Interpretation und das wahrhaft meisterliche daran ist:
Benét Monteiro als Hamilton verschreibt sich dieser Interpretation ebenfalls, nimmt den Text so an und kreiert einen anderen Hamilton als Miranda es tat (siehe Darstellerkritik).
Monteiro gibt den Hamilton jung und stürmisch, nicht so verbissen, wie Miranda. Er lehnt sich an die Übersetzung an und lebt hitzköpfig situativ die Möglichkeiten, die sich ihm bieten auf ein Ziel hin.
Mirandas Hamilton ist ein im Leben allgemein getriebener, Monteiros Hamilton stürzt sich von Entscheidung zu Entscheidung.
Es geht also darum, dass eine Übersetzung Bedeutungen verändern kann und verändern darf, solange es im Bezug auf das gesamte Stück schlüssig bleibt. Wenn sich das eine Zahnrad dreht, muss man im Blick haben, dass sich viele weitere mit drehen. Das ist gelungen, alles passt ineinander und deshalb eine Meisterleistung der Übersetzer!
Noch mehr Beispiele
Sieht man also mehr in einer Übersetzung als die Übertragung in eine andere Sprache zu Verständniszwecken, wird man nicht damit zurecht kommen. Lässt man ihr die Freiheit, im Geiste des Erfinders auch andere Interpretationen zu ermöglichen, wird man erfahren, dass diese Übersetzung auf diese Weise einwandfrei funktioniert und an genug Stellen nahezu perfekt. Denn auch der Flow der Übersetzung geht niemals verloren, zieht einen immer weiter. Die deutschen Texte sind über das ganze Stück hinweg durchaus sinnig, sogar hintersinnig, modern. Es wird im deutschen Slang gerappt („du bist ’n Babe ich möcht‘ dein Badewasser saufen“).
Es gibt perfekte Wortspiele im Deutschen, so reimt sich bei Mulligans erstem Auftritt in die Hose gehen auf Hosen nähen.
Manche Übersetzung passt – obwohl ein wenig weiter weg von der Übersetzung – genauso perfekt wie das Englische:

Die Zeilen der Schuyler-Schwestern mit work werden im Deutschen zu läuft (gibts im Merchandising-Stand auch ein tolles T-Shirt dazu).
I’m looking for a mind at work.
Ich seh mal, was da oben läuft.
Dieses „läuft“ passt einfach perfekt zu Choreographie, als wäre es ursprünglich darauf getextet worden.
Wenn Hamilton dem Kistenredner Samuel Seabury ins Wort fällt, dann fällt da der Satz „wie Hunde untergehen“, es geht um „Stöckchen und Herrchen,“ noch bevor er wie im Original singt, dass sein Hund eloquenter ist als der Redner. Da hat man diesen Faden vorweggenommen, weitergesponnen, da hat man nicht stur übersetzt und mit mit Sprache gespielt.
Ich mag King Georges Allüren, als er den Auswanderern in das riesige Amerika Sätze hinterherruft wie eure Welt ist ohne mich zu klein und damit seinen Größenwahn versinnbildlicht, genauso wie er den kindisch-trotzigen mimt und singt
spielen wir ein bisschen Krieg und dann haben wir uns wieder lieb.
Auch hier geht gar nichts verloren, keine Textidee, keine Facette der Persönlichkeit. Das macht Spaß, das ist genial.
Schnell vs. langsam
In vieles, was auf deutsch schnell gerappt wird, muss man sich einhören, es gibt einige Stellen, die beim ersten Hören nicht verständlich sind. Aber das ging mir im Englischen ebenso. Diese hunderten schnellen Silben des Lafayette perlen wie im Englischen, da kann ich aber beim besten Willen nicht sagen, ob das adäquat übersetzt ist. Zu schnell ist da der Darsteller beim Sprechgesang.
Wahnsinnig tiefgründig und trotzdem gefällig gelingen prinzipiell alle ruhigen Lieder. Es ist ruhig uptown ist im deutschen dermaßen herzergreifend, da ist Gänsehaut garantiert.
Love does’t discriminate
between the sinner and the saint
and it takes and it takes and it takes
wird im Deutschen zu
Liebe ist für alles blind
was wir auch tun, wer wir sind
sie nimmt und sie nimmt und sie nimmt
Ich halte das für ebenso lyrische Zeilen wie das Original.
Auch das Wiegenlied Dear Theodosia ist herzzerreißend schön übersetzt: der Vergleich zwischen den Babys, die ihre ersten Schritte machen werden, genau wie der US-amerikanische Staat seine ersten Schritte macht, sich entwickelt und die Fürsorge der beiden Staatsmänner für beide: wunderschön.
Ich schreibe hier einfach noch ein paar Zitate, die ich mir mitgeschrieben habe, weil sie einfach wunderschön sind
- „mit offenem Visier können wir nicht gewinnen“ (Aaron Burr, Sir)
- „wird Zeit dem Typ eine Bühne zu bauen“ (nur diesen einen Schuss)
- „lieber erschossen als unentschlossen“ (Farmer refuted)
- „Die Stille wird zu laut“ (Es ist ruhig uptown)
- „Die Geschichte wird Zeuge sein“
- „frei sein“ (rise up)
Was mir immens gefällt und möglicherweise auch denen, die das Stück selbst schon in- und auswendig kennen: Manche Zeilen bleiben dann denn doch unübersetzt, zum Beispiel:
- „In the greatest city in the world“
- „George Washington is going home“
- „Immigrants – we get the job done“
Ich fasse nochmals zusammen: Die Übersetzung ist in meinen Augen perfekt gelungen. Es ist ein Genuss, es macht es den Menschen, die zu wenig Englisch sprechen, leicht, zu folgen und auch ihnen wird sich die sprachliche Brillanz des Lin-Manuel Miranda offenbaren.
Die Darsteller und ihre Rollen
Ich habe keinen fairen Vergleich. Ich kenne nur die Originalbesetzung aus dem Film, wie er auf Disney+ läuft und die war absolut das Non-plus-Ultra. Ich habe es noch nicht mal live vorher gesehen, kenne es also nur aus der Kamera-Perspektive, in der nur die besten Bildwinkel verwendet wurden.
Insofern sind alle Vergleiche der deutschen Darstellern mit ihren Originalen Vorbildern unfair – und trotzdem werde ich sie heranziehen – einfach, weil sehr viele eben diesen Film kennen.
Benét Monteiro: Alexander Hamilton
Monteiro legt die Titelfigur Alexander Hamilton anders an, als Lin Manuel Miranda das tat, und das ist möglicherweise wie oben angeführt, der Übersetzung geschuldet: Er kehrt den jugendlichen Stürmer und Dränger heraus. Sein Hamilton ist gerade im ersten Teil an Ausbund an Energie und Leidenschaft. Zielstrebig ja, aber nicht so verbissen, wie Lin-Manuel Miranda ihn dargestellt hat. Eher der Typ junger Hitzkopf, der mit dem Kopf durch die Wand will und dafür jeden Schuss nutzt. Monteiros Ansatz gefällt mir im 1. Akt ausgesprochen gut. Da passt die Geschichte um die der Ohrfeige, die er dem Pförtner von Princeton gibt, gut, und man kriegt einen anderen Zugang, warum er unbedingt in den Krieg ziehen will. Er kommt viel jugendlicher und hin und wieder leichtsinniger rüber und dadurch verschieben sich ein wenig die Schwerpunkte. Gerade im Duett mit Washington bleibt dadurch viel mehr eine Vater-Sohn-Idee hängen als im US-Amerikanischen Original zwischen Miranda und Chris Jackson.
Monteiro gestaltet diesen Hamilton also als jungen Spring-ins-Feld, der unbedingt gestalten will. Dabei überzeugt er absolut mit Mimik und Gestik. Von überrascht bis ungläubig und mit herzlichen entwaffnendem Charme.
Aber auch seine Aggressivität in den beiden Battles passen super zu seiner Vorstellung vom jungen Hamilton. Gerade bei der 2. Debatte, die rein textlich so unter die Gürtellinie geht, ist das stringent zu jungen Mann, der mit dem Kopf durch die Wand gegen alte Vorstellungen durchdringen will und dem jedes Mittel recht ist.
Das gefällt ungemein, bringt er doch auch das passende Stimmvolumen mit. Man hört immer einen leichten Akzent. Das ist am Anfang ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber man hört sich gut ein und schließlich spielt er einen Einwanderer.
Im 2. Akt dann behält er diesen eher unbekümmerten Stil ein bisschen zu lange bei und da gehen unsere Vorstellungen jetzt ein wenig auseinander. Denn die Geschichte lässt Hamilton im 2. Akt die tragische Seite des Lebens kennenlernen. Am Tod seines Sohnes zerbricht fast seine Ehe und er selbst. Er muss sich konfrontieren mit seiner Art, seiner Lebensweise, seinen Zielen. Die Brillanz, mit der Miranda am Ende des Gründervater-Lebens durchs Leben geht, wach im Geiste und weiterhin schaftsinnig, aber gesetzter und mit der Last seiner Geschichte auf dem Rücken, fehlt Monteiro – noch. Ein klein wenig vermisste ich den Wandel, die Darstellung der Erfahrung, die Weisheit des fortschreitenden Alters. Sicher bleibt Hamilton in den sprachlichen Duellen weiter voller Perfektion (Ihr untergebener Diener), aber die Sichtweise auf das Leben hat sich doch unweigerlich geändert. Ich denke, dass Benet Monteiro diese Reife noch entwickeln wird, das Zeug dazu hat er allemal.

Ivy Quainoo: Eliza Hamilton geborene Schuyler
Eliza Hamilton ist die tragende Rolle im Stück und nicht zuletzt wegen ihr heißt das Stück Hamilton. Es ist auch ihr Stück. Miranda hätte es auch Alexander nennen können oder Alexander Hamilton. Aber das tat er nicht. Denn es geht nicht nur um ihn, es ist auch die Geschichte seiner Frau, ohne deren Rückhalt und Liebe er nicht das erreicht hätte, was er erreicht hat und die durch ihre zielstrebige Art nach seinem Tod sein Vermächtnis bewahrt hat. Das erste Lied des Musicals behandelt Alexanders Leben, das letzte Stück handelt von Elizas Leben. So schließt sich sinnbildlich der Kreis der Geschichte eines außergewöhnlichen Paares, wie die Choreographie auch andeutet. Der letze Moment auf der Bühne allerdings gehört ihr allein.
Hervorragend gesungen und gespielt: Ivy Quainoo. Sie gibt der zurückhaltenden Eliza eine angenehme Ruhe und darin eine wirklich toll gespielte Tiefe. Der Satz, den sie voll ausspielt und der Elizas Persönlichkeit in ihrer Darstellung am besten unterstreicht, ist „ich stehe bei Partys immer abseits“. Der Mittelpunkt ist nicht ihres. Wohl aber die tief empfundenen Emotionen. Diesen Charakterzug bildet sie bis zum Schluss perfekt ab. Als sie nach Hamiltons Tod hervortreten muss, tut sie es von der Liebe zu ihrem Mann und ihrer Aufgabe erfüllt und ermöglicht ihm so seinen Platz in den Geschichtsbüchern dieser Welt. Auch der Seufzer am Ende bliebt zurückhaltend.
Quainoo entfaltet das Bild dieser tatsächlich selbstbewussten Frau (sie schreibt an Washington, der Hamilton nach Hause schicken soll) ergreifend schön und klar in der Haltung und der Gestik. Das Stück ist so treibend und fordernd, Hamilton ist treibend und fordernd und Eliza bleibt ruhig in sich. Sie reflektiert sich, sie ist die geerdete von beiden.
Wo Alexander immer weiter und höher will, holt sie ihn zurück: das wär mir genug. Tiefe Dankbarkeit nicht nur ihrem Alexander, sondern dem Leben allgemein gegenüber meinte ich immer zu spüren, mit der sie dem umtriebigen Alexander den ruhende Pol darstellt, das Zuhause, da dieser braucht.
Nach dem Betrug von Alexander wird sie weniger von leidenschaftlicher Rache getrieben als von tief empfundener Enttäuschung innerhalb derer sie eine ganz bewusste Entscheidung trifft.
Sie versöhnt sich mit Alexander nach Philips Tod ruhig und ohne Vorwürfe. Und als Hamiltons Tod bevorsteht und er sich dessen bewusst wird, folgt dieser innere Monolog, der an vielen Stellen so gehetzt klingt – bis er Eliza vor seinem inneren Auge sieht. Sie ermöglicht ihm, den Fokus zu bewahren.
Wo ich bei Philippa Soo in der Originalbesetzung so eine unglaubliche Zartheit wahrnehme, fast elfengleich, präsentiert sich Quainoo in ihrer Zartheit sehr viel bodenständiger.
Insofern gestalten Monteiro und Quainoo Alexander und Eliza als Paar, dass sich in ihrer Gegensätzlichkeit gefunden hat, sich ergänzt und braucht.
Gino Emnes: Aaron Burr
In die übergroßen Fußstapfen von Leslie Odom jr. tritt im Operettenhaus Gino Emnes – und füllt sie zentimetergenau aus. Perfekt, wie er hier Hamiltons Freund und Widersacher gibt! Die Stimme ist glasklar, er wandelt vom Erzähler, der sich dem Publikum immer freundlich-informierend zuwendet sicher zum neidzerfressenen und aalglatten Machtmenschen, der gerne im Mittelpunkt der Macht stünde, in diesem Zimmer, wo alles passiert.

Überaus beeindruckend: das seine Persönlichkeit ausleuchtende Geständnis Wait for it, das zurecht mit Szenenapplaus überschüttet wird.
Tief verstörend die Wut, die ihn auch stimmlich packt, als Hamilton bei der Wahl zum Präsidenten 1800 als Zünglein an der Waage für Jefferson stimmt und Burr damit ausbootet. Die Rache gestaltet er überaus persönlich befriedigend. Darauf dann mein persönliches Highlight: Das Duell, in dem er sich weinerlich mit jedem Satz rechtfertigt, warum er Hamilton erschossen hat. Das ist stimmlich unglaublich intensiv.
Chasity Crisp: Angelica Schuyler
Ein Traum. Auch Crisp hat mit Renée Elise Goldsberry aus der Originalbesetzung eine Vorgängerin, die es ihr schwer macht, das Rollenbild auf sich anzupassen, so übermächtig brillant war Goldsberry in ihrer Rolle. Aber auch Chasity Crisp braucht den Vergleich nicht zu fürchten. Stimmlich ähnlich perfekt wie die Vorgängerin im Original bringt sie ihre lebenslange, liebevolle Wertschätzung für ihren Schwager Alexander und für ihre geliebte Schwester zum Klingen.
Dabei agiert sie in ihren Solos eigenständig reflektiert, mit ihrer Schwester als Einheit in völliger Harmonie und allzeit unterstützend. Perfekte Rollenbesetzung.
Auch ihr Satisfied, das diese Unmengen an Text mit zungenbrecher-schnellen Silben hervorbringt, sind ein Genuss.
Mae Ann Jorolan: Peggy Schuyler / Maria Reynolds
Die kleine Peggy im ersten Akt spielt sie derart klein und süß, dass ich auf den 2. Akt überaus gespannt war. Und siehe da: Was da an rauchiger Soulstimme als Maria Reynolds aus diesem zarten Körper kam, voller Sex-Appeal und Verführung – wow! Hin und weg war ich, großartig und bewundernswert.
Charles Simmons: George Washington
Der Ur-Washington Chris Jackson ist – ebenso wie der historische Washington – einen Kopf größer als Hamilton, und gibt den Anführer aufrecht und erhaben. Simmons besitzt diesen körperlichen Vorzug nicht. Das macht die Szenerie anders. Hamilton oder die Gegner müssen nicht aufschauen zu ihm. Er kann sich bei seiner Art, Menschen zu führen nicht so sehr auf seine Körperlichkeit verlassen, sondern muss seinen Charakter so gestalten, dass man ihm den die Führungsposition aufgrund seiner charakterlichen Eignung abnimmt. Und das gelingt hervorragend.
Die Beziehung zu Hamilton ist ein wenig anders. Väterlicher, sorgsamer. Sie ist geprägt von Sorge um diesen talentierten Mann, dem er zugetan ist. Er will ihn bewahren, er will, dass er sein Talent nutzt, er will ihn zu der Position führen, die seinem eigentlichen Talent entspricht. Er will ihm helfen, den richtigen Schuss zu machen. Und muss ihn dafür immer wieder bremsen. Die Geschichte wird Zeuge sein mag ich im Original nicht so sehr. Aber hier. Das ging unter die Haut. Das ehrliche Geständnis eines Mannes, der Fehler gemacht hat und sich aus ganzem Herzen wünscht, dass sein Schützling diese Erfahrung nicht machen muss. So viel Elend hat Washington auf dem Schlachtfeld schon gesehen, er möchte nicht, dass Hamilton dem ausgesetzt wird. Zum erstem Mal erschloss sich mir instinktiv, warum er Hamilton dreimal mit Sohn anspricht.

Seine Entscheidung für die Taktik im Kampf um Yorktown, fällt er vor dem Hintergrund seiner eigenen Geschichte deshalb auch nicht leichtfertig, wie es Hamilton gemacht hätte, sondern erst dann, als es nicht mehr anders geht. An dieser Stelle übergibt er Hamilton sein erstes Kommando und er geht mehr als bewusst dieses Risiko ein wie ein Vater, der erkennt, dass es Zeit wird, das Kind ziehen zu lassen.
Es wird viel klarer, warum dieses Duo so erfolgreich ist, warum Jefferson und Madison neidisch auf diese Verbindung blicken. Nicht nur, weil sich da die Macht bündelt, sondern weil diese beiden Männer zu zweit besser waren als sie es allein ohnehin schon gewesen wären.
Diese Interpretationsmöglichkeit schafft Simmons mit seiner Darstellung des Washington und es gebührt ihm größter Dank.
Sein Ein letztes Mal wird am Ende mit großem Zwischenapplaus beklatscht, denn es war so erhaben, so befreiend und eindringlich gesungen.
Daniel Dodd-Ellis: Marquis de Lafayette/ Thomas Jefferson

Lafayette ist der selbstbewusste Franzose, der furchtlose Kämpfer, ein Alleskönner und ein klein wenig exzentrisch. Hamilton und Washington schätzen ihn aufgrund seiner Fähigkeiten. Dodd-Ellis stattet ihn mit einem starken Akzent aus. Perfekt sein Auftritt in Guns and Ships. Wahnsinn, diese Sprechgeschwindigkeit!
Thomas Jefferson ist die Lässigkeit in Person, nimmt sich und sein Amt nicht immer ganz ernst und weiß, sich sein Politikerleben höchst angenehm zu gestalten. Er ist in seinen Ausführungen deutlich kürzer als Hamilton, es wird an vielen Stellen deutlich, dass er Hamilton intellektuell gesehen nicht das Wasser reichen kann. Das spielt Dodd-Ellis schön aus, allerdings treibt er es nicht ganz so auf die Spitze wie Daveed Diggs in der Originalbesetzung. Macht aber überhaupt nichts, es macht Spaß, ihm zuzusehen. Er lässt seine Zeilen perlen. Er liefert ohne Fehl und Tadel. Es passt einfach!
Redchild: Hercules Mulligan/ James Madison
Eine Hammer-Stimme, die einem durch Mark und Bein geht. Der eher grobe Mulligan an der Seite Hamiltons steht im krassen Gegensatz zum Politiker James Madison, der eher ruhig und – politisch notwendig – hinterhältig agiert.
Beide Rollen stehen Redchild gut, ich fand den Madison sogar extrem ausdrucksstark.
Oliver Edward: John Laurens/ Philip Hamilton
Ich habe mich persönlich ein wenig schwer getan am Anfang, weil die drei Freunde Hamiltons vom Style her sich von den bekannten schon deutlich unterscheiden. Wer ist da jetzt wer? So schnell, wie die Bälle hin- und her gespielt werden, hatte ich Angst, ohne die vertrauten Gesichter den Überblick zu verlieren. Deswegen ging mir der John Laurens im ersten Akt auch ein wenig unter.
Den Philip allerdings, den fand ich hervorragend. Sein Gedichtvortrag war herzerfrischend. Mit üppigem Selbstbewusstsein ausgestattet, lässig und forsch tritt er auf und füllt die Rolle von Anfang bis Ende perfekt.
Jan Kersjes: King George III.
Höchste Erwartungen gibt es an denjenigen, der den König George III. darstellt. Diese Nummern sind so perfekt, und gleichzeitig damit aber überaus heikel. Der König muss ein bisschen drüber sein, aber es darf nicht ins komplett Lächerliche abrutschen.
Es ist ein wenig wie die Herodes-Szene in Jesus Christ Superstar. Unbedingt notwendig, aber nur in einer Dosierung, die die Inszenierung auch verträgt.

Jan Kersjes war fabelhaft, sensationell… ich kann nur in Superlativen schreiben.
Er bemüht sich nicht, Jonathan Groff aus der Originalbesetzung 1:1 zu kopieren. Da die Originalchoreographie wie überall erhalten blieb, hatte er nicht viele Möglichkeiten, hat aber alle Register gezogen und dank perfekten Mienenspiels diesen König zum Leben erweckt.
Einfach großartig, wie er stimmlich zwischen beleidigter Leberwurst, ungläubigem trotzigen Kind und rachsüchtiger Ironie schwankt und sich trotzdem in königlicher Haltung versucht, einen Rest Würde zu bewahren. Für mich in einer großartigen Cast die perfekteste Leistung überhaupt!
Fazit
An alle Hamilton-Fans: Natürlich müsst ihr das anschauen, das ist überhaupt keine Frage!
An alle Skeptiker: So etwas tolles in Deutschland und ihr überlegt noch? Original-Choreographie, Original-Kostüme, Original-Bühne und eine wirklich würdige Cast – natürlich müsst ihr das anschauen. Gebt der Übersetzung eine Chance und entdeckt Altes neu und Neues dazu.
An alle: Ich freue mich unbändig, das gesehen zu haben – danke an Stage Entertainment.
Hamilton ist anders, Hamilton ist besonders, Hamilton ist wuchtig und Hamilton ist jetzt schon Legende. 11 Tony-Awards können nicht irren und nein, die Übersetzung ist kein Hinderungsgrund, sondern eher ein Pull-Faktor.
Danke an die Übersetzer Kevin Schroeder und Sera Finale. Sie schufen ein ein Meisterwerk für ein Meisterwerk.
Danke Stage Entertainment, dass ihr Hamilton nach Deutschland geholt habt!
Alle Fotos soweit nicht anders gekennzeichnet: Johan Persson für Stage Entertainment.
Via Twitter auf Deinen Blog gestoßen. Rezension zu Hamilton verschlungen: Zack, verliebt. Lieben Dank für diesen großartigen und fundierten Bericht. Ich bin selber Fan seit es bei Disney + läuft, verehre Miranda und kann es kaum erwarten, es endlich live zu sehen!
😍 Danke für deinen Kommentar! Macht mich ganz verlegen. Viel Vergnügen bei deinem persönlichen Hamilton-Erlebnis, wann immer es auch sein mag!