Wow, was war das?
Jekyll & Hyde gehört zu meinen Herzensmusicals, ich bin immer euphorisch, wenn ich es irgendwo sehen kann. Im Deutschen Theater in München gastiert es derzeit in der Inszenierung von Andreas Gergen, die erstmals im Sommer 2021 in Merzig zu sehen war (Wiederaufnahme ebenda im Mai 2022). Natürlich war ich dort. Und es war PHÄNOMENAL! Eine umfassende Kritik.

Das Musical
Jekyll & Hyde ist ein Musical mit Musik von Frank Wildhorn und Leslie Bricusse. Als Vorlage diente ihnen der bekannte Roman Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson. Es wurde im Mai 1990 erstmals in Houston aufgeführt, nach Deutschland kam es im Februar 1999 ins Musical Theater Bremen.
Inhalt Jekyll & Hyde
Dr. Henry Jekyll ist Arzt und Wissenschaftler. Sein Vater sitzt mit einer schweren psychischen Erkrankung in einer Anstalt und Jekyll möchte ihn mithilfe seines Könnens heilen. Dafür forscht er, ob sich das Gute und das Böse im Menschen trennen lassen und das Böse dadurch beherrschbar wäre. Seine Forschungen sind so aussichtsreich, dass er sie an Menschen fortführen möchte. Er erbittet daher vom Aufsichtsrat des Krankenhaus die Genehmigung dafür, die ihm allerdings verwehrt wird.
Nur seine Verlobte Lisa glaubt an ihn. Beide führen eine liebevolle Beziehung, die aber von ihrem Umfeld kritisch beäugt wird, da Henry als seltsam gilt. Eines Abends lernt Jekyll im Nachtlokal Red Rat die Prostituierte Lucy kennen. Beide sind fasziniert voneinander, und obwohl Jekyll Lucys eindeutiges Angebot ablehnt, ist Lucy Hals über Kopf verliebt. Sie sieht in dem Gentlemen und angesehene Arzt Dr. Jekyll all ihre heimlichen Sehnsüchte vereint. Dieser verspricht ihr, dass sie sich in jeder Notlage an ihn wenden könne.
Nach einer erneuten Begegnung mit seinem Vater entschließt sich Jekyll, selbst seine eigene Versuchsperson zu sein. Er spritzt sich eine selbst kreierte Droge, unter deren Einfluss er sich in den unheimlichen Mr. Hyde verwandelt.

Dieser handelt instinktgetrieben, böse und impulsiv. In einem Rachefeldzug ermordet er sämtliche Mitglieder des Krankenhaus-Aufsichtsrats. Jekyll ist darüber bestürzt und muss zusehen, wie ihm sein eigenes Experiment immer weiter aus den Händen gleitet: Er kann bald nicht mehr kontrollieren, wann er sich in Hyde verwandelt und so nicht mehr seiner Vernunft untersteht. So vergräbt er sich in sein Labor, um weiter zu forschen und die Umwelt vor ihm zu schützen. Lisa, die wie alle anderen, nichts ahnt, beschleichen nun kurz vor der Hochzeit Zweifel und sie betrauert, dass die gemeinsame glückliche Zeit nun seinem Wissenschaftswahn weichen muss.
Als Jekyll das Ausmaß von Hydes Gefährlichkeit erkennt, schreibt er Lucy, die erneut von Hyde aufgesucht wurde und die auch von seiner animalischen Art angezogen wird, einen Brief mit der Bitte, London sofort zu verlassen, weil er weiß, zu was Hyde im Stande ist. Doch noch bevor Lucy fliehen kann, wird Jekylls Befürchtung wahr und Hyde erwürgt sie.
Jekyll kämpft mit seinem alter Ego Hyde und wird sich dabei der Tatsache gewiss, dass er Hyde nicht mehr viel entgegenzusetzen hat. Ihn zu bezwingen, wie er es sich einst vorgestellt hat, erscheint unmöglich, da dieser Teil unauflöslich mit ihm verbunden ist. Als Hyde auch bei der Hochzeit von Lisa und Jekyll auftaucht, bittet Jekyll seinen Freund Utterson, ihn zu töten. Da dieser sich dazu nicht im Stande sieht, stürzt sich Jekyll, um seine geliebte Lisa zu schützen, in ein Messer.
Musik
Jekyll und Hyde lebt ohne Frage von der wirklich spannenden Story. Aber Frank Wildhorn hat mitreißende Musik dazugeschrieben. Kraftvolle, schnelle und treibende Ensemblenummer gehören dazu wie Fassade und Mörder, die enthüllen, anklagen und verdeutlichen. Mehrere Songs sind gern gesungene Solotitel wie zum Beispiel das epische Dies ist die Stunde. Am bekanntesten wohl dürften Lucys Nummer Schafft die Männer ran sein, die laut, ein wenig übertrieben und durchweg provozierend wirkt. Als Gegensatz angelegt sind die beiden Duette, die Jekyll mit den Frauen singt: Mit Lisa das träumerische, eher naive und idealistische Liebeslied Nimm mich wie ich bin, mit Lucy das erotische und triebhafte Gefährliches Spiel.
Die Jekyll & Hyde Inszenierung von Andreas Gergen
Interpretationsansätze
Die Liste der Aufführungen, die diesem Musical zu teil wurde, ist lang. Das Musical ist einfach zu gut und zu verführerisch, um nicht aufgeführt zu werden. Außerdem lässt es sich hervorragend auch mit nur kleinem Ensemble umsetzen. Die ursprüngliche Broadway-Version dauert 3 Stunden.
Schon öfter hab ich erlebt, dass hier Lieder in der Reihenfolge umgedreht wurden, um der Interpretation der Geschichte einen anderen Dreh zu geben. Die Art und Weise, wie Andreas Gergen hier gearbeitet hat, stellt das Gesehene in den Schatten. Aus drei Stunden Aufführungsdauer wurden hier durchgespielte 1 Stunde und 40 Minuten.
Der erste Teil kommt bald in Schwung, auch hier wurde gekonnt gekürzt und verdichtet. Aber dann nimmt das Musical derart an Fahrt auf, dass man unweigerlich so mitgezogen wird als säße man in einem offenen ICE.
Gergen arbeitet ganz minimalistisch, macht aus der großen, im Musical eher episch und eher breiter angelegten Story ein kleines, intensives und aufgrund der Zuspitzung der Dramatik perfektes Gesamtpaket, dass einen fordert und aufwühlt. Dabei reduziert er alles auf das Wesentliche und setzt damit gewollt Schwerpunkte.
Das Gute und das Böse

In jedem von uns gibt es zwei Wesen: Das Gute und das Böse. Wenn es mir gelänge, diese Naturen in zwei getrennte Persönlichkeiten zu spalten, wäre das Leben von jeder Unerträglichkeit befreit.
Gleich zu Beginn stellt dieser projizierter Schriftzug unmissverständlich Jekylls Idee in den Mittelpunkt. Fortan muss er nach anfänglichen Erfolgen erkennen, dass sich die beiden Wesenszüge eines Menschen eben nicht trennen lassen, sondern beide zusammen erst den Mensch zu dem machen, was er ist.
Dem Dr. Henry Jekyll, der sein Ich in zwei Persönlichkeiten aufspaltet, beide aber nicht endgültig voneinander zu trennen vermag, werden zwei Frauenfiguren gegenüberstellt:
Auf der einen Seite steht Lisa Carew, Mädchen aus gutem Hause, sittsam und brav, verständnisvoll und liebend, in richtigem Maße selbstbestimmt und loyal: Ein Vorbild als Tochter, Frau, Gattin. Die Inszenierung versieht sie mit einem biederen Blümchenkleid, betont ihre Loyalität.
Auf der anderen Seite steht Lucy Harris, die das Animalische, Instinktive verkörpert und die sich außerhalb jeder Moral bewegt: verrucht, mit der Lust und der Empörung spielend, bedient sie die unterschwellige Fantasien der Männer und stellt den bösen Gegenpart. Dem einen Jekyll, der sich dann in zwei Persönlichkeiten trennt , stehen also diese beiden Gegensätze als zwei Personen gegenüber.

Lucy
Wie das Böse seit Anbeginn der Menschheit als verführerisch beschrieben wird (Bibel, Apfel, Schlange und so weiter), so augenscheinlich ist Lucy hier als Prostituierte optisch kompromisslos auf Verführung aus: Sie ist quasi nackt. Provozierend singt sie darüber, wie viel Spaß ihr das Spiel mit der Verführung macht, wie sie die Macht über die Männer genießt. Das Stück aber erlaubt ihr darüber hinaus aber viel Raum, im weiteren ihre Persönlichkeit differenzierter auszugestalten und die Inszenierung setzt hier auch einen Schwerpunkt. Denn Lucys Persönlichkeit wird ausführlich beleuchtet. In Relation zur Straffung des Stückes bleibt ihr enorm viel Bühnenzeit.
Lucy besingt sehnsuchtsvoll den Wunsch nach einem anderen Leben, sie wünscht sich echt Liebe und ehrlichen Respekt. Hier erfährt der Zuschauer, dass gut und böse nicht eindeutig sind, dass es kein schwarz und weiß gibt. In der Ausgestaltung der Lucy wird dieses augenscheinlich Schlechte, Verachtenswerte also differenziert.
Die Person der Lucy ist es deshalb, die Jekylls ganzes Experiment mehr als infrage stellt. In Lucy sieht man, dass Gut und Böse nicht getrennt werden kann, weil es nichts feststehendes ist. Ethik und Moral sind immer eine Frage der Interpretation, der Umstände, der Persönlichkeit und der gesellschaftlichen Idee.
Lucy und Dr. Jekyll/ Hyde
Vielleicht auch deshalb sieht es die Inszenierung vor, dass Lucy und Jekyll/ Hyde nie Angesicht zu Angesicht spielen. Alle anderen Charaktere gehen in die Interaktion direkt zueinander gewandt. Nur Jekyll und Lucy nicht. Sie können sich buchstäblich nicht ins Gesicht sehen. Der gute Jekyll passt so gar nicht zur ruchlosen Lucy, der triebhafte Hyde wiederum kann so gar nicht mit der sehnsüchtig verliebten Frau. Ein Mensch wird nur mit allen seinen Facetten tatsächlich dem Gegenüber ein Mensch.
Das entfaltet große schauspielerische Momente. Beim ersten Aufeinandertreffen steht Jekyll auf der ersten Ebene, Lucy mitten auf der Bühne, sie sehen einander nicht an, sondern sprechen und singen ins Publikum. Auch das körperliche Aufeinandertreffen von Hyde und Lucy läuft so ab, es bleibt deswegen nicht einen Deut unerotischer. Später würgt Jekyll eine unsichtbar vor ihm stehende Lucy, die röchelnd einige Meter weiter zu Boden geht.
Es ist natürlich auch ein Spiel mit dem Publikum. Beide Darsteller geben die jeweilige Situation an den Zuschauer weiter.
Der unheimliche Mr. Hyde
Bis jetzt hatte ich immer nur die offensichtliche die Entwicklung Jekylls/ Hydes wahrgenommen. Auch die ist hier perfekt gelungen:
Die ganze Wut der Eröffnungsszene, in der er abgewiesen wird mit seinen Ideen, mit seinen Idealen, mit seiner Denkweise und seinem Forscherdrang, mit der Hoffnung, Gutes zu bewirken, diese ganze Wut entlädt sich in den bestialischen Morden an genau den Personen, die ihn verachten für das, was er ist.
An der gesamten Inszenierung, innerhalb der Fabio Diso diesen Charakter so toll entwirft, gefällt mir, dass die Morde, die Hyde begeht, nicht jedesmal neu aus impulsiver Wut entstehen, sondern einfach der Persönlichkeit immanent scheinen. Hyde ist das Böse, handelt also nicht jedesmal neu getrieben von Wut, sondern geht dabei vollkommen methodisch vor. Dieses Verhalten ist für ihn normal. Das macht für mich diese Figur noch viel unheimlicher.

Das Ende
Das Faszinierendste bleibt für mich aber das Ende: Denn hier wandelt sich auch die gute Lisa: Zunächst singt sie ihre Wut auf Jekyll hinaus und gibt ihm die Schuld am Scheitern. Und als dramatischer Höhepunkt ist es konsequenterweise sie, die Jekyll am Ende ersticht. Diese Abweichung von der Vorlage ist ein genialer Kniff und entlässt den Zuschauer mit der Frage: Welcher Teil der Lisa ist dafür verantwortlich? Der Gute? Der Schlechte?
Die Pein der Lisa am Ende auf der Bühne zeigt noch einmal, dass sich das Gute und Böse nicht voneinander trennen lassen.
Bühne und Video (Momme Hinrichs)
Genauso, wie Gergen das ganze Musical reduziert auf das Wesentliche, genauso ist auch die Bühne reduziert. Außer einem Gerüst, das noch zwei weitere Spielebenen zulässt, gibt es keine Bühnenaufbauten. Dass dieses Gerüst bis direkt zur Oberkante der Bühneportals bespielt wird, ist spannend und besonders, deutet vielleicht auch direkt die Vielschichtigkeit des Stückes an.

Zusätzlich werden lediglich einige wenige Requisiten gebraucht, um das Geschehen darzustellen.
Spielorte werden durch Hintergrundprojektionen verdeutlicht. Da war nun der Ehemann gänzlich fasziniert. Ich fasse aus dem O-Ton zusammen: Da hat sich jemand wirklich Gedanken gemacht und auch tatsächlich technisch einwandfrei und wunderschön umgesetzt. Der Mann spricht davon, dass es keine Ausreißer beim Licht gab trotz der unterschiedlichen Spielebenen. Da kann ich nicht mitreden, so was bleibt mir verborgen, ich möchte es aber hier nicht unerwähnt lassen.
Die Projektionen sind stets dynamisch. Oft bewegen sie sich, wirken dadurch lebendig und als Teil des Geschehens. Taucht Hyde auf, verfärbt sich das Hintergrundbild oft grün. Da hatte ich sofort so eine Hulk-Assoziation. Und tatsächlich bedient die Geschichte um Hulk ja ein ähnliches Thema.
Ganz oft findet sich im Hintergrund weite Wasserflächen. Sie symbolisieren wohl die Sehnsucht nach Freiheit, die die Menschen von je her mit dem Meer verbinden. Ganz augenscheinlich wird diese Verbindung im Duett, dass Henry Jekyll und Lisa singen: Nimm mich wie ich bin.
Sie singen es auf der ersten Ebene, stehen relativ weit auseinander und beschwören ihre Verbindung zueinander, stehen über den Dingen, über den Menschen, die ihre Verbindung missbilligen Die Bildebene hinter Jekyll zeigt dabei das weite Meer, während Lisa vor einer Steinwand steht.
Lisa steht für das Beständige, für das Immerwährende, für das Biedere. Jekyll steht vor dem Aufbruch, hat in sich die Sehnsucht nach individueller Freiheit, die sich für ihn wohl anders darstellt als für Lisa.
Ich finde das einen sehr spannenden Ansatz. Das Duett von Lisa und Jekyll trieft so von Verständnis, das man im allgemeinen annimmt, dass das fortwährende Harmonie zwischen den beiden sei: Das ideale Paar. Hier schleicht sich schon von Anfang an die Idee mit ein, dass sich beide zwar lieben, aber sich im Grundsätzlichen schon unterscheiden. Und konsequenterweise singt Lisa ihr Da war einst ein Traum dann weniger flehend und bedauern oder melancholisch, sondern eher wütend an Jekyll gerichtet.
In den Liedern von Lisa wird das mehrfach betont, dass schon der Start alles andere als einfach gewesen sein muss. Und das alles findet sich hier in der Inszenierung wieder in dieser Idee der Hintergrundprojektion.
Ganz stark auch die Szene, in der Hyde den Bischof ermordet, den er bei einer Prostituierten trifft. Auch hier explizit dargestellt, wie sich der Geistliche vor Lust in seinem Leiden windet, dabei aber die Arme ausgestreckt gefesselt hält wie Jesus am Kreuz. Im Hintergrund lodern Flammen und man entdeckt, dass der Bischof sich gefangen in seiner eigenen Hölle befindet. In einer Hölle, von der er anderen predigt und mit dem er anderen droht, selber aber darin umkommt.
Musik/ Arrangement
Wenn man jetzt beispielsweise die CD-Aufnahme von Jekyll & Hyde des Theaters an der Wien hört und dann in Deutschen Theater sitzt, könnte man fast meinen, man säße im falschen Stück. Die Arrangements der Stücke fallen viel pointierter, viel härter, viel rockiger aus als auf eben genannter CD. Das treibt das ganze ein bisschen mehr vorwärts und passt perfekt auf die straffe Inszenierung. Es ist ein wenig wilder und stützt so die expliziten Szenen im Nachtclub, es gibt dem unheimlichen Hyde noch einmal eine kräftigere Note.
Und dennoch bleiben die ruhigen Stücke melodiös und klar, unterstützen Solo-Geige oder Solo-Cello die Stimmen mit großer Zartheit.

Alles in allem ist dieses Arrangement perfekt gemacht für genau diese Inszenierung. Dazu kommen noch Musiker, die ihr Handwerk verstehen und unter der Leitung von Manuel Krass besten Sound fabrizieren.

Choreographie
Auch hier wurde bewusst mit dem Stück und dessen Ansinnen gearbeitet. Ohne viel Bühnenbild und Requisiten obliegt es der Choreographie, die Solisten mithilfe des Ensembles durch das Stück zu führen. Mit kraftvollen und eindringlichen Bewegungen erzählt das Ensemble die Geschichte mit. Die Szenen in der Bar geraten explizit, aber nicht unangenehm, weil die Choreographie dies zu verhindern weiß.

Auch die Solisten werden überlegt angelegt: Wenn Jekyll allein mit sich ist, sich allein fühlt und seine Ideen, denen niemand folgt, verwirklicht, drehen sich alle Ensemblemitglieder auf ihren Hockern um. Oft genug irrt er zwischen den Ensemblemitgliedern umher, einen Ausweg suchend. Gegen Ende sieht man Jekyll, wie er über diese Hocker steigt, quasi bildlich am Abgrund wandelt.
Kostüm (Ulli Kremer)
Wenn Lucy zum ersten Mal ihren roten Mantel ablegt, der sie schon zu Beginn von allen anderen abhebt, schluckt man zunächst vielleicht einmal, denn sie trägt so gut wie nichts. Aber dieses Explizite stützt die Inszenierung, wie ich oben schon ausgeführt habe und ist deshalb in höchstem Maße authentisch. Dem gegenüber steht die biedere Lisa im hochgeschlossenen, wadenlangen dunkeln Blümchenkleid als krasses Gegenteil.

Henry Jekyll ist unauffällig in einen dunklen Anzug gekleidet, von dem Jackett und Hemd dann als Fassade fliegen, als er sich das erste Mal in Edward Hyde verwandelt.
Pfiffig ist auch das übrige Ensemble als einheitliche Masse unauffällig dunkel gekleidet, aus der sich zwischenzeitlich die einzelnen Charaktere wie der Bischof oder Lady Beaconsfield durch einfache Kostümrequisiten wie Kette, Stock oder Bischofskappe hervortreten.
Die Damen sind dabei so gekleidet, dass sie mit wenigen Handgriffen vom biederen Jedermann/ von der biederen Jederfrau zur Dame aus dem horizontalen Gewerbe mutieren können. Zwei Wesenszüge so augenscheinlich in jeweils einer Person: Perfekt umgesetzt, würde ich sagen.
Darsteller
Dr. Henry Jekyll/ Edward Hyde: Fabio Diso
Diese Rolle ist so gewaltig. Und Fabio Diso ist das auch.
Den Henry Jekyll gibt er sanft, auch in der Stimme, eher hell und freundlich. Man merkt ihm die Liebe zu Lisa an, bleibt da aber nüchtern wie ein Wissenschaftler denn leidenschaftlich als ein verliebter Mann. Und doch begleitet man ihn in seinem Kummer und seinem Grauen, als er vor Lisa kniend erkennt, dass er sie verlieren wird.
Die Verzweiflung oder eher das Entsetzen, dass keiner seiner Idee folgen kann, wird ebenso deutlich sichtbar wie der Schmerz über die Hilflosigkeit dem Vater gegenüber.
Dies die Stunde ist so auch kein großer, lauter Triumph, sondern viel eher eine Notwendigkeit, eine Feststellung des Zustands. Es klingt eher Dankbarkeit aus ihm, dass er es bis hierher geschafft hat. Die Verwandlung dann ist unglaublich eindrucksvoll. Fabio Diso versteht es, seinen Habitus so zu verändern, dass sofort klar ist, dass Hyde ein furchteinflößender Charakter ist. Das Gangbild und die Haltung verändern sich, die Mimik wird überheblich, arrogant und abschätzig. Die ganze Körperlichkeit, die Diso hier auf die Bühne bringt, ist beeindruckend.
Ebenso die gesangliche Leistung. Ohne Ermüdungserscheinungen stemmt er stimmlich diese Rolle bis zum Höhepunkt, dem Duett von Jekyll und Hyde, also Diso gegen Diso. Alle Haare stellen sich mir da auf, so durchdringend steigert er dabei die Emotionen der beiden Figuren gleichermaßen. Während Jekyll immer weiter verzweifelt dagegen ankämpft, sich gegen Hyde zu behaupten, erlangt Hyde langsam aber sicher die Oberhand. Das ist auch erschütternd gut gespielt und gehört für mich zum Besten, was ich gesehen habe.

Fabio Diso führt den Zuschauer mit traumwandlerischer Sicherheit in Spiel und Stimme durch das Schicksal des Dr. Henry Jekyll und seines alter Ego Edward Hyde. Ich habe mitgefiebert, mitgelitten und war am Ende erschüttert, diesen Jekyll verloren geben zu müssen. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle! Herzlichen Dank, Fabio Diso!
Lisa Carew: Milica Jovanovic
Milicas Stimme ist so voll und klar, so einzigartig. Es ist ein Genuss, ihr zuzuhören. Ich danke ihr für ihre Interpretation der Lisa, die nochmal anders daherkam als mir schon bekannt. Diese Lisa ist so selbstbewusst, dass sie wütend ihren Henry ansingt und ihn verantwortlich macht für den verlorenen gemeinsamen Traum.
Und konsequenterweise ist es dann auch sie, die Jekyll schließlich ersticht und nicht Jekyll selbst, der sich selbst den Tod gibt.
Ihre ganze Verzweiflung wird da am Ende sichtbar. So wie Jekylls Experiment außer Kontrolle gerät, so gerät auch ihre Beziehung zu Jekyll außer Kontrolle. Sie möchte ihm die Freiheit zugestehen, die er braucht, verteidigt ihn gegen alle Anfeindungen, möchte ihm verzeihen und muss doch zusehen, wie er ihr immer mehr entgleitet. Das verändert auch sie. Die Gute, die Bodenständige, die Biedere muss am Ende das Schlechte in ihr zulassen. Die Wut und einen Mord aus Notwehr.

Milica ist perfekt in dieser Rolle. Zu Beginn fügt sie sich gänzlich unauffällig ins Ensemble ein, ihre Soloauftritte und Duette geraten zu traumhaft schönen Momenten. Ihre Verzweiflung am Ende rührt zu Tränen. Wow, vielen Dank dafür!
Lucy Harris: Miriam Neumaier
Ui, was für eine Powerfrau! Schon in ihrem ersten Solo, das allseits bekannte Schafft die Männer ran, ließ sie keinen Zweifel aufkommen, dass das hier ihre Bühne ist. Ich glaube, wenn das Micro ausgefallen wäre, dann wäre das nicht aufgefallen. Die hat eine stimmliche Energie, nahezu unerschöpflich und durchdringend.
Ihre ganze Dynamik ist faszinierend, egal ob in der Stimme oder in den Bewegungen. Da gelingt ihr die personifizierte Selbstsicherheit in ihrer Rolle als männerverschlingende Prostituierte genauso wie die leisen Zweifel und die stille Sehnsucht nach einem anderen Leben.

Alles in allem zeichnet sie Lucy als Persönlichkeit, die weiß, was von ihr erwartet wird und was sie auch professionell bedienen kann. Nach außen hin wandelt sie jenseits aller Moral und gerät aber ins Straucheln, wenn es an wahre Gefühle und wahre Ängste geht.
Auch ihre Körperlichkeit war einfach nur bewundernswert und auch authentisch. Es ist vielleicht nicht jedermanns Sache, so gut wie nackt auf der Bühne zu stehen. Miriam Neumaier tanzt und kokettiert, verführt und hat dabei die Hosen an (nicht! :-)) und das mit Verve! Die Funken zwischen ihr und Fabio Diso sprühen, da knistert es und entlädt sich auch gewaltig.
Das was eine über alle Maßen großartige Leistung von Miriam Neumeier, Dankeschön!
Lady Beaconsfield: Suzanne Dowaliby

Vollkommen selbstverständlich agiert sie in jeder Rolle, sowohl als Prostituierte als auch als Lady Beaconsfield und innerhalb des Ensembles. Ausdrucksstark ist das Wort, das mir bei ihr einfällt. Gesanglich fantastisch trägt auch sie maßgeblich bei zu einer nahezu vollkommenen Gesamtleistung des Ensembles (siehe unten).
Sir Denvers Carew: Sebastian Kroggel

An dieser Stimme kommt man nicht vorbei! Unglaublich, wieviel Kraft er auch innerhalb der Ensemblenummern entfaltet. Schon nach den ersten 5 Minuten war ich gefangen von dieser Stimme und der Art, wie Sebastian Kroggel damit umgehen kann, am besten aber zu hören ist das in seiner Rolle als Lisas Vater Sir Denvers Carew in Sein Lebenswerk.
Gabriel John Utterson: Florian Albers

Diese Rolle fällt sehr klein aus, aber Florian Albers schafft es trotzdem, zu vermitteln, dass er Jekylls Vertrauter ist und ihn stützt bis zu letzt. Immer irgendwie unsichtbar findet man ihn trotzdem immer wieder an Jekylls Seite. Faszinierend!
Simon Stride: Benedikt Ivo

Ho, der Benedikt Ivo schnappt sich von Anfang an einen ganzen Haufen Bühnenpräsenz! Er gibt den Eifersüchtigen, der Lisa die Verlobung mit Jekyll ausreden will. Dabei ist er energisch, ja sogar angsteinflößend, sowohl stimmlich als auch körperlich.
Ensemble
Das ganze Ensemble ist sehr fein und weitsichtig gecastet. Alles geht zwischen den Darstellern Hand in Hand, alles fließt und jeder stützt hier jeden. Gerade bei so kleinen Ensembles sind die einzelnen Stimmen zusammen nochmal so viel wichtiger und jeder einzelne Darsteller ist so perfekt, dass in der Gesamtschau etwas sehr Großartiges entstanden ist. So sehr die Hauptdarsteller Fabio Diso, Milica Jovanovic als auch Miriam Neumaier Einzelapplaus verdient haben, so sehr muss auch die Gesamtleistung hervorgehoben werden, denn sie ist es, die das ganze im wahrsten Sinne des Wortes reichhaltig macht! Dank geht also auch an Stefan Schmitz, Michael Przewodnik, Sophie Blümel, Henriette Schreiner, David Schuler und Timm Moritz Marquardt!
Fazit
Ich hab mir sofort Karten besorgt, um Jekyll und Hyde im Deutschen Theater in München noch einmal zu sehen.
Die Inszenierung strafft, lässt manches weg und stellt manches um. Sie reduziert das Stück bis auf das Wesentliche und schafft dadurch ein Rausch, der ohne Längen wie ein reißender Fluss gewaltige Energie freisetzt und ohne Umwege ans dramatische Ziel führt. Hier haben sich die Verantwortlichen wirklich was gedacht dabei, ein stimmiges Gesamtkonzept entwickelt, das den Namen Kunst verdient. Alles passt hier zu allem, alles fügt sich ineinander und in einzigartiger Weise haben die Darsteller das auf die Bühne gebracht. Dabei waren sowohl alle Sololeistungen wie auch die Ensembleleistung als Ganzes fantastisch. Mit nur 11 Darstellern wurde hier ein Meisterwerk geschaffen!
Also, liebes Ensemble, bis Sonntag!
Alle nicht extra ausgewiesenen Fotos: Dr. Joachim Schlosser Fotografie
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