Am Theater St. Gallen läuft diese Spielzeit Jesus Christ Superstar in einer Inszenierung von Erik Petersen. Premiere war schon letzte Spielzeit, das Stück wurde aber, wie so vieles andere, von Corona ausgebremst. Zur Wiederaufnahme-Premiere ging ich voller Vorfreude und ich war hellauf begeistert.
Mit dieser Inszenierung wird Jesus Christ Superstar in seinen Grundfesten erschüttert: Die Inszenierung wurde radikal in die heutige Zeit verlegt. Und nicht nur in die heutige Zeit, sondern in die digitale. Immer wieder arbeiten Inszenierungen mit modernen Elementen wie Handys und Laptops (z.B. Wien 2018). Aber sie sind meist Mittel zum Zweck, denn meist wird die Geschichte trotzdem sehr konservativ erzählt von der Idee her, die das Stück dem Zuschauer bietet. Hier in St. Gallen hat sich genau diese Idee schon grundsätzlich gewandelt. Handy und Co sind nicht nur Mittel, um eine Geschichte zu erzählen. Sie sind die Idee.
If you’d come today you would have reached the whole nation
Israel in 4 BC had no mass communication.
Von diesem Satz ausgehend, den Judas in Superstar am Ende singt, zäumt Petersen das Pferd also von hinten auf und setzt auf eben diese Massenkommunikation.
Dadurch ist das Stück in jede Richtung radikal anders. Das Beziehungsgeflecht der Figuren untereinander ist ändert sich. Die Inszenierung setzt andere Schwerpunkte, stellt andere Fragen und nimmt sich dafür auch künstlerische Freiheiten: Da werden Passagen musikalisch verändert oder ausgeschmückt, da wird A-Capella gesungen und sogar Textfragmente verändert.
Jesus Christ Superstar in St. Gallen unter der Regie von Erik Petersen ist ein Juwel unter den vielen Inszenierungen landauf und landab.
In höchstem Maße ungewöhnlich. Nicht gewollt modern, sondern einfach in sich anders und schlicht genial. Hier wurde etwas besonderes geschaffen. Etwas, woran sich zukünftige moderne Inszenierungen messen lassen werden müssen.
Jesus Christ Superstar
Inhalt
Das Musical erzählt die letzten sieben Tage von Jesus Christus, was in der Kirche Passionsgeschichte genannt wird. Also Palmsonntag: Der Einzug in Jerusalem, Gründonnerstag: Das letzte Abendmahl und Verhaftung, Karfreitag: Prozess vor Pontius Pilatus, Begegnung mit Herodes, Kreuzigung.
Jesus Christ Superstar beleuchtet die Sichtweise von Judas Iskariot, einem Jünger und gewissermaßen Jesus bestem Freund. Er gibt sich im ersten Song (Heaven on their minds) als Skeptiker zu erkennen. Er glaubt, dass die Bewegung um Jesus Christus ihre ursprüngliche Intention verloren hat, vom rechten Weg abgekommen ist. Er reibt sich auf an diesem Konflikt mit sich selbst und Jesus und den Jüngern, dass er den Hohenpriestern schließlich Jesus Aufenthaltsort verrät.
Jesus Christ Superstar beleuchtet die Sichtweise der Hohepriester, die Angst vor eben jener Bewegung haben, und von der sie glauben, sie irgendwann nicht mehr kontrollieren zu können. Um ihre Macht auf Dauer zu sichern, schmieden sie einen Mordkomplott.
Jesus Christ Superstar beleuchtet die Sichtweise der Jünger, die ihrem Herrn gerne folgen, aber kein tieferes Verständnis von dessen Lehre entwickelt haben. Einer dieser Jünger, Simon der Zelot, fordert Jesus auf, seinen Anhängern zum bewaffneten Aufstand gegen die Römer voranzustehen.
Jesus Christ Superstar beleuchtet die Sichtweise von Maria Magdalena, die in der Gefolgschaft von Jesus eine besondere innere Nähe zu ihm spürt und nicht weiß, wie sie diese Nähe ausgestalten kann. Und es beleuchtet einen Jesus Christus, der nach dreijährigem Wirken desillusioniert ist bezüglich seiner Jünger und seiner Wirkung auf sie. Der liebt, leidet, verzweifelt und durch und durch Mensch ist.
Am Ende kurz vor der Kreuzigung, stellt Judas Jesus nochmal die provozierende Frage, ob sein Leid und sein Tod das alles wert gewesen ist.
Das Musical lässt Gott bis auf wenige Stellen außen vor. Vielmehr beleuchtet es Jesus als ein besonderer Mensch, umringt von Freunden und Gefährten und wie er mit ihnen in Beziehung tritt. Alle werden gezeigt in ihren Überzeugungen, ihren Idealen und Ängsten. Dadurch und durch das Beziehungsgeflecht, wie die Leute zueinander stehen, wird die Motivation jedes einzelnen, zu handeln, sehr klar und so entsteht eine sehr komplexe Zusammenfassung der Geschehnisse und aus anderen Perspektiven, wie man sie aus der Bibel kennt.
Musik
Jesus Christ Superstar ist eine Rockoper. Zunächst war es ein Konzeptalbum und gar nicht für die Bühne vorgesehen. Von der Musicalpartitur gibt es drei Fassungen:
- eine orchestrale Fassung
- eine Fassung mit reduziertem Orchester und Band
- eine Fassung nur mit Rockband
Charakteristisch sind die Klänge der E-Gitarre und der meist treibende Bass. Aber auch eine der bekanntesten Balladen stammt aus der Feder von Webber: I don’t know how to love him.
Schnelle Chornummern sind dabei. Es ist insgesamt ein schnelles Stück im 70er Jahre -Sound.
Jesus Christ Superstar – Die Inszenierung in St. Gallen von Erik Petersen
Interpretation
Das Setting gibt schon mal die Idee vor: Jesus and the Followers steht schon vor Beginn auf große Leinwand projiziert. Der Schriftzug Jesus ist wie ein Fisch gestaltet. Ichthys – der Fisch, gilt als christliches Erkennungszeichen. Die Anfangsbuchstaben des Wortes werden verstanden als kürzestes Glaubensbekenntnis und bedeuten: Jesus Christus, Gottes Sohn und Erlöser.
Unser Erlöser tritt hier in dieser Inzenierung als Bandleader auf, die Jünger als seine Band. Die taucht auch während der Ouvertüre schon auf: Tänzer und Tänzerinnen, die Soulgirls, Maria Magdalena als Leadsängerin.
Das ist ja schon mal der erste pfiffige Kniff: Das englische Wort für Jesus Jünger in der Bibel ist zwar nicht Followers, aber doch im allgemeinen verständlich, was damit gemeint sein könnte: Menschen, die einem anderen folgen. Und Judas spricht im Musical eindeutig von Followern:
Your followers are blind
In unserer Zeit hat Follower natürlich eine herausragend andere Bedeutung: Die Leute, die in den sozialen Medien einem Menschen bzw. dessen Account folgen. Die Inszenierung mischt das. Jesus‘ Followers gibt es real: die Jünger. Und digital als Follower von Jesus‘ Account (@theRealJesus). Heutzutage misst sich der Ruhm von Social-Media-Stars an der Anzahl dieser Follower. Je mehr davon und je mehr Likes, desto mehr Reichweite, desto mehr Einfluss, desto mehr Wirkung und letztendlich desto mehr Geschäft.
Auf der Leinwand sehen wir so öfter Posts aus Jesus Timeline. Da sieht man ihn auf einem Konzert vor hocherhobenen Händen, vor euphorischen Fans, in Siegerpose, eben so, wie man heute die ganzen Instagram-Helden so kennt.
Gleich zu Beginn werden aber auch die Schattenseiten des Ruhmes deutlich und dass diese auch vor einem Jesus nicht Halt machen: In der Garderobe liegen Müll und leere Flaschen genauso wie Reste von Kokslinien (das wird auch auf eine Leinwand übertragen, damit der Zuschauer das auch in der ganzen Pracht sehen kann.) Mittendrin schläft ein zugedröhnter Jesus.
Der Zuschauer ist erstmal entsetzt über dieses explizite Hölle und dann nochmal entsetzt, dass es die Figur des Jesus ist, die mittendrin steht.
Wenn Jesus dann klarer im Kopf und vor allem anständig bekleidet ist, erkennt man im Look der Figur eine Anlehnung an Adam Lambert. Adam Lambert ist ein US-amerikanischer Sänger, der 2009 bei American Idol (das amerikanische Pendant zu Deutschland sucht den Superstar) den 2. Platz erreicht hat und seitdem Millionen von Platten verkauft hat. Seit 2012 ist er Sänger und Frontman der Band Queen und ersetzt somit den legendären Freddie Mercury.
Embed from Getty ImagesWarum Jesus hier ausgerechnet aussieht wie dieser Superstar , dafür gibt es mehrere Ansätze:
Jesus/ Adam Lambert
Adam Lambert ist mittlerweile Sänger der Band Queen, die vollkommen ikonisch zu den bedeutendsten Bands der Welt gehört. Deren Frontmann Freddie Mercury schon zu Lebzeiten sagte, er möchte kein Star sein, sondern eine Legende. Und deren Name Queen das weibliche Gegenstück zu King ist. Und Jesus wird als König bezeichnet. Sogar als er stirbt, steht über seinem Kreuz: König der Juden.
Zum anderen hat Adam Lambert einen immens hohen Wiedererkennungswert. Er ist ein schriller Paradiesvogel, der sich so überhaupt nicht einordnen lässt. Tätowiert bis an den Haaransatz, geschminkt und vom Kleidungsstil nicht fassbar bricht er mit allen Erwartungen. Adam Lambert ist heute so etwas wie George Michael in den 80er Jahren. Man kriegt in schwer zu fassen. Für jeden stellt er etwas anderes dar. Konservative reiben sich an ihm und verachten ihn für sein anderes Denken, so wie die Schriftgelehrten vor 2000 Jahren Jesus.
Und doch gibt es so viele, die genau das an ihm mögen. Die sich nicht festlegen lassen wollen und können. Denen das auch ganz egal ist. Die einfach nur fasziniert sind und denen wichtig ist, was er tut. Und die, die Show lieben. Dabei weiß man nicht so genau: Ist der immer so? Welcher Teil davon ist Show? Denn Adam Lambert zelebriert die Show.
Dass diese Ähnlichkeit gewollt ist, lässt sich an der grünen Leoparden-Jacke erkennen, die sowohl Lambert (siehe Bild oben) als auch Riccardo Greco als Jesus trägt!
Show oder nicht Show, das ist hier die Frage
Jesus wird also hier tatsächlich als der im bekannten Song besungene Superstar installiert mit allen Facetten, die einem solchen Superstar zugeschrieben werden. Dazu kommt die SocialMedia-Welt von heute: Aller wird gefilmt, alles ins Netz gestellt. Das Hauptthema, das sich für mich hier auftut, ist Folgendes: Was davon, was da im Netz landet, ist echt und was ist denn nur Show? Worum gehts dem Jesus denn? Tut er seine Wunder für mehr Likes oder nutzt er das Internet, um mehr Menschen für seine Sache zu erreichen? Nimmt die Masse diesen Inhalt überhaupt wahr? Oder verselbstständigt sich das alles zu einem bloßen Hype? Alles Fragen, die das Stück prinzipiell immer stellt, aber hier eben durch die SocialMedia-Idee noch stärker in den Vordergrund treten.
Schon Judas singt im Eingangslied:
You began to matter more than the things you said
Das ist eintypisches Influencer-Problem: Es kommt meist überhaupt nicht mehr auf den Inhalt an. Eine coole Pose, ein geiler Fummel, das reicht den meisten Followers. Inhalte? Zu kompliziert, zu langatmig. Kurzweilig muss es sein, in einen Post passen. Prägnant, dass es schnell viral gehen kann. Auf Schlagworte reduziert. Tiefer angelegte Themen? Fehlanzeige.
Am besten ist man das, was die Leute wollen, dass man ist.
Jesus singt in Poor Jerusalem:
but you live a lie
Meint eigentlich Jerusalem, also das Volk. Klingt aber so, als meinte er sich selbst.
Zweimal wird Jesus auch mit der Idee, dass das alles nur Show sein könnte, direkt in Verbindung gebracht: Einmal bei Herodes in King Herod’s Song:
Mit den Liedzeilen
Jesus, You just won’t believe
The hit You’ve made around here
You are all we talk about
The wonder of the year
stellt dieser erstmal genau dieses Phänomen vor: Jesus ist Influencer Nr. 1. Um dann enttäuscht festzustellen, dass Jesus die Erwartungen, die er in dem ein oder anderen erweckt, nicht erfüllen kann:
You’re a joke, You’re not the Lord
You are nothing but a fraud
Wie enttäuschend! Get out of my life!
Superstar, Influencer ohne Inhalt? Messias? Was verheißt dieser Jesus? Da fragt auch Judas am Ende noch einmal nach:
Do you think you’re what they say you are?
Und legt provozierend nach:
Did you mean to die like that?
Was that a mistake or
Did you know your messy death
Would be a record breaker?
Also doch alles nur für eine Menge Follower? So kompromisslos für eine Rekordzahl an Likes? Und genau in diese Kerbe schlägt auch die Ausgestaltung der Szene, in der Jesus vor Pilatus verhört, gefoltert und zum Tod verurteilt wird.
Hier haben sich über eine Videokonferenz zahlreiche Menschen versammelt, um eben diesem Spektakel beizuwohnen. Je weiter dieser Prozess fortschreitet, desto mehr steigt die Zahl der Zuschauer und der Likes. Wenn Jesus dann ausgepeitscht wird, sehen dabei mehr als 395 Mio. Zuschauer weltweit an ihren mobilen Endgeräten zu.
Judas
Wie schon ausgeführt: Judas ist der, der dem ganzen skeptisch gegenübersteht. Und an seiner Person und an seinen Liedzeilen sieht man perfekt, wie stringent die Inszenierung, so modern sie auch ist, 100% passt auf den Text aus den 70er Jahren.
Listen Jesus I don’t like what I see
und im selben Moment sieht man die leeren Flaschen und wie Jesus vollkommen zugedröhnt in der Garderobenecke liegt.
And all the good you’ve done
Will soon get swept away
Gerade heute ist das so: eine falsche Positionierung, ein fragwürdiger Post und schon hat man einen Shitstorm am Hals. Dazu gehört auch Judas Sorge um die umstrittene Person der Maria Magdalena. Auch da formuliert er seine Bedenken:
but she doesn’t fit in well
with what you teach and say
Auch das könnte ein geradliniges Profil zerstören und Menschen gegen Jesus aufbringen und je mehr zunächst wohlgesonnene Follower, desto mehr Gegner danach:
I am frightened by the crowd
Das ist ja auch als Motiv in der Partitur vertont: Zunächst singt die Masse
Hosanna Superstar
und lässt Jesus hochleben. Ist er dann aber erst mal verhaftet und gehört zu den Bösen, dreht sich das Blatt und dieselbe Menschenmassen singen auf dieselbe Melodie
we need him crucified.
The Temple
Die allerbeste Szene, die genialste, die für mich passendste und in ihrer Bedeutung umfassendste ist die Szene im Tempel:
Normalerweise sieht man dort Huren und Spieler, Geldwäscher und Betrüger, die den Tempel entweihen, wo gekauft und verkauft wird.
In dieser Inszenierung läuft das ganz anders ab: Wir sehen Menschen in einheitlichen Mänteln, also die gesichtslose Masse, die Jesus-Plakate hochheben. Die Jesus zum Star propagieren, die ihn pushen und anbiedern. Ein Jesus-Ausverkauf im eigenen Haus. Eine wahnsinnig intensive Szene. Hier sieht Jesus bildlich, was mit ihm passiert, dass Judas vielleicht recht haben könnte und ist für mich deshalb die Schlüsselszene überhaupt.
Leid im Zeitalter von Social Media
Direkt nach dem Tempel schließt sich die Szene an, in der Leidende Heil in Jesus suchen. Doch hier tauchen nicht nur die Kranken, Krüppel und Armen auf. Auch auf die Leinwand erscheinen Projektionen: Instagram-Posts und Tiktok-Aufrufe wie Rettet den Regenwald und ähnliches in immer schneller werdenden Geschwindigkeit. Alles wird an Jesus herangetragen und sehr intensiv gelingt der Schrei: Heal yourselves.
Meint hier: Kümmert euch doch selber um euren Kram. Etwas, was eine ganze Masse an Menschen verantwortet, kann nicht einem aufgehalst werden. Doch in der schnelllebige Zeit möchten alle die eigene Verantwortung gern schnell von sich weisen und auslagern.
Der Aufrührer-DJ
Simon der Zelot ist ebenfalls so ein grandioser Move. Er wird dargestellt als DJ im Club, und das mit ganz eigenem Sound. Da wird mit der Rhythmik gespielt und HipHop untergejubelt. Simon der Zelot hat die Rolle des Aufwieglers. Er möchte die Masse geschlossen hinter sich bringen, er möchte sie einschwören und alle auf die gleiche Linie bringen: pro Jesus. Etwas anderes macht ein Club-DJ auch nicht: Ihm obliegt es, die Masse zum tanzen zu bringen. Auf seine Interventionen hin wird getanzt und sich hineingesteigert. Er kann die Masse lenken und aufpeitschen. Welch großartige Allegorie!
Das Ende eines Superstars
Und am Ende tritt zum Lied Superstar Judas an Jesus Stelle als Bandleader. Dazu trägt er die Jacke, die Jesus am Anfang trug und dessen Sonnenbrille. Er hat jetzt seinen Platz eingenommen. Ist Jesus also austauschbar?
Danach wird Jesus gekreuzigt. Oder: kreuzigt sich selbst. Keiner ist dabei, die Bühne ist leer. Nur Jesus, der auf einem Equipment-Koffer kniet. Wenn die berühmten letzten Worte fallen, fällt auch Jesus. Sein Account wird gelöscht.
Bühnenbild (Momme Hinrichs)
Die Bühne hat einen einzigen großen Aufbau: Eine Drehbühne, die von drei Seiten „eingehaust“ ist. An der offenen Seite geht es treppenartig nach innen. Ganz hinten oben befindet sich ein Sofa. Es ist die vorhin schon erwähnte Künstlergarderobe. Die Treppe wird aber auch sonst ab und an genutzt. Die gegenüberliegende Seite, also die Rückseite der Garderobe, ist eine Betonwand mit Balkon. Die linke und die rechte Seite sind schwarze, halbtransparente Leinwandflächen. Dort finden die Projektionen statt. Viel mehr braucht es auch nicht. Im Zeitalter von SocialMedia findet eh das meiste digital statt. Absolut gelungen in meinen Augen.
Besonders natürlich auch die Projektionen. Die sind perfekt ausgewählt und super getimt. Sie haben in der Hauptsache den Inszenierungsgedanken so präsent gemacht. Darüber hinaus waren sie auch technisch so einwandfrei, dass auch in den hinteren Reihen die Projektionen sehr gut erkennbar und lesbar waren.
Choreographie (Sabine Arthold)
Großartig! Die Choreographie orientiert sich an der Konzeptionsidee und kommt sehr hip daher. Das steht dem Musical, das steht der Cast. Das ist ungeheuer rhythmisch und energetisch. Die hin und wieder veränderten Rhythmen werden aufgenommen und zusammen mit verschiedenen Tanzstilen zu einem dynamischen Ganzen geformt. Und natürlich ganz auf Show getrimmt. Die Ensemble-Tänze vermitteln dem Publikum die Stimmung und machen einfach Spaß. Aber auch die Solo-Tanzeinlagen sind so lässig und auch echt akrobatisch, temporeich und energetisch. Mich hat das gefreut, dass man mal sieht, was die Darsteller alles so drauf haben.
Das als Battle ausgetragene Tanzduell verdient natürlich eine Erwähnung ebenso, wie Annas‘ Auftritt im Club.
Judas wird zuverlässig in diese Szenerie eingebettet. Zwar singt er am Anfang ein Solo, legt dabei seine ganz eigene Ideen dar und steht damit alleine. Aber auch er kommt nicht umhin, zu diesem Song seine Moves zu präsentieren. Denn irgendwie hängt er da schon in der Show mit drin.
Kostüme (Anja Lichtenegger)
Glitzerfummel, soweit das Auge reicht. Lederjacken, Netzhemden, Hotpants und die grüne Leopardenjacke von Adam Lambert: Eine optische Herausforderung erwartet einen da. Aber ebenfalls alles innerhalb der Konzeptidee stimmig zusammengefügt, alles verlässlich in die Inszenierung passend. Die Soulgirls immer auch optisch sofort identifizierbar, weil gleich gekleidet.
Herodes hat einen herausragenden Look, der eindeutig auf die heutige Zeit hinweist: Bei der Verleihung der Academy Awards (Oscars) 2019 schritt Billy Porter in einem edlen Smoking-Abendkleid über den roten Teppich.
Embed from Getty ImagesGenauso gekleidet war Reginald Holden Jennings als Herodes.
Die Hohepriester in schwarz und gold und in dieses Farbspiel reiht sich auch Pilatus ein. Der zwar ein wenig seriöser, aber augenscheinlich zu den Priestern passend. Bei schwarz und gold fiel mir dann auch gleich Lady Bess ein, dass ich wenige Tage vorher gesehen und rezensiert hatte. Denn da hatte ich schon geschrieben, dass schwarz und gold zusammen die Macht und die Pracht eines Hofes widerspiegeln. Diese Interpretation ist auch hier nicht von der Hand zu weisen. Allerdings ist das hier natürlich deutlich mehr crazy: die goldenen Glitzerschuhe von Pilatus etwas oder die Hüte der Priester oder Annas durchsichtiges Shirt.
Musik (Musikalische Leitung: Robert Paul)
Gespielt wurde die reinen Band-Partitur. Schon gleich in den ersten Minuten war ich überrascht, wie schnell die Band diese Partitur nimmt. Zumindest kam es mir so vor. Bei den Gesangspassagen war es nicht so auffällig, aber bei den Band-Soli. Ich hab mich ein wenig durch das Stück getrieben gefühlt. Die Inszenierung mit ihren Kostümen und Tänzen und mit dem oberflächlichen Beziehungsgeflecht wurde durch dieses Tempo erst komplett gemacht. Vieles, über was ich gerne im später nachdenke, habe ich tatsächlich gar nicht so mitbekommen. Ich hatte gar keine Chance, bei einem Charakter zu bleiben. Eine Beziehung zu durchschauen. Perfekt für dieses Stück an diesem Ort. Auch sonst macht die Band ihre Sache außerordentlich gut.
Hin und wieder wird Text verändert. So ruft Jesus im Garten Gethsemane zunächst Peter, John, James. Beim zweiten Mal erklingt dann: Peter, John, Mary.
Ein weiteres Beispiel für vorsichtige Textänderungen: Kaiphas benutzt statt des Wortes handouts in der Zeile
You say you’re the Son of God in all your handouts,
das Wort profiles.
Das ist sehr mutig, aber absolut perfekt und der Textkundige wird damit auch nicht überstrapaziert.
Musikalisch gibt es einiges Neues zu hören: Zum einen gestaltet die Band spannende Übergänge zwischen den Liedern und schafft so ein neues Hörerlebnis.
Das Intro eines Liedes wird durch das ferne Hupen von Autos intoniert.
Dann gibt es beim letzten Abendmahl eine wunderbare Überraschung, wenn Last Supper a capella erklingt. So wunderschön, so neu, so intensiv. Und diese Stimmen! Ein Genuss!
Die Figuren des Stückes und deren Darsteller
Jesus, dargestellt von Riccardo Greco
Perfekt.
Die Ähnlichkeit von Riccardo Greco zu Adam Lambert ist verblüffend.
Optisch also ein ideales Double. Perfekt in der Influencer-Rolle, die er zwar ausfüllt, die ihn aber auch tierisch nervt.
Mein Sohn würde es so formulieren: Dieser Jesus ist ziemlich lost. Und das trifft es meiner Meinung. Verloren. Verloren zwischen den Followern, verloren in sich selbst, verloren an Alkohol und Drogen. Verloren zwischen den Welten. Eigentlich zwischen Gott und den Menschen. Hier wird Gott ersetzt durch eine andere Macht, auf die man als einzelner Mensch keinen Einfluss hat: die Macht der unsichtbaren Masse. Das ist ein sehr spannender Gedanke und auch etwas, was diese Inszenierung so anders macht. Jesus ist also verloren zwischen der Followermasse und der realen Welt.
Dieser Jesus ist so neben sich, dass das fine ointment, mit dem ihn Maria Magdalena beruhigen möchte, hier eine Flasche Tequila ist. Jesus interessiert sich hier auch gar nicht so sehr dafür, was Judas sagt. Er will seine Ruhe haben. So gerät sein leave her alone vom Sinn her zu einem leave ME alone. Sehr desillusioniert kommt er rüber, auch da bekommt eine Liedzeile plötzlich eine tiefere Bedeutung:
There is not a man among you who know or cares if I come or go.
Diesen Jesus gibt Greco perfekt. Überhaupt seine Art zu laufen, wie er am Anfang zugedröhnt umherirrt. Kippe in der einen Hand, Handy in der anderen. Und trotzdem irgendwie auch saucool und lässig, gerade zu Beginn.
Seine Verhaftung geschieht so gut wie ohne Körperkontakt. Da gibt es keine Fesseln. Denn das Gefängnis, in dem sich dieser Jesus befindet, ist ein von der menschlichen Idee errichtetes. Ausbrechen aus dem Influencer-Profil ist nahezu unmöglich.
Das ist schon so oft passiert und wird doch zu wenig wahrgenommen. Egal, ob Boyband-Mitglieder, die eine Rolle bedienen, drogenabhängig werden oder sich vor langer Zeit Schlagersänger Rex Gildo das Leben genommen hat, weil er für die Follower anders leben musste als er wollte. Die Gefängnisse sind in der Showbranche können offenbar vielfältig sein.
Greco spielt den Jesus nach der Verhaftung sehr nachdenklich. Es hat jetzt eine Ahnung davon, was passiert ist, welche Mechanismen am Werk waren. Er ist aufgewacht und überlegt, wie es dazu kommen konnte, ob man irgendwo hätte anders abbiegen können.
Vollkommen sicher bewegt er sich als desillusionierter Influencer-Jesus. Auch gesanglich agiert er herausragend. Gethsemane gehört zu den anspruchsvollsten Soli überhaupt. Und da hat jeder Ton gesessen. Und nicht nur das: Es war eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst. Das ganze Stück über blieb seine gesangliche Leistung ein Highlight!
Alles in allem eine perfekte Vorstellung!
Judas, dargestellt von Antonio Calanna
Judas ist Mitglied von Jesus and the followers. Aber er steht abseits. Er sieht das alles mit Sorge. Er ist der einzige, der glaubt, dass hier zu viel miteinander vermischt wird und er sieht es auch mit eigenen Augen am zugedröhnten Jesus, dass die ganze Sache mit der Band und der Show jetzt aus dem Ruder läuft.
Er wird nicht gehört. Er versucht es auf die der Band einleuchtendsten Weise: An der Rockgitarre auf der Box stehend. Aber Ernst nehmen tut ihn keiner.
Antonio Calanna macht das überaus geschickt. Er ist durchaus massiv, in dem was er tut.
Vermittelt aber auch selbst gleichzeitig, wie wenig er ausrichten kann. Stimmlich steigert er sich wie sein Bühnenpartner von geiler Rockröhre bis „Mund-bleibt-offen-stehen“. Sein Superstar ist lässig, selbstgefällig und der Inbegriff von Show, gespielt wie gesungen.
Maria Magdalena, dargestellt von Dorina Garuci
Dorina Garuci hat so eine enorme Stimmgewalt. Wahnsinn. Die singt so voll und so kehlig, das geht unter die Haut. Da ist soviel Kraft, ich kann das gar nicht beschreiben. Denn trotz dieser Kraft klingt das so warm.
Maria Magdalena ist innerhalb der Mädelstruppe der Lead. Aber charakterlich bleibt sie – wie alle anderen Figuren – an der Oberfläche. Das ist ja so gewollt. Sogar ihre Selbstreflexion geht deshalb nicht so tief: Wenn sie singt: I don’t know how to love him ist sie nur am Anfang allein. Im Verlauf des Liedes kommen immer mehr Menschen dazu, die einen neugierig, die anderen gelangweilt. Selbst intime Momente muss man in diesen Zeiten teilen mit anderen. Wie soll da Tiefe entstehen?
Dorina Garuci ist ideal besetzt als Maria Magdalena: Sie weiß, sich in Szene zu setzen. Sie liefert eine perfekte Show: Sie bewegt sich perfekt. Singt wie eine Göttin. Die Haare, das Kostüm, das Make-up und diese wunderbare Frau: Herausragend!
Kaiphas, dargestellt von Daniel Dodd-Ellis und Annas, dargestellt von Romeo Salazar
Ob ich den Kaiaphas für richtig besetzt halte, entscheidet sich immer an seinem ersten Ton. Und siehe da: Volltreffer von Daniel Dodd-Ellis. Toller Bass, unheilvoll und dramatisch. Ein Genuss für die Ohren.
Annas hat ja eigentlich die Hauptrolle unter den Hohepriestern. Er ist der eigentliche, der vorbereitende Antreiber, Kaiaphas nur der Entscheider. Das ist hier auch bestens ersichtlich. Und Romeo Salazar agiert brillant. Sein Annas hat verinnerlicht, wie dieses Spiel funktioniert und steuert dementsprechend. Das macht er physisch sehr gut, vor allem sein Mienenspiel gefällt mir ungemein. Stimmlich ist er eine Wucht.
Natürlich sind auch die Hohepriester Social-Media-mäßig auf dem heutigen Stand. Und so nimmt Annas per Voice Recording Judas Erklärung, wo Jesus sich aufhält, mit dem Handy auf.
Pontius Pilatus, dargestellt von Armin Kahl
Der Pontius Pilatus ist der einzige Charakter, der während seiner ganzen Bühnenzeit kein Handy in der Hand hat. Zumindest habe ich das so wahrgenommen. Pontius Pilatus ist also nicht Teil dieser Influencer-Follower-Blase und kann deshalb auch gar nicht verstehen, was das alles soll. Natürlich will er ihn nicht verurteilen. Er versucht, den Followern die Augen zu öffnen:
He’s a sad little man.
Not a King or God.
Not a thief,
I need a crime!
Aber auch er muss sich der hysterischen Masse beugen. Den thousands of millions, die er im Traum schon erlebt hat und die dann tatsächlich auch auftauchen in der Videoübertragung: 395 Mio. werden es hier sein, wird auf der Leinwand angezeigt.
Armin Kahl gibt den Pilatus als fast den normalsten Charakter auf der Bühne. In dem bunten Haufen der Followers wirkt er geradezu seriös und die grauen Haare machen ihn zu jemand, der schon alterstechnisch außerhalb dieser jungen Masse steht. Zumindest hat das für mich so gewirkt. Seine Stimmfarbe mag ich wahnsinnig gern. Es klingt jedesmal, und so auch hier, besonders. Angenehm fällt mir als Wort für diese Rolle ein, in all dem Vorwärtstreiben eher ein ruhender Pol.
Nur am Ende der Folter wird er ausfällig, da schlägt er selbst zu, so sehr möchte er, dass Jesus irgendwas zu seiner Verteidigung sagt und Pilatus ihn nicht verurteilen muss. Eine stimmlich und darstellerisch makellose Darstellung!
Ensemble
Ich kann nur schwer zum Ausdruck bringen, wie begeistert ich von der Ensembleleistung bin. Denn niemals vorher war Jesus Christ Superstar abhängiger vom Zusammenspiel aller. Und es freut mich so, dass da all die brillanten Darsteller, die gecastet wurden, ihr Können so richtig zeigen konnten. Die Tanzszenen waren umwerfend. Wann schon sieht man im Musical Darsteller so viel und so modern tanzen. Also richtig tanzen. Und wann hört man diese wundervollen Stimmen dann auch mal A-Capella?
Also, liebes Ensemble, die ihr namentlich in Rezensionen so gut wie nie besprochen werdet: Ich nenne euch hier explizit, um euch mein allerhöchstes Kompliment zu machen.
- Reginald Holden Jennings,
- Rico Salathe,
- Giulia Fabris,
- Julia Anna Friess
- Veronika Hammer
- Javier Ojeda Hernandez
- Marina Petkov
- Michael B. Sattler
- Grace Simmons
- Nicolo Soller
- Martina Vinazza
- Sarah Zippusch
Ihr wart umwerfend, ihr wart mitreißend, ihr wart brillant! Danke dafür!
Fazit
Mich hat das tief berührt, wie konsequent diese Jesus-Christ-Superstar-Inszenierung hier den Bogen in unser digitales Zeitalter schlägt und wie sinnig sich das alles mit Texten zusammenfügt, die vor 50 Jahren geschrieben wurden. Musikalisch hat man sich erlaubt, Anpassungen vorzunehmen und das ganze Konzept geht bewundernswert auf.
Komplettiert von einer ausgezeichneten Cast und einer überzeugenden Band ergibt sich ein Meisterwerk, das gerade Jesus Christ Superstar-Liebhaber, aber auch alle anderen unbedingt sehen sollten.
Titelbild: Andreas J. Etter
Alle nicht anderweitig gekennzeichneten Fotos: Dr. Joachim Schlosser Fotografie
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