Lady Bess ist die Geschichte von Elisabeth I., der Tochter Heinrich VIII. und Anne Boleyn. Es wird der Ausschnitt ihres Lebens betrachtet, in dem sie im Kampf um den englischen Thron ihrer Halbschwester Mary Tudor ausgeliefert scheint, kurz vor der Hinrichtung steht, dann aber nach Marys Tod als Elisabeth I. Königin wird.

Das Musical wurde 2014 in Japan uraufgeführt. Dort fanden sich die Geldgeber, die es dem Autorenduo Sylvester Levay und Michael Kunze möglich machten, das Werk auf die Bühne zu bringen. Nach einer erneuten Wiederaufnahme in Japan 2017 ist Lady Bess jetzt als europäische Uraufführung in St. Gallen gelandet. Und – ganz ehrlich – etwas Besseres hätte dem Musical auch nicht passieren können. Denn St. Gallen steht für Qualität bis ins letzte Detail. Jedes einzelne Gewerk läuft hier zur Hochform auf: egal ob Cast, Kostüm, Choreografie, Bühne und überhaupt Regie: St. Gallen präsentiert höchste Kunst auf allen Ebenen und lässt dadurch hin und wieder vergessen, dass Lady Bess sowohl musikalisch als auch inhaltlich nicht immer überzeugen kann.
Lady Bess – Das Musical
Inhalt
Heinrich der VIII. heiratete zunächst die spanisch-stämmige Katharina von Aragon und bekam mit ihr zusammen eine Tochter, Mary. Jahre später versuchte er sich seiner Ehefrau per Eheannullierung zu entledigen, um Anne Boleyn zu heiraten. Nach eben dieser Annullierung verlor Tochter Mary ihren Anspruch auf die Thronfolge an das Kind von Heinrich und Anne, Elisabeth, hier die Titelfigur Lady Bess. Da auch diese Ehe Heinrichs nicht hielt und er Anne enthaupten ließ, blieben nun zwei ehemalige Prinzessinnen übrig, deren Legitimation und Herrschaftsanspruch lange ungeklärt war.
Allerdings konnte Mary nach dem Tod ihres Vaters ihren Thronanspruch durchsetzen und wurde Königin Mary I. Und hier setzt die Handlung des Musicals ein:
Mary ist eine kompromisslose und herzlose Herrscherin, deren wichtigstes Anliegen es ist, den Katholizismus in England wieder zu etablieren. Anhänger oder Sympathisanten des Protestantismus werden verhaftet und getötet. Sie hasst ihre Halbschwester Elisabeth.
Lady Bess wächst eher unbedarft auf, abseits des Hofes und wird als gebildetes, künstlerisch begabtes und freies Mädchen dargestellt.
Bess vergöttert ihren Vater und glaubt, ihre Mutter sei als schuldige Ehebrecherin enthauptet worden. Doch Bess’ Mutter Anne Boleyn erscheint ihr mehrmals als Geist, beschwört sie, dass sie immer über sie wachen würde und ihre Zeit noch kommen werde. Dazu müsse sie ihre guten Eigenschaften – ihre Aufrichtigkeit, ihre Geduld und ihr Kämpferherz – hochhalten. Im echten Leben kümmert sich ihre Gouvernante Katharine Ashley um Bess und steht ihr immer schützend zur Seite wie eine Mutter.

Eines Tages wird Lady Bess dabei erwischt, wie sie eine verbotene Übersetzung des Neuen Testaments liest, was einem Verbrechen gleichkommt. Nur mit Mühe entkommt sie einer Verhaftung und schreibt empört ihrer Schwester, Königin Mary I., einen Brief, in dem sie sich über die Behandlung beklagt.
Als ihr kurz darauf dämmert, dass das nicht die beste Idee gewesen sein könnte, macht sie sich per Kutsche auf den Weg, den Brief doch noch abzufangen. Dabei trifft sie bei einer Panne im Wald auf vier Musiker. Einer der Vier, Robin Blake, begegnet ihr keck und frei und erregt so ihre Aufmerksamkeit. Überhaupt ist der Künstler wenig voreingenommen und ohne Standesdünkel und gibt schnell seiner aufflammenden Liebe zu Lady Bess nach.

Mary I. empfängt Lady Bess, macht ihr aber sofort klar, dass sie nichts von ihr hält und bezichtigt Bess der Blasphemie. Sie warnt Bess: „Tanz nicht mit dem Teufel!“
In den Pubs und auf den Straßen Londons ist Mary den Menschen verhasst. Sie haben zum einen Angst, weil Mary ein schlechter Mensch zu sein scheint, weil sie zu rigoros in Religionsfrage ist. Darüber hinaus ist sie als Halbspanierin den Menschen nicht integer genug für den englischen Thron. Die Menschen proklamieren Bess zur legitimen Thronanwärterin.

Derweil überredet Robin Elisabeth, als Mann verkleidet mit ihr in einen Pub zu kommen, um zu sehen, was das gemeine Volk spricht und denkt. Dort verbreitet gerade ein Aufrührer – Thomas Wyatt – seine Theorien und versucht, Unterstützung für ein Komplott gegen Mary zu finden. In eben diesen Pub kommen Abgesandte der Königin, weil sie eben diesen Aufrührer suchen. Dabei wird Bess enttarnt. Nur mit Mühe kann Robin mit Bess fliehen.
Allerdings wird Bess beschuldigt, in eben jene Verschwörung gegen Mary verwickelt zu sein und wird schlussendlich doch verhaftet.
Mary sucht derweil einen geeigneten Heiratskandidaten und findet ihn im Thronfolger von Spanien, Philipp. Mary möchte durch diese geschickte Verbindung zwei Großreiche vereinen, und so den Einfluss Englands mehren und eine Großmacht installieren. Die Engländer selbst jedoch fürchten dabei, dass der Einfluss Spaniens zu groß würde und England seine Unabhängigkeit verlieren würde. Der Widerstand gegen Mary wächst weiter.
Philipp, der auf der Reise nach London zu seiner Hochzeit Robin und die Musiker trifft, entpuppt sich als eloquenter, frei denkender Humanist. Er erkundigt sich, wie die Engländer zu dieser Hochzeit stehen und ihm wird gewahr, dass Mary in der Gunst der Engländer deutlich unter Bess steht.
Im Tower of London verbringt Bess ihre Haft. Da ein Prozess gegen sie mitten in die Zeit der Hochzeit von Mary und Philipp fallen würde und Mary ihre Hochzeit aber ohne derartige Störung feiern will, wird beschlossen, Elisabeth aus London wegzubringen. Aus den Augen, aus dem Sinn, hofft Mary darauf, dass sich das Volk so ruhig verhalten werden. Bess wird aufs Land gebracht und dort unter Hausarrest gestellt.
Robin beobachtet, wie Bess aus dem Tower gebracht wird und findet sie tatsächlich auf dem Land. Kompromisslos in seiner Liebe zu Bess verschafft er sich Zutritt zu ihrem Zimmer und beide verbringen eine Liebesnacht miteinander. Mitten in der Nacht allerdings soll Beth verhört werden und so entdecken Marys Handlanger Robin in Bess’ Schlafzimmer.
Der Erzbischof versucht, mit einer Intrige, die er auf die verbotene Bibelübersetzung gründet, die man bei Bess gefunden hat, Bess aus dem Weg zu räumen. Er verfasst in ihrem Namen ein Geständnis und will Bess zwingen, es zu unterschreiben. Danach solle sie aus einem Glas trinken, in dem Gift ist und es soll den Anschein haben, sie wäre freiwillig aus dem Leben geschieden.
Als Bess kurz davor ist, das Dokument zu unterschreiben – Robin und seine Musikerkollegen sind in der Hand des Erzbischofs und Bess fühlt sich gezwungen, sie zu retten – trifft unverhofft Philipp ein und setzt sich für Bess ein. Außerdem zwingt er den Erzbischof, aus Bess’ Glas zu trinken. Der Erzbischof stirbt darauf. Außerdem setzt sich Philipp für Bess’ Freilassung ein, da ihr die Beteiligung am Komplott gegen die Königin nicht nachgewiesen werden kann.
Kurze Zeit später ist Mary schwer erkrankt. Zwar hat sie gehofft, von Philipp schwanger zu sein, allerdings entpuppte sich das als Scheinschwangerschaft. Schwächer werdend, sucht sie den Kontakt zu Bess. In dem Wissen, dass diese nach ihrem Tod Königin werden wird, bittet sie Bess, doch am Katholizismus festzuhalten.
Nach Marys Tod trennt sich Bess von Robin mit der Idee, für ihr Volk da zu sein. Schließlich wird sie zur Königin von England gekrönt. Während des letzten Liedes erscheint als Projektion in mehreren Sätzen, welche Bedeutung Bess’ Herrschaft für England hatte.

Musik
Lady Bess ist in meinen Augen rein musikalisch ein recht typisches Levay-Musical. In weiten Teilen sind schöne Musical-Popsongs zu hören. Bisweilen ein wenig elegisch, bisweilen ein wenig süßlich. Bisweilen hymnenartig, selten aber bombastisch. Gerade im zweiten Akt wird sehr viel mit Reprisen gearbeitet.
Aber über weite Strecken bleiben die Kompositionen insgesamt sehr einheitlich, einem Thema und einer Idee verhaftet und deshalb manchmal allzu beliebig. Das ist gut auszumachen an den Motiven der beiden Gegenspielerinnen: die süßen Themen und Motive gehören Lady Bess, die moll-lastigen düsteren Momente gehören der Mary Tudor. Das ist natürlich schön gedacht und im Aufbau auch sehr klar, macht aber alles auch sehr eintönig und vorhersehbar. Es nimmt den Charakteren die Tiefe.
Dabei sind wirklich schöne Nummern dabei. Das hymnenartige Schlusslied So wie dieser Tag bleibt im Ohr und würde eventuell sogar für Fußballstadien taugen. Allerdings ist es dafür ein wenig zu pathetisch. Sowohl von der Melodie als auch von der inhaltlichen Idee hab ich mich sehr erinnert gefühlt an das Ende von Ralph Siegels „Zeppelin“ Wo führt der Weg uns hin. Aber Siegel war mit Zeppelin deutlich später dran und und wenn es keinen Kurs „Die Abschlusshymne im Musical“ gibt, den beide besucht haben, dann hat den Siegel in Asien bei Lady Bess wohl gespickt. Wie auch immer, es geht ins Ohr, und es erhebt am Ende das Musical in jene pathetisch-dramatische Ebene, die das Musical zuvor die ganze Zeit gesucht und nicht gefunden hat.
Es könnte Liebe sein ist ein handwerklich sauber gemachtes Liebeslied, zündet für meine Begriffe aber erst nach der zweiten Reprise so richtig. Dann, wenn sich auf der Bühne auch die passende Emotion entwickelt hat.
Die Lieder von Mary Tudor bleiben dagegen hinter den Erwartungen zurück. Sie haben für mich etwas eindimensionales, obwohl da sehr viel Energie dahinter steckt. Dass sie zum Tragen kommen in ihrer ganzen Härte, verdankt das Autoren-Duo eindeutig der Darstellerin Wietske van Tongeren.

Die modernen popmusikartigen Melodien lassen sich durch einfache Methoden für den Zuhörer leicht ins Mittelalter einordnen. Da hört man keltische Flötentöne und auch ein Cembalo-/Spinettklänge. Das ist gut so. Es bleibt bei mittelalterlichen und englischen/ keltischen Anklängen, ohne das Mittelalter explizit über die Musik auch dahin zu verorten. Denn Levay sagt selbst, „Lady Bess ist ein heutiges Musical und will das nicht verleugnen. Gleichwohl war es mir wichtig, mit meinen Kompositionen eine Atmosphäre zu schaffen, die das Publikum in die Welt der Handlung trägt.“ (Programmheft)
Sehr gut, dieser Punkt geht an den Komponisten!

Das, was mich am meisten bremst in diesem Musical, sind ohnehin nicht die Melodien. Die sind schön, aber nicht zu schön, obwohl dem Musical eindeutig ein Kracher fehlt. Es sind vielmehr die Texte, die immer ein wenig zu bedeutungsschwanger einhergehen. Es hätte textlich einen Gang weniger gebraucht, denn meist spiegelt die Geschichte diese Dramatik der Texte gar nicht wieder. Diese Texte sind für sich voller Pathos, voller wunderschöner Worte und Ideen, aber sie fügen sich nicht in die Melodien und auch nicht in die Handlung. Es fehlt an innerer Dramatik bei den Handelnden, in der diese Texte ihre Entsprechung finden würden.
Interpretation und Kritik am Musical
Ich habe einen schönen Abend mit guten Melodien verbracht. Aber es hat mich einfach nicht gepackt. Das Musical Lady Bess will zu viel und bringt tatsächlich wenig.
Ich komme prinzipiell mit dem Entwurf des Musicals nicht klar. Es weiß nicht so recht, wohin. Levay selbst sagt, es drehe sich um historische Ereignisse, sei aber ein heutiges Musical. Kunze geht es nicht nur um das Faktische, sondern auch um die Geschehnisse auf der zweiten oder dritten Ebene. Also alles, was nicht unmittelbar als Fakt wirkt, sondern die Hintergründe, die Gefühle und Konflikte, die zu diesen Ereignissen geführt haben.
Aufklärung vs. Absolutismus
Es treffen über die historischen Personen zwei Denkweisen zusammen: die mittelalterlichen Gedanken, dass Menschen nach gottgegebenen Schicksal handeln und deshalb alles vorherbestimmt ist. Dass es Könige von Gottes Gnaden gibt und jedem Menschen seine ihm von Geburt vorgeschriebene Rolle. Dagegen stehen die Ideen der Aufklärung, eines neueren Humanismus, der die Menschen und deren Denken und Handeln in den Vordergrund rückt.
Die Vertreter des Aufklärung sind zum einen der Künstler Robin Blake. Er wird von Anfang an als Freigeist dargestellt, als Künstler und Lebemann. Er ist es, der die Grenzen verschwimmen lässt: Er begehrt eine Prinzessin, stellt ihr ohne Erlaubnis nach, bringt diese Prinzessin dazu, in einem Experiment Geschlecht und Rolle kurzzeitig abzulegen und schafft so bei Bess die Grundlage für ein offenes Denken. Der andere ist Philipp. Er ist der Herrscher, der weiß, dass es Herz und Verstand braucht, um zu regieren. Dass man eben nicht wir Mary einem Prinzip folgen darf, sondern immer den Menschen sehen muss.
Auf der anderen Seite steht eindeutig Mary Tudor, gestützt von ihrem Erzbischof, die tief in ihrem Glauben verhaftet ist und nicht den Mensch als Individuum sehen kann und will. In ihrem Glauben bekommen Menschen von einer höheren Macht ihren Platz zugewiesen und müssen dort auch verharren. Sie möchte Bess zum Beispiel von der Thronfolge fern halten, indem sie ihr erzählt, Bess ein gar nicht die Tochter von Heinrich VIII., sondern von einem Musiker (sehr spannende parallele dann zu Robin Blake, der ja ebenfalls Musiker ist). Ihre Idee ist die einer zementierten Weltordnung. Und was nicht passt, wird passend gemacht.

Aber irgendwie verschwimmt das alles miteinander, weil die Titelfigur sich da irgendwie nicht einreiht. Bess steht für nichts. Bess tut auch nichts. Seltsam passiv ist und bleibt sie.
Mann hört öfter eine Liedzeile, in der Bess singt, dass sie ein Löwenherz hätte, aber tatsächlich wird dieses Löwenherz nie sichtbar. Fakt ist ja, dass Elisabeth nichts unternimmt, nichts unternehmen kann und trotzdem im Musical zu einem Zeitpunkt der Geschichte zu einer Heldin stilisiert werden soll, zu der sie noch keine ist.
Natürlich ist ihre spätere Leistung als Königin unbestritten groß, nicht umsonst wird eine ganze Epoche als elisabethanisches Zeitalter proklamiert.

Aber in dem Ausschnitt der Geschichte, den das Musical betrachtet, ist von der Größe Elisabeths einfach viel zu wenig zu sehen. Sie ist eine Prinzessin, die auf ihr Schicksal so gut wie keinen Einfluss nehmen konnte. Vieles ist einfach nur Glück gewesen und nicht ihr Löwenherz, wie uns das die Macher hier verkaufen wollen. Das, was ihr Löwenherz ausmacht, und was die Lösung des Konfliktes mit ihrer Mutter ermöglicht, tritt erst später in ihrem Leben zu Tage und ist nicht mehr Teil des Musicals.
Die Titelfigur kann den Anspruch an sie überhaupt nicht ausfüllen. Denn Bess ist ein Spielball der Politik. Dagegen kann sie nichts machen, dem steht sie machtlos gegenüber.
Der innere Konflikt mit ihrer verstorbenen Mutter
Lady Bess wuchs in dem Glauben auf, dass ihre Mutter als Ehebrecherin schuldig hingerichtet wurde. Und doch taucht immer wieder ihre Mutter Anne Boleyn als Geist auf. Aus dem Jenseits steht sie ihrer Tochter bei und appelliert an sie: Du bist nicht allein. Sinngemäß geht es darum, dass sie den Mut nicht verlieren soll, dass sie beide – Mutter und Tochter – siegen würden. Und Bess nicht aufgeben soll.
Von einem inneren Konflikt mit eben der Mutter ist sehr lange bei Bess nichts oder besser: Viel zu wenig zu spüren. Mit dem Erweckungserlebnis im Gefängnis wird dieser Konflikt, den der Zuschauer als solchen gar nicht so wahr nimmt, plötzlich überrumpelt. Ja, es ist eine tolle Szene und da, wo Bess am eigenen Leib erfährt, wie es ist, unschuldig verhaftet zu werden und für etwas zu büßen, worauf man keinen Einfluss hat, da kann sie sich empathisch ihrer Mutter nähern. Aber die Vorgeschichte bleibt zu blass. Vielleicht auch, weil beide – Mutter und Tochter – nie wirklich in Kontakt treten und so keine Verbindung sichtbar wird. Da ist der Tod in Elisabeth pfiffiger angelegt, denn da wird Elisabeth gezwungen, ihre inneren Kämpfe auszutragen.
Dabei ist die Idee innerhalb von der Zielsetzung eine eine wunderschöne: Sie ermöglicht ihrer Tochter, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen und diese Versöhnungsidee als Reinheit des Herzens weiterzutragen in eine mögliche Herrschaft, um später als Gegenentwurf zu Mary Tudor zu wirken.
Aber allein im Musical ist davon noch nicht zu sehen und zu spüren. Da fehlen die Zusammenhänge und Bezüge zur späteren Herrschaft und wie sich die Lösung des inneren Konflikts da niederschlägt.
Mary Tudor dagegen erklärt am Schluss, dass sie als illegitimer Spross nie jemand hatte und dass sie sich in den Glauben flüchten musste, weil sonst nichts verlässliches da war. Sie legt alles offen und im Rückblick ergibt diese Reaktion auf ihr Leid Sinn und bringt einem den Charakter nahe.
Auf ihre Bitte an Bess, doch am Katholizismus festzuhalten, antwortet Bess, dass sie sich allein an ihrem Gewissen orientieren wird. Das ist eine große Botschaft. Eine wichtige Botschaft. Aber sie steht leider sehr isoliert und fügt sich nicht in einen natürlichen Entwicklungsfluss ein und dass, obwohl schon das Eingangslied heißt: Sei so, wie du bist.
Insofern tu ich mich schwer mit der Geschichte, die so alles und doch nichts erzählt. Die der Hauptfigur keine Entwicklung zu gesteht. Das Licht, das in mir brennt, führt mich dorthin, singt Bess und nirgends sieht man da ein Licht in ihr Brennen und wohin sie geführt werden will, wird auch nicht klar.
Und für das, das einfach in der Persönlichkeitsentwicklung der Figuren so gar nichts vorwärts geht, sind mir die Texte einfach viel zu pathetisch. Die Menschheit ist erwacht, die Dunkelheit ist vorbei, das ist mir für diesen Teil der Geschichte, den das Musical beleuchtet, eine Nummer zu groß.
Alles in allem fesselt die Geschichte nicht. Dem Zuschauer bleibt es verwehrt, tief in die Figuren und in jene vom Komponisten beschworene zweite und dritte Ebene einzutauchen.
Nur dort, wo tatsächlich alles zusammenpasst, nämlich die Dramatik der Person innerhalb der Geschichte zu den Melodien und den Texten und den Ereignissen auf der Bühne, da entstehen großartige Momente:
Wenn beide Königstöchter am Ende sich entblößen und voreinander ihr innerstes sichtbar machen. Hier beginnt Mary über ihr Leid zu singen:
Die Kindheit schlug mir Wunden
ich hab nie überwunden
dass ich verstoßen war.
Später stimmt Bess mit ein und es wird klar: Hier sitzen zwei im selben Boot.
Hier, im Sehen und Verstehen des anderen, in der Empathie wie zuvor schon Bess mit ihrer Mutter, in der Anerkennung des Leids des anderen wird der Weg bereitet zu einer Begegnung auf zutiefst menschlicher Ebene.
Hier endlich entfaltet sich die Dramatik, die Levay und Kunze die ganze Zeit über schon installieren wollten, fast von alleine.
Lady Bess – Die Inszenierung in St. Gallen von Gil Mehmert
So, nun muss ich an dieser Stelle betonen, dass die Kritik dem Musical und demnach auch den Autoren Levay und Kunze gilt.
Jetzt erst widme ich der Inszenierung von Gil Mehmert an sich. Und die war absolut Spitze!
Alles, was richtig zu machen war, wurde hier richtig gemacht. Sämtliche Gewerke schöpften aus einem großartigen Pool an Ideen und zeigen sich perfekt aufeinander abgestimmt.
Kostüme
Wow, da bekommt das Wort Pracht mal eine ganz neue Bedeutung. So viel Liebe zum Detail, nicht nur bei der Kleidung, vor allem auch bei der sonstigen Ausstattung wie Frisuren und Schmuck. Das war üppig, das war geschmackvoll, das war authentisch und die Inszenierung stützend. Schaut euch diese Frisuren an!

Für die Kleider wurden teilweise Stoffe extra gewebt. Und sie sehen absolut historisch authentisch aus. Total einnehmend die Staffage für Mary Tudor, die den Charakter in ihrer Strenge und ihrem puritanischen Sein vollkommen wirken lässt.
Die Pracht der Hofdamen in ihren schwarzen golddurchwirkten Kleidern, die so einen augenscheinlichen Gegensatz zum normalen Volk darstellen, so dass klar wird, wie weit Mary und ihre Herrschaft von ihren Untertanen entkoppelt war. Ein opulenter Augenschmaus, wo man auch hinsieht.
Das wohl durchdachte Farbenspiel der Kostüme vervollkommnet die Kostümidee perfekt: Mary Tudor trägt lila. Mein Kunstlehrer pflegte zu sagen, lila ist die Farbe der unverstandenen Frau, also der übrig gebliebenen. Das ist hier gar nicht so weit hergeholt. Tatsächlich war aber violett früher dem Adel und hochgestellten Klerikern vorbehalten: Macht und Magie, aber auch Souveränität wird damit verbunden. Sie steht aber auch für Eitelkeit und Ehrgeiz.
Die Hofdamen sind gekleidet in Schwarz und gold. Schwarz gilt als autoritäre Farbe, birgt Eleganz, Geheimnisse und Macht. Das durchdringende Gold hebt das alles auf ein luxuriöse Niveau.

Gegen diese Strenge der Farben auf der einen Seite steht Lady Bess selbst in gelb und orange. Sie symbolisiert Freiheitsstreben und Neugier, Spontanität, Offenheit, Erwartung, Kreativität und Heiterkeit. Orange steht für Jugend, Energie und Lebensfreude. Als sie im Tower eingesperrt wird, trägt sie ein schlichtes weißes Gewand. Weiß gilt als die Farbe der Unschuld und des Neuanfangs, gerade in der Kirche (!).
Bess’ Mutter Anne Boleyn tritt immer in großer roter Robe auf: Es ist die Farbe des Lebens und der Liebe. Blut ist rot. Entsprechend erinnert die Farbe nicht nur an Liebe, sondern an Gefahr und Krieg, an Leid und Strafen. Die Farbe alarmiert und rückt den Geist Anne Boleyns, und damit Bess’ Vergangenheit, in die Mitte.
Bühne
Geschickt und effizient. Es stehen da Türme und Mauern, die fahrbar sind, die wahlweise ein Schloss oder einfach nur Mauern sind, die ein Schlafzimmer beherbergen, als Balkon fungieren oder gar das Gefängnis im Tower von London darstellen. Dabei sind diese Mauern schlicht gehalten, um zusätzlich als Projektionsfläche zu dienen. Dort sind dann übermannshohe Schatten zu sehen oder Projektionen wie ein Sternenhimmel.
An Ausstattung wird darüberhinaus nur wenig gebraucht, der Tisch wird zum Bett wird zum Konferenzzimmer, wird zum Billardtisch. Das ist zweckmäßig ausreichend, die überbordenden Kostüme hätte ein Mehr an Bühnenaufbauten gar nicht vertragen. Das ist eindeutig aufeinander abgestimmt und verdient größtes Lob.
Die Bäume sind keine realistischen Bäume. Sie sind stilisiert, eher künstlerisch und edel. Es geht nicht so sehr, den Wald der Realität darzustellen. Sondern wie die Autoren ja sagen, eher die Metaebene. Man kann sich auch im Dickicht des Lebens verirren, ohne dafür physisch einen Wald zu durchqueren. Ich mag dieses allegorische.
Licht und Projektion
Das Licht teilt die Bilder in gut und Böse. Sehr eindeutig erscheint zum Beispiel Mary Tudor immer in dunklerem Licht, düsterer Atmosphäre. Dagegen ist Elisabeth auch im nächtlichen Wald nie drückend. Die Projektionen wirken ein wenig zauberhaft, rücken das ganze Stück in eine andere Welt, in eine andere Zeit.

Choreographie
Die Bühne ist relativ klein für die Größe des Ensembles. Stehen alle auf der Bühne, ist die Choreografie schon sehr geschickt ausgetüftelt. Und doch wird trotz allem getanzt, die Laufwege werden geschickt geführt.

Die Choreografie schafft wunderbare Bilder. An den wenigen Stellen, an denen das Stück dramatisch wirkt, zeigt sich die Choreographie ebenfalls dramatisch: etwa, wenn im Lied Schuld schwarze Gestalten Lady Bess immer weiter umzingeln und so als Allegorie gelten: Die Schuld, keine objektiv belegbare Schuld, sondern die eigene, subjektiv empfundene Schuld, sie zu verschlingen droht.
Orchester
Wo Koen Schoots draufsteht, ist Qualität drin. Oftmals erlebt und auch diesmal wieder bestätigt. Schoots darf ein für Musical-Verhältnisse großes Orchester mitsamt Band führen und orchestriert zeitlos klassisch. Er unterstützt die historische Komponente und hält sich dabei aber mit Pathos doch zurück. In der musikalischen Ausgestaltung halte ich das für eben dieses Stück perfekt. Auch die Tonabmischung gelingt bis auf kleinste Ausnahmen wunderbar. Das war rein vom Hören der ungetrübteste Musical-Genuss seit langem!

Die Figuren des Musicals und ihre Darsteller in St. Gallen
Lady Bess, dargestellt von Katia Bischoff

Katia Bischoff ist bestens besetzt als Lady Bess. Ein Volltreffer. Sie besitzt eine sehr natürliche Anmut, so etwas von Natur aus edles, „prinzessinnenhaftes“ und vornehmes, und eine glasklare Stimme. Gleichzeitig verkörpert sei eine selbstverständliche Jugendlichkeit und ist damit der perfekte Gegenpart zu der strengen Wietske van Tongeren.
In jedem Solo, dass sie singt, durchdringt sie den Pathos der Texte mit ungeheurer Energie, innerhalb derer sie aber nie „drüber“ wirkt. Sie verbindet diese Kraft in der Stimme mit einer erfrischenden Natürlichkeit, die der Rolle bestens gerecht wird. Die Duette mit Anton Zetterholm sind – obwohl textlich zuckersüß – eher zart und achtsam.
Eine sehr schöne Ausarbeitung der Titelrolle, bei der keinerlei Kritikpunkte zu finden sind.
Mary Tudor, dargestellt von Wietske van Tongeren

Großes Kino! Wietske van Tongeren erweckt eine unnachgiebige, kompromisslose und hartherzige Mary zum Leben. Da ist so viel Kälte und so eine Härte spürbar, eine Unnachgiebigkeit, die einem Gänsehaut macht. Wie sie mit allem, was sie hat und was sie ist, den Katholizismus verteidigt und sich mehr als einmal an einem Kruzifix festklammert. Dieser religiöse Fanatismus, den es auch heute noch gibt auf der Welt, vereinigt in einer Person, das ist toll gemacht. Und dann zum Finale, wenn Wietske van Tongeren dem Zuschauer mehr als glaubhaft ihr eigenes Leid erfahrbar macht und man durchaus Verständnis erlangt für eine Frau, deren einziger Halt, deren einzige Konstante im Leben der Glaube war. Das sind so tolle Bühnenmomente, die einem die Darsteller schenken!
Dabei arbeitet sie geschickt schon auf dieses Finale hin: Schon bei der Hochzeit mit Philipp lässt die Darstellerin diese Sehnsucht nach Liebe erkennen. Mit welcher kindlichen Freude sie das Bild ihres Bräutigams nicht mehr loslassen wird, wir teenager-verliebt sie in dann ansieht! Diese Frau hat in ihrem Leben keine menschliche Verlässlichkeit erfahren. Sie ist auf der Suche nach Verständnis, nach jemand, der sie im Leben führt und nimmt alles, was sie kriegen kann. Darum lässt sie sofort verlautbaren, dass Prinz Philipp jetzt ihr Berater ist, derjenige, auf den sie hören wird. Welch zauberhaften Glücksmoment sie erfährt mit ihrem angetrauten Philipp, dieser kurze Moment der Erleichterung und der Glückseligkeit, das ist anrührend.
Das ist mit van Tongeren nuancierten Spiel so offensichtlich erkennbar: Die Sehnsucht nach etwas, dass sie leitet im Leben. Etwas, auf das sie sich stützen kann. Man erkennt einiges davon, wie die menschliche Psyche agiert, wenn man nur das Spiel von Wietske van Tongeren verfolgt.
Als getriebene Seele wird sie aber bis zum Schluss keinen Frieden finden und sieht noch im Tod ihr Lebenswerk, den Katholizismus in England zu verankern, verfallen.
Van Tongerens Stimme ist die einer Herrscherin würdig, sie schafft es, ihren Herrschaftsanspruch in großartigen Solos mit der nötigen Bissigkeit und Härte in der Stimme auszustatten. Und am Ende ergibt sich in ihrer ganzen Härte trotz allem das Bild einer schon in der Kindheit gebrochenen Persönlichkeit. Eine sehr feine Charakterzeichnung mit glänzender Stimme!
Robin Blake, dargestellt von Anton Zetterholm

Die Figur des Robin Blake ist mehr, als sie auf den ersten Blick vielleicht zu sein scheint. Er ist mehr als der obligatorische jugendliche Liebhaber. Robin Blake ist der Gegenentwurf zur höfischen Welt, der Gegenentwurf zu „so muss das“. Ohne ihn würde Bess keinen Anknüpfungspunkt finden an die reale Welt. Er ist der Freigeist, der Künstler, der Liebende, eine Sehnsucht und er bleibt in allem Unerschütterlich. Eben alles das, was Mary Tudor nicht zu Teil wurde in ihrem Leben und ihrem Erwachsen zu einer kompletten Persönlichkeit. Dabei ist er Mary Tudor in der Kompromisslosigkeit relativ ähnlich. Er verfolgt sein Ziel, die Liebe zu Bess, über alle Widrigkeiten hinweg.
Diese Figur ist einem sofort sympathisch. Denn ihm wird nichts einfach zugeschrieben, sondern er lebt das alles, was er singt. Insofern hat Anton Zetterholm hier eine sehr dankbare, weil absolut sympathische Rolle zu verkörpern.
Er liebt und lässt sich nicht abbringen von dem, was er glaubt und liebt. Ihm geht die Freiheit über alles und in dem Fall ist das die Freiheit, die zu lieben, die sein Herz erreicht hat, auch, wenn es eine Lady ist.
Auch er bekommt eine feine Ausgestaltung. Ein ganzes Lied lang singt Bess ihn an, was an ihm denn eigentlich an ihm so besonders ist. Dabei ist die Figur augenscheinlich als besonders angelegt. Selbst innerhalb der Musikertruppe tut sich Robin Blake als Feingeist, als Künstler, als ein wenig Feiner als die „normalen“ hervor.
Besonders an ihm ist die Feinheit des Geistes, die Freiheit, die zu lieben, die er begehrt. Darauf macht er Bess schon im ersten Lied aufmerksam: Dass er alles hat im Leben, weil er frei ist.
Anton Zetterholm gibt diesen Robin Blake vollkommen unkompliziert und authentisch. Der ist da, der weiß, was er will und macht einfach. Anders als Bess, die ja nichts macht. Er lebt den Künstler ein bisschen verrückt, präsent und erfrischend. Man sieht das immer so in der Haltung, wie ein Darsteller seine Rolle füllt, und das passt hier so. Wenn man sich freut, dass der Darsteller jetzt wieder auf die Bühne kommt, dann liegt das eher selten an der Rolle, natürlich an der Attraktivität des Darstellers, aber in der Hauptsache an der Spielfreude, die man ihm ansieht und die den Zuschauer so anzieht.
Um einen kleinen Einblick in die Figur zu geben, hier die Wiedergabe der Szene, in der mich die Figur schon für sich gewonnen hat:
Lady Bess: Was machst du hier?
Robin Blake: Du hast mich eingeladen!
Lady Bess schaut irritiert.
Robin: Auf Wiedersehen hast du gesagt und hier bin ich wieder.
Da zeigt sich der Künstler, der Dichter, der Freigeist, der das nimmt, was da ist und es für sich passend macht. Das ist herrlich entwaffnend, das hat Esprit und genauso bewegt sich Zetterholm auf der Bühne. Er bringt Dynamik und Bewegung, er nimmt die Freiheit nicht nur als Gedanke auf, sondern bringt sie auf die Bühne. Höchst authentisch und einfach toll!
Anne Boleyns Geist, dargestellt von Katja Berg

Ich liebe es, Katja Berg singen zu hören.
Mit ihrer Rolle hab ich mich lange beschäftigt. So ganz warm wurde ich nicht mit dieser Rolle. Auch nicht mit der Ausstattung. Die weißen, langen Haare fand ich wahnsinnig gut gelungen, denn so wirkte sie trotz des roten Kleides als jemand, der schon lange nicht mehr da ist. Entrückt und alt. Alt nicht im Sinne als von Jahren her alt, sondern eher als weise. Sehr mystisch kommt sie rüber, tatsächlich wie aus einer anderen Welt, dabei aber sehr edel. Das finde ich gelungen. Mit Würde und Anmut verkörpert Katja Berg genau diese Anne Boleyn. Dabei wirkt sie tatsächlich ein wenig jenseitig, weil sie auch so schwebend einher schreitet.
Mit dem Make-up allerdings wirkt sie eher wie eine Hexe, ein wenig fies. Dadurch, dass Mary sie auch oftmals als Schlange bezeichnet, tu ich mich damit dann schon schwer. Über diese Figur habe ich wirklich lange nachgedacht.
Aufrecht fällt mir dabei ein. Katja Berg kreiert eine Anne Boleyn, die für ihre Überzeugung steht. Unerschütterlich erscheint sie, wie ein ruhender Pol. Gar nicht so sehr warmherzig wie eine Mutter, denn die Mutter kann sie nicht sein für Bess. Auch nicht in sich ruhend und durch den Tod von allem losgelöst. Es scheint, als hätte sie noch eine Mission. Und so steht sie also nicht für Wärme und Nähe, sondern eher für eine mütterliche Unerschütterlichkeit, ein tiefes Vertrauen, dass eine Mutter an der Seite ihrer Kindern steht, egal, was passiert. Der Fels in der Brandung, der einen für alle Stürme des Lebens wappnet.
Losgelöst also von den Schrecken der momentanen Situation propagiert sie ihre Weitsicht. Die Weitsicht einer wissenden und liebenden Mutter und nimmt die Tochter in die Pflicht, nicht nur ihrer bewussten Erinnerung zu vertrauen, sondern auch dem Gefühl, dass eine Mutter weitergibt: Du bist nicht allein. Auch, wenn die bewusste Erinnerung eine andere ist.
Denn Bess hat nur negative Erinnerungen an ihre Mutter, ihr Denken ist geprägt vom Bild der Mutter als Ehebrecherin. Und deshalb appelliert Anne an ihre Tochter: Du bist nicht allein. Da ist eben mehr als das, was Bess über ihre Mutter zu wissen scheint.
Sie kann ihr Kind nicht mehr in den Arm nehmen und sie nicht physisch begleiten. Darum vermittelt Katja Berg als Anne Boleyn hier Übernatürliche. Das, was über die normale Mutternatur mit lieben und liebkosen hinausgeht: Die Idee, dass man als Mutter wirkt, auch wenn man nicht mehr da ist allein durch das, was man zu Lebzeiten gegeben hat. Das hat mir manchmal ein bisschen Gänsehaut gemacht, weil das schon sehr mystisch und spirituell ist, aber genau so hab ich Katja Berg in ihrer Rolle gesehen. Und natürlich gehört. Und es ist jedesmal wieder faszinierend, wie schön sie singt.
So ist diese Rolle und Katja Berg dann auch für Bess einzig starken Moment verantwortlich: Dann, wenn Bess das Leid ihrer Mutter erkennt, wenn sie sich selbst erlaubt, eine neue Idee zu denken, nämlich die, dass ihre Mutter unschuldig ist. Dort, wo sie ihr im Leid begegnet und es empathisch annehmen kann, dort entsteht die tiefe menschliche Verbindung, die eine Versöhnung möglich macht, in diesem Fall die Versöhnung von Bess mit ihrer Vergangenheit. Und diese innere Versöhnung legte wohl die Grundlage für ihren spätere Erfolg als Herrscherin in einer eher aufgeklärten Geisteshaltung.
Philipp von Spanien, dargestellt von Lukas Mayer

Aus meiner Heimatstadt Augsburg auf die Bretter, die die Welt bedeuten: Für mich eindeutig die beste Performance innerhalb einer sowieso schon perfekten Cast:
Dieser Philipp von Spanien macht Spaß. Der hält perfekt die Waage zwischen dem Pathos, den das Musical eigentlich vermitteln will, fügt sich da also perfekt ein und versteht es aber auch, den kleinen ironischen Wendungen Ausdruck zu verleihen. Dieser Philipp ist vielschichtig, viel vielschichtiger als es auf den ersten Blick wirkt.
Lukas Mayer kann singen, kann tanzen, hat die perfekte Mimik, zaubert Akzent, wo er sein soll. Kann ironisch. Kann ruhig und mit immenser Ausstrahlung.
Die Rolle des Philipp ist nicht die Größte, aber für mich in der kompositorischen Ausarbeitung schon die Kompletteste. Er ist der, der die aufklärerischen Gedanken schon in sich trägt, er ist der, der weiß, dass es zum Regieren „ein heißes Herz und einen kühlen Kopf“ braucht.
Und er tut es auch. Er ist der Macher, aufgrund seiner Intervention stirbt Bess nicht den Gifttod, wird Robin Blake nicht getötet und wird Bess schließlich auch freigelassen. Immer, wenn Philipp auftaucht, passiert etwas. Das sieht man auch in der Choreographie, die im zugedacht ist und die Lukas Mayer perfekt ausfüllt. Seine Ausgestaltung hat den nachhaltigsten Eindruck bei mir hinterlassen. Das liegt nicht nur an seiner Statur, sondern an der Präsenz, die er auf die Bühne bringt, die Authentizität, mit der er die Figur ausstattet. Da bleibt aber auch eine winzige Distanziertheit übrig, die den Charakter eben in die Historie verordnet. Bei den anderen Figuren ist es so augenscheinlich, dass die Autoren da mehr wollten als die Historie nachbilden. Bei Philipp wirkt das nicht so holzhammermäßig und ist für mich deshalb so greifbar. Weil er eben nicht auf Teufel komm raus irgendetwas darstellen soll. Die Selbstverständlichkeit, mit der er diesen Mann als den darstellt, auf den die kompromisslose Mary Tudor hört, einfach macht und nicht so pathetisch ist, macht ihn für mich wirklich komplett. Darüber hinaus fügt sich Lukas Mayer auch immer wieder selbstverständlich und lautlos ins Ensemble ein. Ein toller Darsteller!
Ensemble

Hier sei noch kurz angemerkt, dass Lady Bess jetzt kein ausgewiesenes Ensemblestück ist. Die Last ist schon sehr auf die Solorollen verteilt. Das Ensemble kommt immer wieder unterstützend zum Zug. Dann, wenn es episch-bombastisch und luxuriös-königlich klingen soll und da tut es dann auch. Und doch ist so ein Stück ja immer auch als Gesamtleistung zu sehen. Alle Ensemblemitglieder machen ihre Sache mehr als gut, haben kleine Einzelrollen und fügen sich danach wieder in ein Großes ganzes ein. Das ist alles sehr harmonisch und genau wie die Leistung des Orchesters und der Band zwar häufig nicht Gegenstand einer umfassenden Kritik. Ich möchte es aber hier auch nicht versäumen, zu betonen, wie sehr mir das Werk als Gesamtleistung aller Beteiligten gefall hat. Von daher geht mein Dank an dieser Stelle an alle Mitglieder des Ensembles, des Orchesters und der Band!
Fazit
Die Inszenierung von Lady Bess des Theater St. Gallen hat aus dem mir eher fremdgebliebenen Musical einen Augen- und Ohrenschmaus gemacht. Danke St. Gallen, Danke Gil Mehmert und an den Rest der Verantwortlichen. Ich habe es gerne gesehen und gehört, aber diese innere Befriedigung nach einem herausragendem Theaterabend, die konnte mir auch die perfekte Inszenierung nicht verschaffen, weil das Musical weder musikalisch noch inhaltlich nicht an die Dramatik kommt, die es eigentlich vermitteln will.
Alle nicht anderweitig attributierten Fotos: Dr. Joachim Schlosser Fotografie
Schreibe einen Kommentar