Die Bühne Baden ist mittlerweile bekannt dafür, Musicals zu spielen, die selten aufgeführt werden, und sich an Erstaufführungen zu wagen und dafür das Who is Who der deutschsprachigen Musicalszene zu engagieren.
So auch bei der österreichische Erstaufführung des Musicals Neun. Drew Sarich und sage und schreibe acht grandiose Damen ihres Faches bringen mit diesem Stück nach einer Vorlage des italienischen Filmregisseurs Federico Fellini ein amüsantes, kurzweiliges Stück auf die Bühne, das trotz eines schweren Themas eine durchgängig leichte Note hat.
Neun – das Musical
Vorlage
Vorlage ist Federico Fellinis Film 8 1/2 von 1963, in dem der Regisseur seine eigene Schaffenskrise zum Thema macht. Dabei verschwimmen Fiktion und Wahrheit miteinander. Fellini sagt dazu:
„Ich meine, dass man die Wirklichkeit nicht als Panorama einer einzigen Oberfläche sehen darf, dass es mehrere Schichten gibt und die tiefste, jene, die nur durch die Sprache der Poesie erweckt werden kann, nicht die unwirklichste ist. Realismus ist überhaupt ein schlechtes Wort. In einem gewissen Sinne ist alles realistisch. Ich sehe keinen Trennungsstrich zwischen der Vorstellung und der Wirklichkeit. Ich sehe viel Wirklichkeit in der Vorstellung.“
Quelle: Dieter Wunderlich
Die Zahl 8 1/2 spielt auf die Anzahl der Filme an, die Fellini bis zu diesem Zeitpunkt gemacht hatte. Der halbe Film meint einen Film, bei der er nicht alleiniger Regisseur war, sondern „nur“ Co-Regisseur.
Vom Film zum Musical
1982 hatte das Musical „Nine“ von Maury Yeston (Musik, Songtexte) und Arthur Kopit (Buch) am 9. Mai 1982 am Broadway Premiere, es wurde dort 729-mal aufgeführt.
Außerdem existiert seit 2009 ein prominent besetzter Kinofilm „Nine. Die Frauen meines Lebens“ mit Daniel Day-Lewis, Nicole Kidman, Penelope Cruz, Marion Cotillard und Sophia Loren.
Neun beschreibt die Anzahl der Hauptpersonen, denn ganze 8 Damen hat Guido Contini um sich geschart. Zudem ist der junge Guido, der im Musical auftaucht, neun Jahre alt; darauf nimmt seine Mutter mehrmals Bezug.
Inhalt
Guido Cantini ist ein berühmter Filmemacher. Nach einer längeren Durststrecke mit einigen Flops soll nun ein Kassenknüller entstehen, die Verträge dazu hat er schon unterzeichnet. Aber kurz vor Drehbeginn hat Cantini selbst noch keine einzige Seite seines Drehbuches geschrieben, er hat noch nicht mal im entferntesten eine Idee, welche Art Film es überhaupt werden soll.
Der Meister steckt in einer Schaffenskrise, die sich in kürzester Zeit über eine Ehekrise zu einer Lebens- und Identitätskrise auswächst.
Denn Luisa, Guido Continis Ehefrau, ist unzufrieden: sie erwartet sich von Contini viel mehr Aufmerksamkeit als dieser zu geben bereit ist und das ausgerechnet jetzt, wo Contini schon ein Problem mit seiner Kreativität hat. Beide fahren in ein Spa nach Venedig, um sich eine Auszeit zu gönnen.
Von einer Reporterschar entdeckt, soll er Auskunft über sein neuestes Projekt geben, redet sich aber geschickt heraus.
Das muss er auch gegenüber Madame La Fleur tun, der Produzentin, die viel Geld in das kommende Projekt mit Contini gesteckt hat und gerne wissen würde, worum es im Film überhaupt gehen wird. Mit im Schlepptau hat sie Stephanie Necrophorus, eine Kritikerin, die Guido auf die Finger sehen soll, damit der neue Film auch erfolgreich wird.
Zu allem Überfluss trifft auch noch Guidos Geliebte Carla Albanese in Venedig ein. Die heißblütige junge Frau möchte Guido treffen und bemüht sich gerade um ihre eigene Scheidung, um wiederum Guido heiraten zu können.
Was bis jetzt tadellos funktionierte, das Zusammenspiel, der Konsens aller Lebensbereiche trotz oder sogar wegen all dieser Frauen, wird auf einmal empfindlich gestört und wie das in einem fein aufeinander abgestimmten System nun mal ist: kommt das eine aus dem Rhythmus, folgt sogleich das andere. Guido entgleitet sein ursprünglich in vollkommener Harmonie gestaltetes Leben. Er kommt nicht mehr zurecht mit seinem Sein und verstrickt sich in seine Träume so sehr, dass diese sich verweben mit der Realität.
Guidos verstorbene Mutter begleitet ihn im Geist und dirigiert Kindheitserinnerungen, in denen auch Saraghina, eine Hure, auftaucht. Der kleine Guido bezahlte sie einst dafür, dass sie ihm „von der Liebe erzähle“, was in der Klosterschule eine Menge Ärger und Mutters Enttäuschung zur Folge hatte.
Guidos angereiste Muse Claudia Nardi, mit der er zahlreiche Filme drehte, können Ruhe und Inspiration in Guidos Leben bringen. Aber auch sie wendet sich ab. Sie ist enttäuscht über die Art der Beziehung, sie möchte ihre Rolle als ewige Muse, innerhalb derer sie ihre eigene Persönlichkeit nicht ausleben kann, ebenfalls ablegen.
Schließlich verlassen ihn Ehefrau, Geliebte, Muse.
Allerdings bringt ihn ein achtloser Satz von Claudia tatsächlich noch auf eine Filmidee, die er schlussendlich auch verwirklicht.
Innerhalb dieser Krise dringt Guido zum Kern der Sinnkrise vor: Was ist er ohne all diese Frauen? Was bleibt, wenn sich die äußeren Parameter ändern? Was macht ihn aus? Wer ist Guido Contini?
Musik
Die Musik von Neun ist von Anfang bis Ende gefällige Musicalmusik mit viel BigBand-Anklängen. Leider bleibt kein Ohrwurm, aber man schwingt sich durch die Handlung. So lässig wie Guido ist die Musik. Sie passt zu den Charakteren. Überaus präsent und im klassischen Musical-Stil kommt Madame La Fleur daher. Claudias Lied hat mich sehr beeindruckt und auch ein Stück weit verfolgt, weil ich da die Tonfolge spannend fand. Es war ihrem Charakter entsprechend eher künstlerisch. Sarraghina ist ein überschäumende Lebensfreude, während die Kritikerin Stephanie mit südländischen Rhythmen das Cinema Italiano besingt.
Inszenierung von Neun in Baden: Ramesh Nair
Bühne, Choreographie und Kostüme
Schlicht, aber wirkungsvoll sind in grauer Betonoptik die Bauteile der Bühne (Karl Fehringer Judith Leikauf) gehalten: Treppen und Podeste, die hin- und hergefahren werden können, weisen zart auf Venedig hin, können aber auch uminterpretiert werden. Ohne viele Schnörkel stehen sie mit ihren klaren Linien im Gegensatz zu Guidos wirren Gedanken und Träumen und dem Chaos, das sich um ihn herum formiert.
Die Kostüme (Friederike Friedrich) sind perfekt passend: Drew Sarich in lässig beiger Hose und hellblauem Hemd hat nie italienischer ausgesehen. Ehefrau Luisa im dunkelblauen Kostümkleid kommt klassisch-modisch und steht für Bodenständigkeit und so genau für das, was Guido -ohne es zu ahnen- tatsächlich braucht: den sicheren Hafen. Sarraghina kommt weniger erotisch, mehr spanisch-lebenslustig herüber und damit wahrscheinlich auch genau so, wie der kleine Guido sie wahrgenommen hat.
Die leidenschaftliche Carla ist in anrüchigem Rot unterwegs, sowohl im Kostüm als auch für die Perücke, die Produzentin und ehemaliges Showgirl Madame Le Fleur ist die klassische Showdame schlechthin. Die Kritikerin, kennt nur schwarz und weiß, gut oder schlecht und so ist auch ihr Kleid in schwarz-weiß gehalten.
Sehr gut durchdachte Kostüme treffen auf ebenso intelligente Choreographien. Wirklich zu Begeisterungsstürmen hingerissen hat mich die Nummer von Kritikerin Stephanie.
Die hatte so viel Pep und Dynamik. Überhaupt leitet Ramesh Nair seine Darstellerriege so sicher und harmonisch zueinander und mit der Musik, wie Guido seine Damen im Kopf dirigiert. Es macht Spaß, das Ineinanderfließen der Charaktere in die Musik und den Rhythmus der Geschichte als Zuschauer so aufzunehmen. Die Choreographien haben hierbei einen großen Anteil. Vom Aufbau fehlt dem Stück manchmal ein wenig der Anker, der große Bogen, der rote Faden. Die Musik und im besonderen, wie sie hier vom Orchester dargeboten wurde, und die Choreographien inmitten dieser Bühne schaffen es, die Stringenz der verworrenen Geschichte herauszuarbeiten. Brillant hängt dann doch alles miteinander in Verbindung. Die Kunst besteht darin, Guidos ureigene Gedankenwelt dem Zuschauer vertraut zu machen. Der Zuschauer soll trotz aller Wirrungen immer im Rahmen bleiben, in Guidos Welt. Das gelingt fantastisch.
Orchester
Für mich der Star des Abends: Das Orchester der Bühne Baden unter Leitung von Christoph Huber! Schwungvoll und akzentuiert vermögen die Musiker, dieses in der Grundhaltung zwar leichte, aber innerhalb der Handlung doch komplizierte Stück einerseits famos zu gliedern und dabei aber gleichzeitig doch innerlich zusammenzuhalten. Es entfaltet die Charaktere innerhalb der Musik genau so, wie die Darsteller das auf der Bühne tun, auf einzigartige Weise. Es bleibt nicht nur passiv, ich hatte das Gefühl, es treibt sie geschickt vor sich her und durch die Handlung. Die Musiknummern sind manchmal sehr lose aufeinander aufgebaut, manchmal hat es eher den Charakter einer Nummernrevue. Aber dieses fantastische Orchester verbindet die Elemente, schnürt den roten Faden, der dem Stück manchmal abzugehen scheint.
Durch abwechslungsreiche Dynamik entfalten die Musiker die ganze Dramatik des Regisseur-Lebens, indem sie auch auch den leisen Momentenden passenden Klang zu geben. Besonders möchte ich das präzise und wirklich toll abgestimmte Schlagwerk benennen, insbesondere den Herrn an der Pauke!
Gedanken
Neun ist unheimlich vielschichtig. Oder auch nicht. Man kann es als reine Unterhaltung abtun, die bisweilen ein wenig absurd anmutet, sich an der Musik freuen und an den brillanten Darstellern. Denn ist trotz aller tiefen Gedanken um Sinnkrisen und Persönlichkeitsbetrachtung von der Grundstimmung her luftig, mit Situationskomik versetzt und nach italienischer Lebensart temperamentvoll-leicht. Die Musik perlt und man verlebt einen unbeschwerten Abend.
Oder aber, man taucht tief in Guidos Kopf ein und verbindet sich mit ihm und setzt sich selbst mit ihm in Beziehung.
Das Stück bietet viele Interpretationsansätze. Ich gehe hier nur auf den ein, der mich beschäftigt hat: Was ist denn eigentlich real und was nicht in diesem Treiben? Was findet in Guidos Kopf statt und welche der Personen treten tatsächlich physisch in sein Leben?
Für Guidos Mutter ist das leicht zu beantworten: sie lebt nicht mehr, das wird relativ bald deutlich. Das heißt, immer, wenn sie auftaucht, dann in seinem Kopf. Ebenso wie Sarraghina als Erinnerung im Kopf entsteht. Dass diese Frauen trotzdem immer mit auf der Bühne stehen, bedeutet, dass sie in Guidos Leben etwas bewirkt haben, was fortdauert in ihm. Dabei stehen sich beide Frauen eher unversöhnlich gegenüber: die konservative Mutter, die Guido auf eine katholische Schule geschickt hat und die lebenserfahrene und sinnliche Sarraghina. Hier tut sich in Guido ein erster Zwiespalt auf zwischen vorgelebter Sittentreue, Neugier, Leidenschaft und enttäuschte Erwartung der Mutter.
Und die anderen Damen?
Ist die Produzentin Liliane La Fleur tatsächlich in Venedig aufgetaucht oder hat Guido einfach nur Sorge, was passieren würde, wenn sie auftaucht? Er erinnert sich an sie, als sie ein Star war und der kleine Guido ihr ein Geschenk in die Garderobe brachte. Oder ist das ebenfalls nur eine Idee von ihm, eine Sehnsucht? Liliane La Fleur ist der Inbegriff der Perfektion. Eine Frau, die selbst für etwas steht, die erfolgreich war und ist und das mit ihrem ganzen Auftreten auch heute noch zum Ausdruck bringt. Natürlich muss Guido gerade in einer Schaffenskrise vor ihr Angst haben. Ist es also nur die Idee, dass, wenn sie in Venedig auftauchen würde, ihn unter Druck setzen würde? Auf diese Idee gebracht hat mich die Kritikerin, die La Fleur im Schlepptau hat: Stephanie Necrophorus. Ich habe sie von Anfang an als fiktive Figur empfunden. Für mich ist sie die Personifikation des inneren Kritikers.
Der innere Kritiker ist ein Konzept aus der Psychotherapie. Der innere Kritiker ist der größte Feind des Selbstvertrauens. Jeder hat diese innere Stimme in sich, die uns sagt, wie wir leben sollen. Der innere Kritiker beschreibt den Teil in uns, der sich gegen uns selbst wendet. Negative Gedanken warten nur darauf, uns bei einer Schwäche zu ertappen, um dann unser Selbstwertgefühl herabzusetzen. Der innere Kritiker weiß sowieso alles besser, aufgrund seiner Kritik trauen wir uns nichts neues zu.
In einer Krise wird der innere Kritiker stärker und stärker. Guido traut sich selbst nicht mehr, zweifelt. Der Druck, der auf ihm lastet, wird durch die Kritikerin noch weiter verstärkt.
Necrophorus übrigens ist der lateinische Name des Totengräber-Käfers. Ja, die Kritikerin könnte tatsächlich Guido Cantinis Grab schaufeln. Denn sie hat Ahnung von der Materie, soll auf ihn aufpassen und ihn bewerten. In dieser Krise kann Guido nur selbstzweiflerisch auf sich schauen und stärkt so seine Angst, zu versagen.
Ist die auftretende Stephanie Necrophorus also tatsächlich eine reale Person? Oder nur eine in Guidos Kopf sich formierende Idee des inneren Kritikers? Diese Frau, die seine Filme als langweilig und belanglos tituliert und ihn als Scharlatan bezeichnet? Die ihn lobt für sein einstiges Gespür für das großartige Cinema Italiano – und damit ihn noch viel mehr für die Zukunft unter Druck setzt?
In beiden Frauen – Kritikerin und Produzentin – manifestiert sich Guidos Angst zu versagen. Beide sind Personen in seinem Leben, aber tauchen meines Erachtens nicht in persona in Venedig auf. Zumindest ist das so denkbar.
Bleibt noch das Liebesdreieck um Ehefrau Luisa, Geliebte Carla und Muse Claudia.
Natürlich kann es sein, dass alle drei Damen in Venedig auftauchen. Nach meinem Dafürhalten aber ist bis auf Luisa niemand in Venedig. Alles passiert in Guidos Kopf. Ich glaube, dass alleine die Interaktion mit der Ehefrau real ist und die Ehekrise tatsächlich existiert. Eine Trennung ist in Sachen Ehe ja offensichtlich der Worstcase. Als beide in Venedig sind, setzt sich in Guido ein imaginäres Karusell in Fahrt:
Was wäre, wenn ? In einem Zustand größten Zweifels, wenn er das Gefühl hat, alles geht den Bach runter, was würde da passieren?
- Was ist der Worstcase, der einem mit der Geliebten passieren kann? Sie möchte heiraten… oder sie verlässt ihn.
- Was ist der Worstcase, der einem mit einer Muse passieren kann? Sie zieht sich zurück, möchte überhaupt nicht mehr als Muse gesehen werden und die künstlerische Verbindung abbrechen… und sie verlässt ihn.
- Was ist der Worstcase, der einem mit der Produzentin passieren kann? Verträge sind unterzeichnet und er kann nicht liefern.
- Was ist der Worstcase in der Zusammenarbeit mit einer Kritikerin? Dass sie schonungslos auf nichts anderes wartet, als auf seinen freien Fall nach dem Höhepunkt.
Guido hat Angst und Guido hat Zweifel, dass sein harmonierendes System, dass er sich geschaffen hat, zusammenbricht und stellt sich genau diesen Zusammenbruch in jedem nur erdenklichen Detail vor.
Die Frauen in seinem Leben: sie haben es entweder geformt: Mutter, Hure, Muse. Oder es gemanagt: Ehefrau, Geliebte, Produzentin.
Die existenzielle Frage, die am Ende des zusammenbrechendes Systems bleibt, ist die: Wer bin ich selbst? Wer kann ich sein? Guido wächst an dieser Erkenntnis.
Und kann so die zweite wichtige Frage des Lebens beantworten: Wenn ich für mich selber stehe, wen brauche ich dann noch? Wer soll bleiben in meinem Leben, wenn ich selbst anfange, es zu leben?
Die Antwort weiß Guido, aber der Neuanfang mit Luisa bleibt fraglich.
Vielleicht hat Guido das alles so erlebt und Tagträume und Gedanken mit der Realität vermischt. Vielleicht ist aber auch alles nur in seinem Kopf passiert.
Die Rollen und ihre Darsteller
Guido Cantini: Drew Sarich
Guido Cantini ist Künstler, berühmt und hat sich sein Leben eigentlich perfekt eingerichtet. Er hat „tausend Dinge im Kopf“, ihn „gelüstet nach mehr aber nicht zu viel; möchte alt sein und jung“. Guido Cantini möchte alles.
Deswegen hat sich der Italiener mit einer ganzen Horde Frauen umgeben, die er gerne dirigiert oder dirigieren möchte. In seiner Vorstellung harmonieren diese Frauen auch alle untereinander und mit ihm. Er kommt dabei weniger als Macho, sondern mehr als Maestro rüber.
Er möchte Wohlklang in seinem Leben, Harmonie, Schönheit und ideale Bedingungen, um seiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Er hat schon sehr selbstverherrlichende Tendenzen, aber um Narzisst zu sein, nimmt er alles zu leicht und scheint darüber hinaus auch manchmal über den Dingen zu stehen. Mehr eine Künstlerseele als ein italienischer Macho, der sich ein System geschaffen, in dem er sich von den Frauen seines Lebens managen lässt oder managen hat lassen.
- Für seine Sicherheit und die Beständigkeit braucht er die Ehefrau.
- Für die Leidenschaft braucht er die Geliebte.
- Für die Inspiration braucht er seine Muse.
- Wenn er einen Tritt in den Arsch braucht, bemüht er die Produzentin.
- Wenn er nostalgisch ist, braucht er die Mutter.
Das funktioniert nur bis zu einem gewissen Punkt. Am Ende singt er dann:
erst, wenn man erkennt, dass man nicht alles haben kann
fängt das wahre Leben an
dann wird man zum Mann
Drew, in Amerika geboren und aufgewachsen und seit 25 Jahren in Österreich beheimatet, gibt den perfekten Italiener. Ganz fein, nicht klischeehaft. Sein Guido ist ein Mensch der Harmonie, aber auch jemand, dem seine Zweifel Angst machen.
Er hat sich eine sehr kindliche Art behalten. Den Teil, der nicht erwachsen geworden ist, und der dem großen Guido ja auch schlussendlich ein Bein stellt, kehrt Sarich sehr liebevoll und dabei selbstverständlich heraus. Er verhält sich bisweilen kindisch, so dass sein Leben zwischenzeitlich aussieht wie ein großes Spiel. Trotz alledem bleibt er ein ernsthafter Künstler und Sarich zeichnet so ein sehr feines und niemals plattes Porträt dieses Guido Cantini. Der ist kindisch und ernsthaft, der ist laut und leise, der ist verzweifelt und dennoch irgendwie motiviert. Lange ignoriert er das Zusammenbrechen seines Systems und dann bleibt Trauer, Verzweiflung, Überforderung. Gesanglich bringt Sarich jede einzelne Emotion auf den Punkt und liefert wie gewohnt eine Meisterleistung ab.
Ich mag seine entwaffnende Blicke, sein unschuldig anmutende Lässigkeit. Und die echte Verzweiflung, in die er stürzt, als er erkennt, dass das Leben so, wie er es gelebt hat, nicht weitergehen kann.
Luisa Contini, Guidos Ehefrau: Milica Jovanovic
Diese Rolle ist die leiseste von allen. Luisa ist zurückhaltend. Ebenfalls Schauspielerin, steht sie schon lange im Schatten ihres Ehemannes und könnte mit dieser Rolle auch gut umgehen. Von jeher hat sie ihren Guido bewundert und tut das unglaublich zart und liebevoll zunächst vor der Reportermeute:
Mein Mann kann fantasieren und macht Filme daraus.
Allerdings wächst ihre Unzufriedenheit und der mehrfach erklärte Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit seitens ihres Ehemannes verhallt ungehört.
Milica Jovanovic gibt der Luisa die notwendige Zurückhaltung, die man braucht, um zu sehen, wie und warum sich Guido zu wenig um sie kümmert. Er ist der Star, in dessen System sie sich hat einfügen lassen. In ihrer Art ist sie ihm selbstverständlich geworden. Aber das weiß Guido zunächst nicht zu schätzen. Dabei lässt Milica sehr viel Gefühl in ihren Parts zu, zeigt sich neben verletzlich auch zunehmend enttäuscht. Ich glaube, es ist weniger die Aufmerksamkeit als vielmehr das Gefühl, nicht nur als Teil eines Guido-Systems zu funktionieren, sondern sie möchte, dass Guido sie als Person sieht. Ihr ernsthaft zuhört und sie erkennt als das, was sie für ihn ist.
Guido, so stell ich mir keine funktionierende Ehe vor.
…ist der erste Satz des Musicals. Und sie fasst damit das ganze Drama zusammen: Guido lebt ein System, aber keine Ehe mit ihr. Seine Geliebte Carla sagt den Satz später in abgewandelter Form: Guido, so stell ich mir keine funktionierende Beziehung vor.
Guido möchte alles und übersieht sehr lange, dass er mit Luisa schon fast alles hat. Erst am Ende singt er über sie:
das Glück, das ich meine, find ich ganz alleine in dir
sein wie ich bin, mit Gefühl und mit Sinn.
kann ich nur mit dir
Milica Jovanovic bricht ihre Zurückhaltung auf und stattet Luisa mit einer angenehmen, aber nicht aggressiven Energie aus, die sie selbstbestimmt handeln lässt, um sich selbst nicht zu verlieren.
Carla Albanese: Dorina Garuci
Sinnlich und wild
von Ekstase erfüllt
Die laszive Carla hat den ganzen Tag nur Guido im Kopf, und erwartet logischerweise von ihm dasselbe. Sie ist die Leidenschaft in Person, unbekümmert drängelt sie sich an den ihr vorgesehenen Platz. Anders als Luisa ist sie nicht zurückhaltend selbstverständlich, sondern quietschig und jemand, die die Aufmerksamkeit, nach der sich Luisa so sehnt, von sich aus auf sich zieht.
Als Verführung in Person tanzt Dorina Garuci grazil und trotzdem heiß, sieht dabei grazil-erotisch aus und füllt diese Rolle dabei total aus. Sie bleibt auf einer leidenschaftlich-körperlichen Ebene. Das spielt sie sehr genau aus, denn das ist wichtig, um zu verstehen, warum Guido nicht mal im Traum daran denkt, sie zu heiraten. Man spürt genau, was Guido an ihr begehrt, welche Rolle sie in seinem System offensichtlich besetzt.
Doch auch, wenn man die Augen schließen würde, ist ihre Performance höchster Wohlgenuss, denn Dorina Garucis Stimme hat so viel an Varianz zu bieten: voluminös, rauchig, kehlig, sexy, beleidigt, süß, quietschig. Unglaublich.
Meine Verehrung, Dorina Garuci!
Stephanie Necrophorus, Kritikerin: Wietske van Tongeren
Wow, äh, da fällt mir echt so gut wie nichts mehr ein dazu. In einer überragenden Darstellerriege noch mal so ein Highlight zu setzen, das muss man erst mal schaffen. Die einzigartige Wietske von Tongeren, die in meinen Augen alles kann, macht die Kritikerin so fabelhaft, dass man selbst nicht weiß, ob man sich von ihr beflügelt fühlen oder Angst haben soll.
Das Selbstbewusstsein in Person mit einer wahnsinnig tollen Stimme, mit der Wietske so unglaublich toll auch artikuliert.
Ihre Tanzszene mit Cinema Italiano würde ich persönlich für den Tony-Award vorschlagen, so viel Können, Leidenschaft und Energie liegen darin.
Liliane la Fleur, Guidos Produzentin: Patricia Nessy
Madame La Fleur ist tatsächlich eine Madame. Ein Star der alten Schule. Das stellt Patricia Nessy in jeder Sekunde durch ihre Haltung und ihre Gestik dar. Sei bewegt sich selbstverständlich elegant und immer, wie auf der Showtreppe, weiß, mit dem Publikum zu interagieren und kann mit jeder Situation meisterhaft umgehen. Ihr Auftreten ist immer ein wenig, als würde der Scheinwerfer immer ihr folgen, alle anderen verblassen dagegen. Eine wunderbare Rolle für Patricia Nessy, die der Zuschauer gerne ebenso bewundert wie der kleine Guido.
Sie gibt das Selbstbewusstsein in Person, eine Macherin, die gewohnt ist, dass es nach ihrem Plan läuft, die gerne immer ein wenig die Kontrolle über alle behält. Das zeigt sie nicht nur schauspielerisch, sondern hat auch stimmlich jederzeit alles unter Kontrolle.
Claudia Nardi, Guidos Muse: Ann Mandrella
bleib mir nicht fern, bleib mein leitender Stern.
neue Ideen
sie kommen und gehen
mit dir (Guido zu Claudia)
Claudia ist Guidos Muse. Eine Person, die seine künstlerische Aufmerksamkeit erregt. Ann Mandrella gibt ihr ein wenig von allem und folgt dabei ganz Guidos Leitsatz „Ich will alles“: ein bisschen geheimnisvoll-unnahbar, dennoch leidenschaftlich-innig. Ein wenig griechisch-klassisch, ein wenig distanziert und dennoch mit inniger Bindung zu Guido. Sie fühlt sich ihm herzlich verbunden, leidet aber ebenfalls darunter, als Teil des Systems wird Guido ihrer Persönlichkeit nicht gerecht.
Ann Mandrella lässt – wie ihre Mitstreiterinnen – jederzeit leuchten, was genau sie mit Guido verbindet: Zwischen den beiden gibt es eine Art Symbiose, auf deren Grundlage beide zum Star wurden. Eine innige innere, künstlerische Verbindung vermag Mandrella hier zu zaubern zwischen der Figur des Guido, die Ehemann Sarich spielt und Claudia. Wunderbare Singstimme, Eleganz, Grazie, einen Hauch Unantastbarkeit als Frau: Ann Mandrellas Claudia ist überaus fein ausgestaltet.
Saraghina, eine Hure: Jacqueline Braun
Ti voglio bene
…singt Saraghina mit einer Inbrunst, dass nicht nur Guido erstarrt ob der Fülle, die ihm dort entgegenschlägt. Denn Jacqueline Braun wirft alles in ihre Auftritte und das Wort, das mir dazu einfällt, ist Volumen. Das ist dabei gar nicht körperlich gemeint. Volumen in der Stimme, im Charakter, in der Bewegung. Dieser Auftritt ist Fülle, man ist erfüllt danach.
Die Tarantella ist voller Lebenslust, voller Tatendrang, voller Gefühl und voller Leidenschaft. Man versteht auf den ersten Blick, warum diese Erinnerung Guido noch immer heimsucht.
Denn Jacqueline Braun bringt das Leben pur aus sich selbst heraus. Im Gegensatz zu Guido braucht es kein System, sondern nur sie in aller Fülle des Lebens. Bravo.
Mama Maddalena, Chefin der Zimmermädchen: Anna Overbeck
In der kleinsten der Frauenrollen und auch in der, die zu Guido den wenigsten emotionalen Bezug hat, besticht Anna Overbeck durch einen ganz eigenen Stil, der sich komödiantisch einfügt in Guidos Leichtlebigkeit und genau dadurch nähert sie sich ihm dann doch wieder an.
Guidos Mutter: Andrea Huber
Guidos Mama begleitet ihn durch sein Leben, trägt ihn, hält ihn aber auch ein wenig zu fest. Guido fühlt sich ihr verbunden und immer auch noch ein wenig verpflichtet. Andrea Huber gibt die italienische Mama mit liebevoller Distanz, innerhalb derer sie als nostalgische Erinnerung Einfluss auf Guido hat oder diesen über Luisa zu wahren versucht.
Fazit
Das Musical Neun der Bühne Baden ist gelungenes Musiktheater, das das Publikum begeistert.
Obwohl dem Stück an sich manchmal ein roter Faden abgeht, serviert Ramesh Nair hier dem Publikum ein wohl durchdachtes, intelligentes Stück, dass trotz aller psychologischen Abgründe leicht und luftig daherkommt. Bühne, Kostüm und Choreographie greifen perfekt ineinander und Darsteller wie das fantastische Orchester machen daraus ein wirklich tolles, kurzweiliges Stück, das vom Publikum mit herzlichem Applaus bedacht wurde.
Alle Szenenfotos: Gregor Nesvadba für Bühne Baden.
Für „Die Frau schaut hin“ fotografiert Dr. Joachim Schlosser Fotografie.
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