Selten bin ich so sprachlos aus einer Vorstellung gegangen wie aus dieser Inszenierung von Sunset Boulevard. Das von Andreas Gergen inszenierte Webber-Musical präsentiert sich als emotional aufgeladenes Meisterwerk irgendwo zwischen griechischer Tragödie und Psychothriller. Dabei gefällt die außerordentlich gut durchdachte Bühne und Kostüme. Die gesamte Darstellerriege ist famos, Maya Hakvoort liefert eine dabei eine Performance der absoluten Extraklasse.
Musical
Inhalt
Schon zu Beginn wird klar, dass Sunset Boulevard eine Tragödie wird: Zu bedrohlichen Tönen der Ouvertüre fällt Regen auf dem Sunset Boulevard im Sunshine State und der Wind fährt durch die Palmen. Im Pool liegt eine Leiche, die von Polizisten geborgen und abtransportiert wird. Wie ist es zu diesem Todesfall in der noblen Villa in Hollywood gekommen? Joe Gillis erzählt in der Rückschau folgende Geschichte:
Joe Gillis selbst ist Drehbuchautor in Hollywood und pleite. Seine anspruchsvollen Drehbücher werden nicht angenommen, die Filmfirmen setzen eher auf schnelle, leichte Kost. Er trifft auf die Produktionsassistentin Betty Schaefer, die Verlobte seines Freundes Artie. Sie zeigt sich interessiert, mit ihm zusammen ein Drehbuch zu schreiben.
Mittlerweile aber kann sich Gillis nicht einmal mehr die Rate für seinen Wagen leisten – seine Gläubiger fordern ihn ein. Gillis flieht mit dem Auto vor ihnen und landet vor einer heruntergekommenen Villa auf dem Sunset Boulevard. Im Glauben, das Haus sei unbewohnt, parkt er sein Auto in der Garage. Schließlich trifft er aber doch auf Bewohner: eine alternde schillernde Frau mit ihrem Butler. Beide glauben, Gillis sei gekommen, um den gerade verstorbenen Schimpansen der Dame zu beerdigen.
Als Joe nach einem kurzen Gespräch die Frau als den früheren Stummfilm-Star Norma Desmond erkennt, fühlt Norma sich geehrt.
Es war die Zeit der Stummfilme, als Norma Desmond zum Star aufstieg. Ohne Dialoge, allein mit Mimik und Gestik, drehte sie Filmerfolg um Filmerfolg, bis der Tonfilm in die Kinos Einzug hielt und das Talent der Norma Desmond nicht mehr gefragt war. Das aber will die exzentrische Diva nicht wahrhaben. So lebt sie allein in ihrer Villa, umgeben nur von ihrem Butler Max und der Illusion, dass Sie noch immer der größte aller Filmstars ist. Die regelmäßige Fanpost schürt in ihr die Hoffnung auf ein glänzendes Comeback. Für ihre triumphale Rückkehr in die Filmwelt hat sie selbst ein Drehbuch geschrieben mit dem Titel Salome.
Als sie im Gespräch mit Gillis erfährt, dass er Drehbuchautor ist, überredet sie ihn dazu, bei ihr zu übernachten, um das Drehbuch zu lesen und gegebenenfalls zu überarbeiten.
Joe, vollkommen pleite, kann das Angebot nicht ausschlagen und zieht über der Garage ein. Das Drehbuch ist schlecht, aber jede Änderungsidee wird aber von Norma entrüstet zurückgewiesen.
Joe bleibt dennoch in der Villa, in dem er sich um seine finanzielle Situation nicht sorgen muss und Norma zeigt sich enorm großzügig. Allerdings fällt Joe auf, dass nie jemand in der Villa zu Besuch ist und ist überrascht vom Selbstbild der Norma. Mit der Zeit kommt Joe dahinter, dass Butler Max früher einmal ein aufstrebender Jungregisseur war, mit Norma gedreht hat und darüber hinaus mit ihr verheiratet war. Er ist es, der die ganzen Fanbriefe schreibt, um Norma in dem Glauben zu belassen, dass sie noch immer tief verehrt wird.
Norma genießt Joes Anwesenheit und klammert sich an regelrecht an ihn. Zu seinem Geburtstag lässt sie ihn komplett neu ausstatten mit den besten Klamotten und lädt ihn zur Silvesterparty ein. Dort muss Gillis feststellen, dass er der einzige Gast ist. An dieser Stelle wird ihm das Spiel zu unheimlich und Norma zu übergriffig, so dass er die Villa verlässt und die Party von Artie und Betty besucht. Derweil schneidet sich die verlassene Norma aus Verzweiflung die Pulsadern auf.
Als Joe vom Selbstmordversuch erfährt, treibt ihn das schlechte Gewissen und die Sorge um Norma zurück zu ihr. Er bleibt bei ihr, wird sogar ihr Liebhaber.
Norma scheint der Welt immer weiter zu entrücken, betrachtet Joe als ihr persönliches Eigentum und setzt ihren Willen wahlweise mit Bestechung, Erpressung, Hysterie oder Schuldzuweisungen durch und träumt weiter von geplanten Comeback.
Denn Norma hat dafür gesorgt, dass ihr Drehbuch bei den Paramount Studios ihrem ehemaligen Produzenten Cecil B. DeMille übergeben wird. Tatsächlich meldet sich das Studio. In großer, divenhafter Aufmachung fährt sie ins Studio in der Überzeugung, dass ihre Träume von einem neuen Film sich nun erfüllen werden. Allerdings sind die Paramount Studios nur an ihrem Wagen für Filmaufnahmen interessiert. Sowohl Max als auch DeMille und Gillis verschweigen ihr das aber wohlweislich.
Derweil trifft sich Joe regelmäßig mit Betty. Beide haben eine Ebene gefunden, verstehen sich gut. Sie schreiben gemeinsam an einem Drehbuch, allerdings nur nachts, da Norma untertags darauf achtet, dass Joe das Haus nicht verlässt. Über der gemeinsamen Arbeit verlieben sich Joe und Betty.

Als Norma dahinter kommt, dass Joe sich heimlich nachts fortschleicht, versucht sie, die Beziehung der beiden zu torpedieren, indem sie Betty anruft und ihr erzählt, wo und wie Joe in Wirklichkeit lebt. Joe fordert Betty auf, in der Villa vorbeizukommen und sich selbst ein Bild zu machen.
Joe kann sich Norma nicht entziehen. Er erkennt, dass er sich heillos verstrickt hat und dieser Nummer nur mit erheblichen Verlusten rauskommt. Vollkommen desillusioniert schlägt er Betty, die mittlerweile in der Villa angekommen ist und der sich Joes Situation nun offenbart, deshalb vor, wieder zu Artie zurückzukehren. In der Wut über diese Tatsache offenbart Joe Norma nun die Wahrheit: Dass das Studio nur an ihrem Wagen interessiert ist und das Max die ganzen Briefe schreibt. Dass es keinen Film und kein Comeback geben wird, dass sie vergessen und verlassen ist und er nun ebenfalls gehen wird.
Mit den Worten: Niemand verlässt Norma Desmond richtet Norma eine Pistole auf Gillis und schießt dreimal.
Wenige Minuten später ist das Gelände voll von Menschen. Polizisten fischen Joe Gillis’ Leiche aus dem Pool, Reporter und Kameraleute sind zugegen, um über den Mordfall zu berichten. Da taucht Norma in komplett verwirrtem Zustand, aber sorgfältig zurecht gemacht, auf. Butler Max ruft ihr zu: Madame, die Kameras sind bereit. Und in dem Moment, als ihr der Scheinwerfer gewahr wird, ist sie wieder in ihrem Element: Mit der Illusion, es würden gerade Filmaufnahmen zu Salome gedreht, schreitet sie würdevoll den Kameras entgegen.
Musik
Kennt man die Musicals von Andrew Lloyd Webber, erkennt man immer wieder Webber-typische Motive, Klangbilder und Sequenzen. Mehr als einmal fühlte ich mich an das von Webber nur wenige Jahre zuvor geschaffene Meisterwerk Phantom der Oper erinnert. Aber Sunset Boulevard ist kein musikalischer Abklatsch. Zwar bleibt es durch die Instrumentierung schon ähnlich, entwickelt aber schnell eine ganz eigene musikalische Sprache.
Ganz dem Thema des Musicals verhaftet, ist die Musik oft wie Filmmusik verwendet. So zum Beispiel treibt sie Joe Gillis bei seiner Flucht vor den Gläubigern im Auto regelrecht voran.
Dramatik durchdringt die Partitur oft durch dissonante Streicher oder den Einsatz der Pauken. Sehr effektvoll wird so der Zuhörer quasi mit in die Situation gezwungen und erhält als Zuschauer unmittelbaren Anteil am Erleben. Hauptsächlich geschieht das durch die Augen des Joe Gillis, der auch als Erzähler fungiert. Dass der Wechsel vom Erzähler in die Szenen gelingt, ist der Verdienst der Musik, in dem der Erzähler Joe Gillis oft rezitativ anmutende Stücke hat, in denen die Handlung vorangetrieben wird.
Ohrwürmer gibt es einige: So bleibt einem das elegische Träume aus Licht in seiner eleganten harmonischen Schlichtheit sofort im Ohr.
Aber auch Gillis Sunset Boulevard, dass seine zwiegespaltenen Emotionen hervorbringt, ist -auch in der deutschen Übersetzung- ein Highlight.
Da ein Stück, das in Hollywood spielt, ein Happy End haben muss, findet das in dieser Tragödie vor der Pause statt, als Joe zu Norma zurückkehrt. Es ist ein erzwungenes Happy End, steht aber einem echten musikalisch in nichts nach: Buchstäblich mit Pauken und Trompeten und einem fantastischen Wumms.
Inszenierung in Baden (Andreas Gergen)
Bühne (Andreas Ivancsics)
Die Bühne besteht im Wesentlichen aus zwei Elementen: Einem durchscheinenden Vorhang, auf den Bilder projiziert werden können. Sowohl davor als auch dahinter spielt sich die Geschichte ab.
Als Projektionen auf eben diesem Vorhang sind zum Beispiel Autos zu sehen, als Joe vor den Gläubigern flieht.
Im Hintergrund gibt es eine Leinwand, die über große Projektionen die Schauplätze aufzeigen: die Paramount Studios innen und außen, die Villa von innen und außen.
Dadurch, dass diese Schauplätze durch den durchscheinenden Vorhang weiterhin zu erkennen sind, auch wenn darauf projiziert wird, schafft eine schöne Tiefe.
Der Orchestergraben ist getarnt als großer Pool, erkennbar an der Einstiegsleiter.
Herzstück der Bühne aber ist die große Treppe, die die komplette Bühne einnimmt, aber auch in der Mitte teilbar ist.

Das Bühnenbild insgesamt hat mich über alle Maße beeindruckt. Sunset Boulevard ist kein leichtes Musical, geht eher in Richtung Psychothriller und die Bühne stützt diese Idee auf wunderbare Weise. Die Villa von Norma Desmond ist nur spärlich mit Requisiten bestückt und wirkt dennoch vom ersten Moment an gruselig. Da gibt es einen Schrein, in dem das Kostüm verwahrt wird, dass Norma am Ende als Salome tragen wird, ein Schreibtisch und ein Sofa. Nicht viel, denn in Normas Leben gibt es ja auch nicht mehr allzu viel. Alles ist düster gehalten und durch fabelhafte Lichtregie zunehmend unheimlich.
Von außen kann man erkennen, dass die Villa schon bessere Tage gesehen hat und auch das ist einem von Anfang an irgendwie unangenehm.
Als Gegensatz ist der Treffpunkt von Joe und Betty ein typisches amerikanisches Diner mit Barhockern und buntem Lichtreklame-Schild.
Kostüm (Christian Floeren)
Im Mittelpunkt der Kostümbetrachtung steht natürlich die Diva Norma Desmond.
Mit dem schwarzen Turban hält man sich relativ nah an das Erscheinungsbild von Broadway-Inszenierung mit Glenn Close. Und ansonsten bietet die Kostümabteilung alles auf, was einer Diva würdig ist.
Figurbetonender Glitzerfummel, Federboa… Norma Desmond sieht aus, wie man sich eine Hollywooddiva eben vorstellt.
Ganz grandios stehen Maya Hakvoort übrigens auch die weißen Haare, mit denen sie mich ein wenig an die Disney-Figur Cruella aus dem Film 101 Dalmatiner erinnert. Fun Fact: Cruella wird gespielt von Glenn Close, die seinerzeit am Broadway die Norma Desmond gab.

Als sie Joe Gillis einkleidet, steckt sie ihn in einen weißen Frack und das gefällt mir besonders gut. In strahlendem Weiß präsentiert er sich wie ihr rettender Engel.
Choreographie (Sabine Arthold)
Die getanzten Choreographien sind klassisch-schwungvoll und fließen in die Musik unter der Leitung von Andjelko Igrec.
Die Größe der Bühne bringt es mit sich, dass Laufstrecken öfter im Kreis gelaufen werden müssen, stört aber gar nicht, sondern unterstützt den Charme des Erzählens sehr.
Über die große Treppe werden viele Szenen erhöht gespielt und stechen dadurch besonders ins Auge.
Sehr schön, wie Betty und Joe erst auf jeweils der linken bzw. der rechten Treppe singen, die sie dann schlussendlich zusammenführt.
Und ich mag es, dass Norma immer den großen Auftritt über die Treppen von der Mitte aus hat.
Sie ist umringt von vier Gestalten, die zum einen die Szenerie stumm begleiten. Dann stehen sie in der Villa als Statuen und ähneln nicht nur zufällig den Oscars, also den Auszeichnungen, die jährlich in einer großen Show, den Academy Awards, vergeben werden und repräsentieren so den Ruhm vergangener Tage.
Zum anderen vertanzen sie auch Abschnittsweise das Schicksal von und mit Salome, das auf wundersame Weise Parallelen zu Norma Desmond offenbart.
Der Einkauf, also wenn Norma Joe neu ausstattet, erinnert an ebengleiche Szene aus Pretty Woman, wo Richard Gere mit Julia Roberts einkaufen geht.
Die größte Macht aber entfaltet die Choreographie, wenn sie bildlich ausdrückt, was offensichtlich ist, so aber nicht angesprochen wird. Das erhellendste Bild entsteht so vor der Pause:
Nachdem Norma sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, kommt Joe zurück zu ihr. Und da formiert sich das ganze Ensemble bildhaft: Norma im Glitzerfummel, Joe ganz in weiß als rettender Engel. Zuschauer/ Publikum, das sie gerne dabei hätte, für das sie lebt (darum finden wir es auch in der Szene, in der sie überlebt) auf der Treppe und im Mittelpunkt dieser ganzen Szenerie steht der unscheinbare Butler Max.
Zwar äußerlich völlig unscheinbar, ist er deshalb der Mittelpunkt dieser Szenerie. Als Regisseur, der diese Szene durch sein Zutun geschaffen hat, ist er der Dreh- und Angelpunkt.

Auch am Ende, nachdem Norma Joe erschossen hat, steht gibt er wieder den Regisseur. Er dirigiert und schafft die Fortsetzung. Er gibt Norma ihren Einsatz, hält ihren – und auch seinen – Traum aufrecht, so dass der Zuschauer ihn als den erkennt, der dieses Drama hauptsächlich verantwortet.
Gedanken
Beeindruckt haben mich mehrere Dinge:
Schon am Anfang hört man Joe Gillis sagen: Gott, wo bin ich? und dieser Satz hat mehr als nur eine Bedeutung. Es ist nicht so sehr die Frage, wohin er sich verfahren hat als viel mehr die in der Voraussicht gestellten Frage: Wo bin ich hier reingeraten? Wie bin ich hierher gekommen, wie konnte es soweit kommen?

Dass sich Texte über Situationen hinweg weiterspannen oder sinn- und bildhaft für etwas anderes erscheinen, kommt häufiger vor.
So singt Norma über die Zeit im Filmstudio: Dieser Wahnsinn jeden morgen, der dem Zauber stets voraus geht… Und das passt auch auf ihre reale Lebenssituation. Auch dem Zauber, den sie sich in ihrer illusorischen Welt erhält, geht der Wahnsinn voran, im wahrsten Sinne des Wortes.
Tragik
Das wahrhaft Tragische an diesem Stück ist die Tatsache, dass Joe sehenden Auges in dieses Drama gerät. Öfter wird das angesprochen: So sagt Joe einmal:
Mit welchem Recht nimmst du Besitz von mir?
Er nimmt Normas Übergriffigkeit explizit wahr, nutzt aber keine Möglichkeiten, sich zu entziehen.
Joe sagt: Ich pflege, selbst über mein Leben zu bestimmen und lässt sich danach von Butler Max aufklären, welche Regeln im Haus gelten, ja, schleicht sich sogar nachts aus dem Haus wie ein Jugendlicher.
Ein anderes Mal vergleicht er seine Situation mit Treibsand, an anderer Stelle singt er, ob das Fallbeil schon bald hernieder geht.
Als Zuschauer sieht man zusammen mit Joe, wie sich das Drama entwickelt und die Katastrophe anbahnt, und daraus entwickelt sich ein Armlehnenkraller. Es entsteht ein Sog, weil es einem als Zuschauer selbst so geht wie Joe: Man muss einfach zusehen, wie das Drama seinen Lauf nimmt. Man hätte Ideen, wie es beendet werden könnte, aber man kann sie nicht nutzen.
Das ist alles atmosphärisch ungeheuer dicht, immer wieder kurz durchbrochen durch Szenen aus einem normalen Leben, die einen zum einen ein wenig Luft holen lassen, zum anderen aber den drohenden Abgrund noch deutlicher vor Augen führt.
Butler, Ehemann, Regisseur
Der Mörder ist immer der Gärtner… in diesem Fall müsste es heißen, der Täter ist der Butler. Max von Mayerling ist der Dirigent der ganzen Geschichte, er ist der Regisseur, wie er es einst war. Es ist das größte Werk des Max von Mayerling. Er hat einen Star geschaffen und er hält ihn hoch. Er schafft seiner geliebten Norma den Traum aus Licht, den sie sich wünscht und ohne den sie glaubt, nicht leben zu können. Die Träume aus Licht, die Norma einst den Zuschauern schenkte, schenkt ihr jetzt Max in anderer Form. Es sind New Ways to Dream (so der englische Originaltitel des Songs). In ihrem Fall wohl weniger Träume aus Licht, eher Träume aus Schein.
Im Endeffekt hängt Max an der großen Zeit genauso wie Norma. Auch er hält den Glamour und den Glanz, die Erinnerung an seine Erfolge und auch ein Stück seiner Ehe mit ihr am Leben, in dem er Norma das ganze Theater vorspielt.
Salome
Norma Desmond möchte wieder zurück ins Rampenlicht und hat dazu das Drehbuch Salome geschrieben.
Salome ist eine biblische Figur des neuen Testaments. Die verführerische Frau führte Herodes Antipas an dessen Geburtstag einen Tanz vor, der Herodes so betörte, dass er ihr die Erfüllung jedes Wunsches in Aussicht stellte. Salome wählte auf Geheiß ihrer Mutter Herodias den Tod des Täufers Johannes, den ihr Herodes aufgrund seines Versprechen nicht verwehren konnte und den Kopf des Johannes auf einem Silbertablett präsentierte.
„Diese sagenumwobene Frau galt speziell […] wahlweise als Inkarnation weiblicher Grausamkeit, aber auch als Modell der Kindfrau und Verkörperung idealer Schönheit und purer Erotik.“ Salome in Wikipedia
Mit dieser Definition öffnen sich einige Parallelen zu Norma Desmond: Norma war wohl in ihrer Vergangenheit und träumt sich noch als eben jene Verkörperung von idealer Schönheit, zudem zeigen sich Parallelen – wenn auch auf anderer Interpretationsebene – zur Kindfrau: eine nicht erwachsene werdende Frau, eine die beständig einem jugendlichen Ideal entsprechen will und die Verantwortung für die Realität ablehnt.
Grausam ist Norma sowohl gegen sich als auch gegen Joe, den sie vollkommen vereinnahmt und ihn jeglicher Freiheit – auch die des Geistes beim Drehbuchschreiben – beraubt. Schließlich findet er den Tod wie Johannes in der Bibel.
Nicht zuletzt handelt die biblische Salome auf Geheiß ihrer Mutter, kann also nicht direkt verantwortlich gemacht werden für ihren Wunsch und so stellt sich die Geschichte der Norma Desmond ebenfalls dar: Max, der Butler, dirigiert dieses Spiel, ihm obliegt die Richtung, in der sich Norma bewegen kann.
Sehr schön wird diese Hintergrundgeschichte in die Inszenierung eingewoben: In den einzelnen Sequenzen erscheint Salome hinter dem durchscheinenden Vorhang und offenbart geschickt die Parallelen der Geschichten. Denn Norma verquickt ihr Schicksal mit diesem Drehbuch über Salome, für sie ist sie die Erfüllung eines Lebenstraumes. Und so hängt das ganze Stück über das Kostüm der Salome in einem Schrein in der Villa: Als Ausblick, als Mahnmal, als Erinnerung.
Rollen und Darsteller
Norma Desmond: Maya Hakvoort

Norma Desmond ist ein Star. Punkt. Jeder, der von dieser Meinung abweicht, wird herrisch zurecht gewiesen. In ihrer Idee – und auch in der von Max – ist und bleibt sie der größte Star überhaupt. Auf den Satz: Sie waren mal groß von Joe antwortet sie mit:
Ich bin groß. Es sind die Filme, die zu klein geworden sind.
Sie ist ein Star, eine Diva. Sie ist exzentrisch und herrisch, überdeckt damit aber zeitweise ihre innere Unsicherheit. Sie versteigt sich immer mehr in ihren Wahn, nochmal aufzutreten. Sie glaubt, ihr würde per se alles zustehen und Sonnengott-gleich werde sie von allen angebetet. Daher duldet sie keinen Widerspruch.
Was ich will, das ist ein MUSS
Bekommt sie doch mal Gegenwind, wird sie panisch, manisch und hysterisch – in dieser Reihenfolge. Doch sie weiß sehr wohl, wie man trickst und manipuliert.
Maya Hakvoort ist ein Star. Punkt. Und niemand wird von dieser Meinung abweichen. Denn das, was sich auf der Badener Bühne abspielt, sind schlicht und einfach Maya Hakvoort-Festspiele.
Mit einer unglaublichen Intensität verkörpert sie diese tragische Figur in allen Facetten. Man kann sich als Zuschauer nicht entscheiden, ob man sie verachten soll, zum Kotzen findet oder schlicht und einfach bemitleiden muss, so facettenreich breitet Maya Hakvoort diesen Charakter auf der Bühne aus.
Man kommt nicht umhin, Joe Gillis die Verantwortung für sein Tun abzusprechen, so sehr versteht man durch Hakvoorts Darstellung, wie wenig Möglichkeiten Gillis bleiben.
Die stolze Diva gibt sie nicht nur in großen Gesten, sondern in ihrer ganzen Haltung, in edler Anmut. Wie sie „sich selbst-bewusst“ schreitet oder mit tänzelnden Schritten sich ganz selbstverständlich im eigenen Haus inszeniert.
Die unsichere einsame Frau blitzt durch in panischem, hysterischen schrillen Ausbrüchen, in denen sie mal gehetzt und mal aus der Tiefe des Körpers wütend erscheint. Lautes Unverständnis bricht aus ihr Heraus, wie ein Löwe verteidigt sie da ihr Ideal gegen alle Irritationen. Irgendwann wird im Stück ihr furienhaftes Starren erwähnt und genau das kann sie.
In der nostalgischen Erinnerung wird sie weich und mädchenhaft, engelsgleich und ungemein zart. So ist das Lied Träume aus Licht eine stimmlich hingegossene zarte Decke, die die Realität tatsächlich für Minuten ausblendet.
Eine wahre Glanzleistung von Maya Hakvoort, die vom hingerissenen Badener Publikum auch wirklich nach jeder Solonummer mit Star-Applaus honoriert wird.
Ich war tief beeindruckt. Es war das erste Mal, dass ich Sunset Boulevard gesehen habe und es hat mich vom erstem Moment an gepackt. Ich habe es geliebt und das ist zum größten Teil Maya Hakvoort zu verdanken. Ich verneige mich.
Joe Gillis: Lukas Perman

Joe Gillis ist ein ein wenig desillusionierter, talentierter aber erfolgloser Drehbuchautor. Leider weiß er mittlerweile sehr genau, wie das Business funktioniert und dass er zunehmend wenig Chancen auf Erfolg hat. Normas Angebot nimmt er zunächst ein wenig widerstrebend aus purer Notwendigkeit, vielleicht auch aus ein bisschen Neugier an. Er erkennt bald, dass das Salome-Drehbuch keine Chance auf Realisation hat, bleibt aber zunächst aus Bequemlichkeit in der Villa, sieht es als Job.
Als die Dinge sich immer weiter in Richtung Wahnsinn entwickeln, versucht Joe einen Ausbruch und verlässt die Villa. Nach seiner Rückkehr aus schlechtem Gewissen hat er keinerlei Handhabe mehr gegen die Frau, begibt sich sehenden Auges in den Wahnsinn, hebt sogar die Trennung von Beruf und Privatleben auf und wird ihr Liebhaber.
Wenn er dann seine Situation reflektiert und auch Betty gegenüber Farbe bekennen muss, erkennt er, wie sehr er sich quasi prostituiert hat. Er war es leid, bettelarm zu sein und so gesehen suchte er in Normas Dunstkreis auch New Ways to Dream beziehungsweise das, was er sich von seinem Beruf (Autor für diese Lichtträume) ohnehin erhofft hat, zu leben.
Seine persönlichen Schlussrechnung gerät so über alle Maßen bitter und enttäuscht, steigert sich in die enorme Wut eines Mannes, der verloren hat. Wie Pfeile schleudert er seine Erkenntnisse aus sich heraus, in völligem Groll gegen sich, der sich natürlich auch zunehmend gegen Norma richtet.
Joe Gillis ist Hauptperson dieses Musicals und zugleich erzählt er seine Geschichte. Aber er bleibt dabei in der Rolle, distanziert sich als Erzähler nicht von der Figur, über die er erzählt. Das gibt der Story eine schöne Durchgängigkeit.
Perman gibt den jungen Autor zunächst ein wenig getrieben, dennoch eher lässig und am Rande der Überheblichkeit. Irgendwo zwischen Desillusionierung und Verzweiflung belässt er den Joe Gillis als eher unverrückbaren Charakter, mehr so ein Kopf durch die Wand-Typ, nicht unsympathisch, aber mit eher groben Charme. Dieser bricht im Laufe der Zusammenarbeit mit Betty hervor.
Wenn er auf Norma trifft, ist er zunächst irritiert, aber es kümmert ihn wenig, bevor er im Laufe der Geschichte zunehmend genervt ist. Das Erstaunliche ist: Er wirkt nicht nur nur genervt von Norma. Perman lässt immer durchblicken, dass dieser Joe Gillis mit sich nicht im Reinen ist, von Anfang an nicht.
Er trifft Entscheidungen, obwohl er merkt, dass sie nicht richtig sind und versteht dann aber selbst nicht, wie er auf diesen falschen Weg kommen konnte.
Herzig, wenn Norma ihn mit dem weißen Frack ausstattet: da steht er da wie ein Schulbub, den man zu Schulbeginn in seinen ersten Anzug gesteckt hat. Und so ähnlich bleibt es auch: immer schwankend zwischen einem Bewusstsein für die Situation und dem Tolerieren von Normas Autorität.
All diese Emotionen und Standpunkte findet man auch in Lukas Permans Gesang, mit dem er zu jedem Zeitpunkt die Lage auf den Punkt bringt.
Betty Schaefer: Dorina Garuci

Betty ist die Normalität. Das, was hätte sein können, wenn Joe nicht Norma gewählt hätte.
Das macht das ganze noch so viel tragischer: Auf der einen Seite entwickelt sich das Psychodrama in der Villa, auf der anderen Seite dagegen beginnen die Dinge außerhalb der Villa für Joe perfekt zu laufen: Er hat mit Betty zunächst eine motivierte und inspirierende Kollegin an seiner Seite und dann verlieben sich beide auch noch ineinander. Dort läuft so etwas wie ein Traum, aber in natürlichem Licht. Und Joe schafft es nicht, sich Norma und ihrer Welt zu entziehen.
Betty ist hübsch und talentiert, jung und tatkräftig. Wer, wenn nicht Dorina Garuci soll so eine Frau spielen! Wie immer gefällt Dorina Garuci mit absolut sauberer Artikulation. Jedes einzelne Wort ist perfekt geformt und betont, ein Hörgenuss der besonderen Art. Aber auch schauspielerisch füllt sie die Rolle perfekt: als junges unbedarftes Mädchen verkörpert sie die Zielstrebigkeit ihrer Figur so mitreißend und selbstverständlich. Das Duett mit Lukas Perman Wir lieben uns schon viel zu sehr entfaltet die Selbstverständlichkeit, mit der sich diese beiden finden müssen und einer Paarharmonie, die im krassen Gegensatz steht und stehen muss zu dem Abhängigkeitsverhältnis zwischen Joe und Norma.
Max, der Butler: Beppo Binder

Neben der exzentrischen und extrovertierten Norma erscheint die Rolle des Max erst einmal klein. Allerdings ist er der zwar nicht der augenscheinliche Träger dieser Geschichte. Er möchte das auch nicht sein, diesen Platz hat Norma inne. So sehen wir ihn stets korrekt zurückhaltend. Er tut alles für Norma.
Wie Topf auf Deckel haben sich die beiden eingerichtet. Sie ist die schillernde, er der zurückhaltende. Sie ist die, die es sich erlaubt, durch alle Gefühlslagen zu toben, während er ruhig das ausgleichende Element ist.
Beppo Binder ist hinreißend in dieser Rolle. Zwar bleibt er dem Typ des dienenden Butler immer verhaftet, aber wenn er singt, dann sprengt er stimmlich dieses Bild:
Kein Star wird jemals größer sein ist voller Liebe und Hingabe. Da ist er nicht mehr Butler, sondern verehrender Regisseur und noch deutlicher liebender Ehemann vergangener Tage. Zärtlich formuliert er in diesem opernhaft-klassischen Lied seine Töne, beinahe vorsichtig, weil er um das fragile Glück seiner Norma weiß.
Binder weiß, Nostalgie in seinen Auftritt zu legen. Ebenso trägt er den Impuls, Norma um jeden Preis zu schützen, quasi in seiner ganzen Haltung immer mit.
Ich schütze diesen Traum mit meinem Leben.
Im Fortgang der Story aber fällt es ihm immer schwerer, Norma zu schützen, das Geheimnis zu bewahren, dass er notgedrungen mit Joe Gillis teilen muss. Zwischen ihm und Norma steht jetzt Joe. Mir war es, als würde Beppo Binder als Max deutlich kraftloser, gebückter, schlurfender.
Fazit
Das Stück war für mich persönlich eine emotionale Achterbahnfahrt von einer Tiefe, die ich selbst nicht erahnt hätte. Mit war der Inhalt und die Tragik darin vorher bekannt, aber dass sich dieses Stück als wahrer Psychothriller entpuppt, ist der Verdienst einer rundum gelungenen Inszenierung von Andreas Gergen, die eine absolut passende Atmosphäre schafft, innerhalb derer die brillanten Darsteller die Tragik ihrer Figuren vollkommen schonungslos offenlegen und so diese Atmosphäre weiter verdichten zu einem Armlehnenkraller.

Wow, kann ich da nur sagen und Gratulation an die Bühne Baden zu diesem fantastischen Meisterwerk.
Noch bis 25.08.2022 im Stadttheater Baden.
Alle nicht anderweitig gekennzeichneten Fotos: Dr. Joachim Schlosser Fotografie
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