Die europäische Uraufführung von Tootsie am Gärtnerplatztheater ist ein Feuerwerk an Theaterkunst: Die Musical-Komödie begeistert durch meisterliche Darsteller mit überbordender Spielfreude in einer Inszenierung, die über die gesamte Zeit immer luftig und lustig daherkommt. Es wurden keine Mühen gescheut hinsichtlich Bühne, Choreographie und Kostüm. Zwischen Screwball-Spaß und Feminismus-Gedanken entsteht so ein Musicalfest der ganz besonderen Art. Für mich das stärkste Stück, das ich dieses Jahr bislang gesehen habe und deshalb eine ganz glasklare Empfehlung!
Tootsie – Das Musical
Das englische Wort Tootsie wird mit einem abwertend gemeinten Schätzchen übersetzt. Im Jahr 1982 erschien ein Film gleichen Namens mit Dustin Hoffmann in der Hauptrolle. Dieser spielte darin einen erfolglosen Schauspieler, der sich als Frau verkleidet und so eine Hauptrolle abräumt, sich aber im Laufe der Zeit irgendwo zwischen den beiden Persönlichkeiten verheddert.
David Yazbek und Robert Horn kreierten daraus ein Musical, dessen Bühnenfassung am 30. September 2018 in Chicago uraufgeführt wurde.
Das Stück ist eine Komödie, die zwar zum Nachdenken anregt, aber niemals mit erhobenem Zeigefinger den Spielspaß unterbindet. Die Figuren werden so liebenswert-skurril dargestellt, dass man zu ihnen sofort eine Verbindung hat. Garniert mit Wortwitz und Esprit entfaltet ist diese Verkleidungskomödie ein wahres Juwel.
Inhalt
Obwohl Michael Dorsey ein guter Schauspieler ist, muss er sich seinen Lebensunterhalt als Kellner verdienen, weil er nirgends ein Engagement bekommt. Jede Produktion und jedes Vorsprechen endet in einem Desaster, denn Michael ist pedantisch, weiß alles besser, hinterfragt Drehbücher und Figuren und legt sich bei jedem Logikloch mit dem Regisseur an. Sogar sein Engagement als Tomate in einem Werbespot gerät zum Fiasko.
Seine beiden Weggefährten Jeff und Sandy sind ähnlich erfolglos: sein guter Freund und WG-Mitbewohner Jeff ist Drehbuchautor ohne jemals ein Drehbuch fertiggestellt zu haben. Seine Exfreundin Sandy ist ebenfalls Schauspielerin und leidet an unterdimensionierten Selbstbewusstsein, wodurch sie von einer Krise in die nächste schlittert. Exfreund Michael ist ihr einziger Vertrauter.
Als sie für ein Casting übt, macht Michael ihr vor, wie sie die Szene spielen soll. Ihr Satz: Sogar eine Frau spielt er besser als ich bringt Michael auf die Idee, sich fortan als Frau zu verkleiden, um für Rollen vorzusprechen. Nachdem auch sein Agent nicht mehr mit ihm zusammen arbeiten will, erfindet Michael Dorsey so sein alter Ego Dorothy Michaels. Er geht zum Vorsprechen für die Rolle der Amme in einem Fortsetzungsmusical von Romeo und Julia – die Rolle, für die Sandy geprobt hat – und wird vom Fleck weg engagiert.
Am ersten Probentag läuft alles, wie Michael es kennt: Es gibt einen cholerischen Regisseur – Ron Carlisle – zu einer haarsträubenden Geschichte , weshalb Michael – diesmal als Dorothy – wieder beginnt, zu intervenieren. Als Frau aber agiert er deutlich besonnener, setzt auf Argumente statt auf lautes Unverständnis und findet in Produzentin Rita eine Unterstützerin seiner Ideen. Da muss auch der Macho-Regisseur klein begeben.
Julie Nichols, die Darstellerin, die die Julia spielt, ist begeistert von Dorothy und ihrer beharrlichen, aber unaufdringlichen Art, für sich und ihr Ideen einzustehen. Während der Probezeit verbringen beide viel Zeit miteinander, werden gute Freundinnen und entwickeln beide Gefühle für den jeweils anderen: Die so entstandene Situation ist hochkomplex, denn Michael muss Julie auf Abstand halten, damit die Lüge nicht auffliegt und Julie muss erst damit klarkommen, dass ihre romantischen Gefühle offensichtlich einer Frau gehören. Zudem muss Julie sich noch gegen die Avancen von Ron Carlisle wehren.
Um auch als Michael bei Julie landen zu können, kommt er auf die glorreiche Idee, die Geheimnisse, die ihm Julie als Dorothy anvertraut hat, zu nutzen. In einer Bar, in der Julie singt, spricht er sie aber derart plump an, dass sie ihm einen Drink ins Gesicht schüttet.
Auf dem Höhepunkt der kreativen Schaffenskraft und Einflussnahe von Dorothy wird aus dem Stück „Julias wahre Flamme“ ein Stück über „Julias wahre Amme“, das große Erfolgsaussichten hat. Dorothy sieht sich schon als Broadwaystar.
Aber dann gesteht auch noch Max – Soapsternchen und untalentierter Hauptdarsteller des Ammen-Musicals – Dorothy seine Liebe, da er unter ihrer Führung darstellerisch über sich hinausgewachsen ist.
Michael sieht jetzt keinen anderen Ausweg mehr und enttarnt seine Lüge bei der Premiere des Stückes. Julie sucht entsetzt das Weite. Michael ist das Stadtgespräch, will aber tatsächlich nur die eine: Julie.
Unterdessen verfällt die von Michael immer wieder belogene Sandy immer weiter dem Pessimismus. Als Jeff und Sandy sich gegenseitig mit ihrer Lebenssituation konfrontieren, erkennen sie, dass sie zusammengehören.
Am Ende sitzt Julie auf einer Bank, auf der sie einst Dorothy von ihrer zerbrochenen Liebe erzählte und fühlt wieder eine zerbrochene Liebe. Michael kommt und erklärt sich ihr. Bevor sich der Vorhang schließt, berühren sich beide in einer zaghaften Annäherung an den Händen.
Musik
Die Ouvertüre und das Eingangslied verortet das Stück in New York und so klingt es auch. Ein bisschen Musical, ein bisschen Hymne, groß und blechlastig, ein bisschen Hollywood-like/ und -light. Und so bleibt es dann auch.
Während das Musical lief, erschien mir zunächst kein Lied so eingängig, dass ich es über den Abend hinaus zu behalten wähnte. Und doch klang das eine oder andere Stück in den Tagen danach doch wieder im Ohr. So ist zum Beispiel Sandys Ich weiß doch, was passieren wird ein Ohrwurm, der die Tradition der absurden Lieder -wie sie auch bayrischer Liedermacher draufhaben- mit des Bossa Nova verbindet. Ron Carlisles Tanzkommandos bieten minimalistischen Sprechgesang zu den Choreografien mit einer wunderbaren Anmutung zwischen Girlgroup-Choreografie und Tanzkurs-Abschlussball.
Das Ammenstück wird in die 50er Jahre verlegt und so hört man dort Reminiszenzen an Musicals dieser Zeit. Insgesamt klingt es aber an vielen Stellen auch frisch und Popmusik-orientiert. Das Stück kommt insgesamt sehr sprechlastig daher, aber jede Hauptfigur hat ihr Solostück.
Mich hat die über weite Strecken starke Rhythmik begeistert, so zum Beispiel bei dem erwähnten Stück von Sandy Ich weiß doch, was passieren wird oder schon zu Beginn bei Michaels Ich knie mich rein.
Am meisten beeindruckt aber haben mich die Texte der Lieder. Wenn man es nicht wüsste, glaubte man, es wäre nicht übersetzt, sondern deutsch getextet. Es holpert nicht, es klingt nicht gestelzt. Da tauchen Worte auf wie Darmspiegelung. Frisch aus dem Leben fallen Sätze wie erzähl mir keinen Scheiß oder du hast es verkackt.
Gedanken zu Lüge und Wahrhaftigkeit
Es ist Michaels großes Anliegen, wahrhaftig zu sein. Da stellt sich die Frage: Wie wahrhaftig kann man in der Lüge überhaupt sein? Für Michael ist diese Lüge eine Möglichkeit, doch noch zum Erfolg zu kommen, aber er sieht das eher als scherzhaftes Spiel, während Mitbewohner Jeff ihm lautstark Lüge, Betrug, Affront… vorwirft. Wie soll Michael so wahrhaftig sein?
Andererseits:
Wahrhaftigkeit bezeichnet das subjektive „Für-wahr-Halten“ der eigenen Aussage in einem konkreten Kontext.
Michael ist nach dieser Definition wahrhaftig, Dorothy auch.
Michael kommt durch die Lüge, durch das Vorspielen falscher Tatsachen zu einer anderen Idee seiner selbst. Das Verhalten mag aufgesetzt sein, die Idee, die dahinter steht aber nicht. Es sind die positiven Eigenschaften, die in Michael angelegt sind, aber nicht gelebt werden und sich erst durch Dorothy bewahrheiten. Insofern macht Dorothy Michael vollständiger. Kompletter. Wahrhaftiger?
Es geht Michael immer zunächst um seine subjektive Wahrheit. Erst im Laufe der Zeit mit Dorothy versteht er, dass Wahrheit nicht für alle gleich ist, dass jeder andere Anliegen, weil auch andere Voraussetzungen und Ideen hat. Unweigerlich fühlte ich mich an mein Lieblingsmusical erinnert, in dem Tim Rice folgende Textzeilen gedichtet hat:
I look for truth
And find that I get damned
Diese Ablehnung seiner Wahrhaftigkeit erfährt Michael hier. Aber weiter:
but what is truth
no easy to define
we both have truth
are yours the same as mine
Im Respekt vor den Mitmenschen und deren Wahrheiten finden sich dann wirklich wahrhaftige Beziehungen.
Ein sehr schönes Detail in meinen Augen ist, dass sich diese Thematik auch in den Namen der beiden Hauptprotagonisten wiederspiegeln. Aus Michael Dorsey wird Dorothy Michaels. Es ändert sich etwas, aber der Grundstock, das Michael bleibt. So wie Michael auch er sehr bleibt, sich nicht viel ändert, nur die Sichtweise. Julie hingegen ist von Anfang an dieselbe, egal ob im Beruf oder Privaten. So heißt sie im Leben Julie und spielt dann in der Produktion die Julia.
M/F/div
Natürlich ist Tootsie, die Geschichte, in der sich ein Mann als Frau verkleidet und damit erfolgreicher ist als er es je wahr, ein Spiel mit den Geschlechtern.
Tootsie entlarvt das überhebliche Gehabe der Machomänner und zeigt die Rolle einer Frau in einer männerdominierten Gesellschaft. Es ist wieder der geniale Jeff, der punktgenau zusammenfasst:
Zitat (nicht wörtlich, sondern aus dem Kopf): „Was hast du davon, dich wie Margret Thatcher zu verkleiden und dabei weniger zu verdienen?“
Es nutzt haufenweise Klischees, aber auf beiden Seiten: der talentlose Soap-Star, der nur auf sein Aussehen reduziert wird und damit Erfolg beim weiblichen Publikum hat; der cholerisch-sexistische Regisseur, der die Übergriffigkeit erfunden zu haben scheint.
Und am Ende ist es natürlich Julie, die den ganzen Geschlechterreigen aufhebt, indem sie reflektiert und feststellt, dass es eigentlich egal ist, dass das Objekt ihrer Begierde eine Frau ist, auch, wenn sie sich darüber zunächst erschrocken hat. Sie nimmt diese Realität auf und arrangiert sich damit, gesteht Dorothy mutig ihre Liebe. Dieser toller Charakterzug lässt schon früh hoffen, das Julie auch mit der aufzudeckenden Lüge klarkommen wird und so braucht diese Stück auch kein lautes und explizites Happy End für die beiden, es reicht stattdessen ein zart angedeutetes.
Verkleidung als Frau
Michael sagt selbst, er kreiert mit Dorothy eine Rolle. Aber das greift zu kurz. Dorothy gibt ihm die Möglichkeit, einen anderen Blick auf sich und auf die Welt zu erlangen. Dorothy erlaubt ihm, nicht immer sofort loszupoltern, sondern einen Schritt nach hinten zu machen, kurz innezuhalten und seine Anliegen anders zu formulieren.
Das Kostüm biete dabei (auch) eine Art Schutzraum, um andere Verhaltensweisen auszutesten, erklärt der Psychologe Professor Dr. Karl-Heinz Renner von der Universität der Bundeswehr München.[1]
„Mithilfe von Kostümen haben wir die Möglichkeit, Facetten zu erproben, die in unserem Alltag zu kurz kommen.“ (Dr. Katja Mierke von der Hochschule Fresenius [1]).
Und: Diese Verkleidung hat aber auch Wirkungen auf unser Empfinden.
So erlaubt es erst die Verkleidung, dass sich Michael öffnen kann, Augen, Ohren und Herz.
Tootsie: Inszenierung am Gärtnerplatztheater (Gil Mehmert)
Die Inszenierung am Gärtnerplatztheater ist so perfekt, dass man es mit Worten nur schwer beschreiben kann. Eine Komödie so rund auf die Bühne zu bringen mit all den Gewerken ist so schwer, aber hier gelingt das leichtfüßig und klar.
Bühne
Tootsie begeistert mit so vielem, und die Bühnenaufbauten stehen dem in nichts nach. Da wird alles aufgeboten, was überhaupt geht! Herzstück ist die Drehbühne, die verschiedene Settings zulässt: eine Kneipe, Straßenfluchten in New York und die Wohnung von Jeff und Michael. Die Gebäude, die sich auf der Drehbühne befinden, können in sich selbst noch einmal gedreht werden und zusätzlich in den Boden versenkt. So muss Michael in seine Wohnung Treppen hinaufsteigen. Wenn er aber angekommen ist, fährt die Konstruktion die Wohnung herunter. Durch diese Dreh- und Hebemechanik ist auch gewährleistet, dass großer Platz geschaffen werden kann, um das Ensemble, das für das Ammen-Musical probt, unterzubringen. Die gesamte Geschichte kann auf diese Weise perfekt durchgängig gespielt werden.
Geniale Einfälle finden sich im großen Setting – die Musicalstory um die Amme sieht man auf der Probenbühne quasi von hinten – und im kleinen: Die Wohnung von Jeff und Michael ist perfekt eingerichtet. Neben dem Schild: Enjoy Poverty ist auch der Schreibtisch perfekt auf seinen Besitzer Jeff abgestimmt. Das ist wirklich einzigartig zu nennen und trägt einen Teil dazu bei, dass die Inszenierung so großartig ist.
Kostüm
Mit dem Kostümen der Dorothy bleibt die Produktion des Gärtnerplatztheaters ganz nah an der Broadway-Version. Dorothy ist eine konservativ gekleidete Frau mittleren Alters mit 80er-Jahre-Frisur. Die Kleider sind keine modischen Highlights, sie wirkt durchweg wie eine mütterliche Freundin. Ein wenig altbacken, erinnert man sich unweigerlich an Mrs. Doubtfire und tatsächlich fällt diese Reminiszenz auch wörtlich.
Auch Sandy ist mit ihren Locken und dem Outfit ein Stück weit in den 80ern geparkt worden.
Ron Carlisle, der Regisseur tritt auf und schon in der ersten Sekunde ist sichtbar, an wen da gedacht wurde: Perücke, Brille, Auftreten: die Inszenierung erlaubt sich die geniale Unverschämtheit, das Musical insofern in die Realität zu holen, als dass dieser cholerisch-sexistische Regisseur aussieht wie Dieter Wedel. Der deutsche Erfolgsregisseur gilt als cholerischer Charakter, zudem wird ihm wiederholt Übergriffigkeit dem anderen Geschlecht gegenüber vorgeworfen. In meinen Augen eine perfekte Wahl!
Der freischaffende/ nichts schaffende Autor Jeff, der in der Broadway-Inszenierung sehr nerdig wirkt, aber eher in die alternative Richtung mit Holzfällerhemd geht, ist hier ein Hipster-Nerd mit außergewöhnlichem Ziegenbart und Man-bun, der statt Holzfäller- ein Motivhemd trägt. Die ohnehin geniale Nebenfigur wird dadurch noch ein wenig mehr liebenswert-individualistisch.
Da das Ammenstück in die 50er Jahre verlegt wurde, bietet das die Möglichkeit für ganz zarte Petticoat-angelehnte Kleider im Tanzensemble.
Choreographie
Die Choreographie geht mit dem perfekten Bühnenbild Hand in Hand und schafft klare Bilder, die das Ensemble wunderbar aufnimmt. Zur Choreographie gehören auch die perfekt getimten Slapstick-Momente. Etwa jene, wenn sich Sandy locker macht, bevor sie mit Michael eine Szene übt oder wenn der Michaels Agent Stan hinter sein Geheimnis kommt und nochmal langsam die die Tür zum Apartment öffnet. Hier sind auch Soundeffekte köstlich eingesetzt.
Ohne Zweifel zu den besten Szenen gehören die, in denen Ron Carlisle seinen Tänzerinnen und Tänzern vortanzt. Herrlich!
Orchester
Präsentiert wird die durchwegs eingängige Musik von einem, wenn nicht dem besten Musical-Orchester hierzulande. Ich höre dem Orchester des Gärtnerplatztheaters einfach gerne zu und bin mir sicher, es bei einer Blindverkostung/ Blindver„hörung“ wieder zu erkennen, so prägnant sind die Musiker. Vor allem die Instrumentierung mit vielen Blechbläsern präsentieren das Stück überzeugend und schmissig. Die Lieder bleiben trotz ihrer starken starke Rhythmik immer im Fluss und sowohl die Revue-Nummern als auch die Screwball-Nummern haben so richtig Wumms. Die eher ruhigen Solostücke sind solide und doch zurückhaltend gestützt, um den Sängern den Raum zu lassen, so etwa Michael’s Wehklagen vor der Premiere. Großartig!
Die Charakter der Figuren und ihre Darsteller
Michael Dorsey/ Dorothy Michaels: Armin Kahl
Michael Dorsey ist anstrengend. Er möchte wahrhaftig sein, und erwartet, das jeder Schaffensprozess auf seine kreativen Ideen gewartet hat. Der Sturkopf hinterfragt alles und jeden, will es dabei aber halt einfach nur richtig machen. Er beschäftigt sich mit seinen Figuren und hat auch wertvollen Input, aber nicht das Feingefühl, an den richtigen Stellen und vor allem auf die richtige Art und Weise zu intervenieren. Er steht sich und seinem großen Traum, ein ernsthafter und ernst genommener Schauspieler zu sein, im Weg.
Sein alter Ego Dorothy kann diese Besserwisserei nicht ablegen, wohl aber in geordnete Bahnen lenken. Als Dorothy sieht Michael die Menschen um ihn tatsächlich anders, ja sieht er sie zum ersten Mal überhaupt. Und er sieht sich inmitten dieser Menschen, als Teil, und nicht als persönlich beleidigtes Individuum. So gerät schon sein erstes Zusammentreffen als Dorothy mit Ron Carlisle erstaunlich beeindruckend, wenn er auf die Situation der Schauspieler in Castings aufmerksam macht. Da fragt auch Rita: Meinen sie das ernst oder ist das ihr Vorsprechtext? Passenderweise heißt der Song, den Dorothy im Casting performen muss dann auch Ich bin für euch da.
Dorothy knüpft andere Beziehungen, als Michael es tut. Michaels Beziehungen bestehen aus Gewohnheit und praktischem Denken, vernachlässigen Dinge wie Respekt und Verlässlichkeit. Dorothy steht zu sich und ihren Ideen, begreift aber schnell, dass man allein auf verlorenem Feld steht.
Armin Kahl liefert eine Meisterleistung sowohl als Michael und natürlich in besonderem Maße als Dorothy. Dass er sich in hohen Schuhen und im Kleid perfekt präsentieren kann, weiß man seit „Priscilla.“ Das hier hat aber noch eine andere Qualität:
Er spielt sein großartiges Talent, das ihn – auch wieder einmal in dieser Produktion offensichtlich – einmal mehr in der Top-Liga der Musicaldarsteller im deutschsprachigen Raum verortet, vollkommen aus. Beeindruckend, wie er das permanentes Sprechen mit hoher Stimme meistert und gerade im Part der Dorothy auch stimmlich mit der Gratwanderung zwischen Screwball-Comedy und den wahrhaften Momenten brilliert.
Am meisten beeindruckt haben mich die Momente, in denen Michael sich seiner Rolle als Dorothy durchaus bewusst ist. Er bleibt er, aber Dorothy ermöglicht ihm eine Reflexion der Situation, die Michael nie hatte. Armin Kahl macht das immer sehr sichtbar. Bevor Dorothy spricht sind da immer die kleinen Pausen, das „was würde eine selbstbestimmte Frau jetzt sagen?“ Diese Momente sind überaus wertvoll. Sie verdeutlichen mir, dass das, was Dorothy möglich macht, schon in Michael angelegt ist. Dorothy ist eine Hilfe für Michael, genau zu differenzieren, was er will, wofür er überhaupt einsteht, dabei aber respektvoll sich und den anderen über bleiben kann. Dorothy bringt Michael zu einer Vollständigkeit, die er ohne sie nie erreicht hätte. Und genau das kostet Armin Kahl aus und transportiert so das Stück auf eine Ebene, wo das reine Lustspiel verlassen wird und die Tiefe der Figuren sichtbar werden kann.
Es ist einfach etwas so Besonderes, wenn einen eine Darstellung so erfasst wie mich Armin Kahl in dieser Rolle. So eine präzise Zeichnung des Charakters, so authentisch im Schauspiel und dann noch diese wahre Meisterleistung mit der Stimme! Uneingeschränkte Bewunderung!
Julie Nichols: Bettina Mönch
Julie ist die Hauptdarstellerin des Musicals Julias wahre Amme und eine Frau, die durch und durch in der Realität lebt und sich auf der Suche nach ihrem Platz im Leben mit ihr arrangiert. Zwar ist auch ihr Traum die Schauspielerei und hier sind sich Julie und Michael durchaus ähnlich. Aber während Michael das sehr idealistisch angeht, ist Julie deutlich reflektierter und spielt das Spiel mit, der Tatsache gewahr, dass sie sie dadurch einiges aufgeben muss. Ihr Lied John war da erzählt davon.
Sie ist ganz berührt von Dorothys gelungener Gratwanderung: sich in die Produktion einfügen und gleichzeitig aber mit Geschick die Produktion so zu verändern, damit sie sich nicht verbiegen muss und hinter dem stehen kann, was da aufgeführt wird.
Bettina Mönch gibt eine Julie, die man mögen muss. Mit großer Spielfreude und ebensolcher Stimme wandelt sie als augenscheinlicher Sympathieträger mühelos zwischen den großen Bühnenauftritten im Petticoat und der verletzlichen Seele in der Latzhose, um kurz darauf den Vamp im Club zu geben.
Sandy Lester: Julia Sturzlbaum
Sandy ist Michaels Exfreundin. Obwohl sie nicht mehr zusammen sind, ist Michael Sandys einziger Vertrauter, von dem sie heimlich hofft, dass er zu ihr zurückkommt.
Außerdem ist Sandy das personifizierte Drama. Nichts klappt in ihrem Leben, an jeder Ecke sieht sie ein Unglück auf sich zukommen, dem sie mit ausufernder Theatralik begegnet. Weder ihre Schauspielkarriere bekommt sie in den Griff noch ihr Privatleben.
So bleibt Michael ihr einziger Vertrauter, der ihr aber nur die Aufmerksamkeit einer losen Freundschaft zukommen lässt. Sandy ist ein Kämpfer. Während Jeff das Leben fließen lässt und und irgendwie nur zusieht, stürzt sich Sandy mittenrein, und versucht, die Oberhand zu behalten. Sie kann nicht innehalten, sich nicht auf ihre Stärken besinnen und rast von einer Katastrophe zur nächsten. Aber am Ende erkennt sie, dass ihr einziger Halt Michael sie eben nicht hält, sondern sie Jeffs sie erden kann.
Julia Sturzlbaum ist eine Ein-Frau-Screwball-Komödie! Trotz eines überragenden Gesamtensembles und eines preiswürdigen Armin Kahl reißt Julia Sturzlbaum diese Inszenierung an sich, dass man als Zuschauer außer Atem gerät. Man findet gar keine Worte für das, was man da an Feuerwerk auf der Bühne sieht.
Ich weiß doch, was passieren wird ist ein Stück, dass eine wahnsinnige Singgeschwindigkeit und eine perfektes Timing verlangt und Julia Sturzlbaum ist so grandios darin und so bezaubernd. Mit dieser Vielzahl an Silben kommt sie derart gut zurecht, dass man als Zuschauer mit hören mehr überfordert ist als sie mit Singen. Sie gestaltet die Sandy in ihrer liebenswerten Hysterie so bemitleidenswert und dabei sehr anrührend. Ihre Mimik und ist groß, aber nicht platt. Immer leicht drüber, aber so ist diese Figur, so ist Sandy. Das ist einfach nur komisch und dabei gewinnt sie sofort die Herzen der Zuschauer. Sie spielt mit vollem Körpereinsatz, kugelt auf dem Boden, die Arme sind in übergroßer Gestik ständig in Bewegung. Ihre perfekte Theatralik reicht bis in die weit aufgerissenen Kulleraugen und die lockigen Haarspitzen. Wann immer sie die Bühne betritt, nimmt die ohnehin temporeiche Inszenierung nochmal an Fahrt auf und das honoriert das Publikum immer wieder mit vollkommen berechtigtem Szenenapplaus.
Jeff Slater: Gunnar Frietsch
Jeff bildet mit Michael zusammen eine WG. Der Lebenskünstler ist ein außerordentlich scharfer Beobachter seiner Umgebung. Jede Situation beschreibt er treffend mit einem Satz, seine Ratschläge sind kurz und prägnant, seine Formulierungen geschliffen und treffend. Und doch ist er Michael sehr ähnlich: Trotz seiner immer präsenten Genialität ist er wenig erfolgreich. Er erscheint sehr nerdig, man hat das Gefühl, dass er immer dabei ist, den Anschluss an das wirkliche Leben zu verpassen. Er wirkt wie ein Zuschauer aufs Leben, das er beständig versucht, in ein Drehbuch zu gießen.
Wo Sandy ohne Anker vom Leben immer überrascht und mitgerissen scheint, so hat Jeff keinen Anker, um sich überhaupt ins Leben einzuklinken. Obwohl so viel ruhiger, macht diese Figur ähnlich Spaß wie die der Sandy und man freut sich von Herzen, dass diese beiden Charaktere sich finden. Gunnar Frietsch ist als schräger Mitbewohner neben Sturzlbaum der heimliche Star der Inszenierung und liefert die literarischen Momente. Es sind die kleinen Gesten von Gunnar Frietsch, die diesen Charakter so wirken lassen. Die Art, wie er da auf seinem 80er Jahre Jugendbürostuhl sitzt und wie er schaut, während er seine Mic-Drop-Kommentare abliefert, ist einfach wunderbar anzusehen. Er nimmt diese Person in diesem Kostüm und und in dieser Maske perfekt auf. Ebenfalls meisterlich!
Max Van Horn: Daniel Gutmann
Max, das Soap-Opera-Sternchen, ist der einzige im Bunde, der sich vollkommen talentlos zeigt und nur aufgrund optischer Vorteile große Erfolge aufweisen kann. Und auch er findet in Dorothy etwas, was ihm bis jetzt fehlte: den Tiefgang, die Ablösung von der reinen Optik. Er erwähnt das auch mal:
Max zu Dorothy: Wissen sie, was ich mir wünsche?
Dorothy: Talent?
Max: Nein, Respekt.
Dass Dorothy sich Mühe gibt, ihm zu helfen, zeigt ihm, dass sie in ihm mehr sieht als den ständig präsentierten Adonis-Körper. Dadurch wird er vollständiger, wahrhaftiger und verliert sein Herz an Dorothy.
Hinreißend diese Darstellung des Max durch Daniel Gutmann! Der Max ist eine erfrischende Rolle, die zu Beginn schon gezielt klischeehaft-platt angelegt ist und einen immer wieder mit ein bisschen Fremdscham-Gefühl konfrontiert. So auch, wenn er in Michaels Wohnung auftaucht und sein brustgroßes Dorothy-Tattoo präsentiert.
Man nimmt Daniel Gutmann den tumben Max Van Horn wirklich ab, und das alleine ist schon eine Leistung. Die Kombination aus der Darstellung des ziemlich schlichten Stars zusammen mit seinem opernhaften Gesang, mit der er an italienische Helden-Opern erinnert, macht aus der Rolle einen echten Hingucker. Und trotzdem schafft es Gutmann, diesen Max nicht komplett der Lächerlichkeit preiszugeben, weil er – um beim Stück zu bleiben – eine Wahrhaftigkeit in die Rolle legt. Dieser Max ist zwar schlicht, aber ehrlich.
Ron Carlisle: Alexander Franzen
Der Regisseur Ron Carlisle ist ein überheblicher Kotzbrocken, der per se alle Frauen abwertend Schätzchen nennt. Er ist cholerisch, selbstherrlich, von sich selbst überzeugt. Als Machtmensch ist sein Führungsstil am ehesten mit dem Wort Diktatur zu umschreiben. Sein sexistisches Verhalten wird von keinem sanktioniert, Übergriffigkeit ist an der Tagesordnung.
Spannenderweise wird diesem Machtmensch aber in der Figur der Produzentin eine weibliche Figur vor die Nase gesetzt. Ausgerechnet der, der so überhaupt keinen Respekt vor Frauen hat, muss sich so einer höheren weiblichen Instanz beugen. Damit muss er sich charakterlich ähnlich verbiegen, leidet seine „Wahrhaftigkeit“ ähnlich wie die seiner Schauspieler erwartet. Denn ihm entgleitet sein Stück in ähnlicher Weise wie Michael die Kontrolle über die Situation um Dorothy verliert. So liegt er dann beim Psychiater unterm Bildnis von Siegmund Freud, dem Begründer der berühmten Persönlichkeitstheorie von Ich, Es und Über-Ich.
Eine Galavorstellung von Alexander Franzen! Mit Locken-Perücke und Brille so gut wie nicht als er selbst, wohl aber als Dieter Wedel zu erkennen, weiß man aber ab seinem ersten Satz, mit wem man es zu tun hat, denn Alexander Franzen hat schon im Sprechen eine unglaublich einnehmende Stimme und eine besondere Art, seine Worte nachklingen zu lassen. Er vermag es, jedem Satz ein definiertes Wesen mitzugeben.
Der Garant für exzellentes Rollenspiel verleiht dem Ron Carlisle eine ähnliche Theatralik wie Sturzlbaum ihrer Sandy. Und obwohl Ron Sandy ja mehrfach ablehnt, sind sich die beiden Figuren dadurch näher, als es zunächst scheint.
Franzen gibt mit ganzem Körpereinsatz den Choleriker, der von sich selbst über alle Maßen überzeugt ist. Dabei moduliert er mit der Stimme durch alle Zustände der Wut und des Ärgers, holt alle Gefühle tief aus dem ganzen Körper. Den setzt er auch ein, wenn Ron Carlisle seinem Tanzensemble die Choreographie vortanzt. Das ist einfach eine Offenbarung.
Rita Marshall: Dagmar Hellberg
Dagmar Hellberg in der Rolle als Rita Marshall spielt sich selbst: eine Grand Dame im Theaterbetrieb. Und sie macht es großartig!
Mit Verve gibt sie die abgebrühte Produzentin, einerseits Feministin, andererseits auch einfach Geschäftsfrau. Mit hervorragender Sprechkultur und Präsenz macht Dagmar Hellberg klar, dass Tootsie nicht zuletzt ein Manifest für Weiblichkeit im Theaterbetrieb ist.
Stan Fields: Erwin Windegger
Der immer großartige Erwin Windegger hat als Agent Stan Fields nicht viele Gelegenheiten, seiner Rolle Tiefe zu verleihen, und schafft er es dennoch. Dieser Agent ist ebenso gnadenlos wie schmierig. Die sehr ehrliche Szene , in der er Michael bescheinigt: keiner will dich und ihm die Leviten liest, ist ja eine der zwei überhaupt auslösenden Momente für Michaels Wandlung zu Dorothy, und Windegger schafft es, diesen Moment intensiv zu gestalten. Später, als er in der Wohnung dann Dorothy entdeckt und entlarvt, hat Stan noch seinen Screwball-Moment. Hervorragendes Ensemble-Spiel.
Ensemble
Ein ganz großes auch an das wirklich glanzvolle Ensemble, das ebenfalls in jeder Sekunde gefällt. Zu erwähnen auf alle Fälle das Casting, in dem die beiden Darstellerinnen so wundervoll daneben singen, dass es eine Freude ist! Alle fügen sich miteinander und schaffen zusammen dieses großartige Stück!
Fazit
Wie sagt Julie zu Dorothy? Musicals sind wie Babys: Es macht Spaß, sie zu machen, aber nicht jeder sollte eins zur Welt bringen.
Das Gärtnerplatztheater sollte bitte niemals aufhören, Musicals zu machen! Tootsie als europäische Uraufführung setzt Maßstäbe in Sachen Musicalkomödie. Die Inszenierung ist über alle Maßen komisch, luftig, bisweilen skurril, ohne dabei platt zu wirken oder eine klare Botschaft vermissen zu lassen. Allerdings steht eindeutig der Spaß im Vordergrund und wer mal wieder so richtig ausgelassen lachen möchte, dem möchte ich dieses Meisterwerk ans Herz legen. Die Darsteller sind in ihrer Gesamtheit überwältigend gut, das Timing perfekt, als bitte: unbedingt anschauen!
Alle Fotos Dr. Joachim Schlosser Fotografie
- Ulrike Weber-Fina: Die Psychologie der Verkleidung ↩
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