Die Vereinigten Bühnen Wien nahmen auch dieses Jahr eine beliebte Ostertradition wieder auf: Für zehn Vorstellungen wird Jesus Christ Superstar in semikonzertanter Form gezeigt. Musical-Superstar Drew Sarich zeigt einmal mehr sein außergewöhnliches, ja beinahe unbeschreibliches Sanges- und Schauspieltalent als Jesus in einer Inszenierung, die so schon nahezu unverändert zum dritten Mal in Folge zu sehen ist.
Jesus Christ Superstar – ein Klassiker zu Ostern
Jesus Christ Superstar behandelt die Geschichte der letzten sieben Tage in Jesu Leben. Erzählt werden die Ereignisse aus der Sicht des Judas Iskariot, dem Freund und Jünger, der Jesus später an die Hohepriester verraten wird.
Das Stück war ursprünglich ein reines Konzeptalbum, erst später wurde es als Musical – eigentlich Rockoper – auf die Bühne gebracht.
Jesus Christ Superstar ist ein vollkommen zeitloses Stück und erzählt die Geschichte Jesus nahezu ohne religiösen Überbau. Dabei resoniert es immer auch mit dem Zuschauer, weil es durch Judas die Frage aufwirft: Wie weit wirst du gehen für deine Ideale? Und wie überprüfst du, ob du noch auf deinem Weg bist? So ist Jesus Christ Superstar ein sehr geniales Stück Musiktheater, das du als Zuschauer anschaust und es dabei in bewegender Weise in dich hinein zurückschaut.
Inszenierung: Alex Balga
Ich weiß ja nicht, wie es dem geneigten Publikum ging, doch ich war schon etwas enttäuscht, als ich einige Tage vor der Premiere die ersten Pressefotos der Produktion sah: Dass Alex Balga wieder Regie führen würde wie schon in den Jahren 2018 und 2019 , war klar. Dass es sich aber bis auf Kleinigkeiten um die exakt gleiche Produktion handeln würde, hat mich schon ein wenig, hmmm, zumindest irritiert. Ich sah die Freude, Neues zu sehen, schwinden bei gleichzeitig wachsender Sorge, dass bei immer gleicher Inszenierung Abnutzungserscheinung entstehen. Andererseits ist diese Inszenierung wegweisend, quasi aus-choreographiert, quasi perfekt. Durch die Änderungen in der Besetzungsliste kann darüber hinaus eine gewisse Lebendigkeit erhalten bleiben.
Für die Darsteller, die neu dazukommen, ist es aber schon ein hartes Unterfangen, in große Vorgänger-Fußstapfen zu treten. Aber das Wiener Publikum ist fair genug, jedem seine Chance zu geben. So war auch dieses Jahr die Qualität beinahe uneinholbar hoch.
Tatsächlich war Jesus Christ Superstar genauso herausragend in allen Gewerken, wie schon in den Jahren zuvor an gleicher Stelle. Ein grandioses Stück unter bester Regie mit einer Traumcast: Stehender, nicht enden wollender Applaus zeugen von einem grandiosen Musicalereignis.
Bühne, Choreographie, Kostüme
Das spannende einer Inszenierung in semikonzertanter Form ist, dass alle 40 Musiker auf der Bühne Platz nehmen und das Stück als Gesamtkunstwerk offen wahrnehmbar ist. Ganz banal schränkt es aber auch den Platz für die Darsteller extrem ein. Um zusätzliche Laufwege zu ermöglichen, gibt es zwischen den klassischen Orchesterinstrumenten sowie Schlagwerk und Gitarren mittig ein Weg von links nach rechts, der höher gelegen ist als der Bühnenrand. Von dort führt ebenfalls ein Weg über mehrere Treppenstufen nach vorne auf die freie Bühnenfläche. Gerade die Treppe bleibt ein wichtiges Element, um bestimmte Szenen ins Blickfeld zu holen.
Den Hintergrund bildet eine riesige Leinwand (Videodesign: Sam Madwar) auf die je nach Ort oder Handlung unterstützende Bilder eingeblendet werden, zum Beispiel eines des modernen nächtlichen Jerusalems.
Wenn Judas bei den Hohepriestern Jesus’ Aufenthaltsort verrät, wird dort schon bedrohlich das Gerüst samt Haken eingeblendet, an dem sich Judas später erhängen wird. Darüberhinaus werden immer wieder mit der Handkamera eingefangene Livebilder im Großformat eingeblendet, so etwa die Verhaftung Jesus wie in einem Nachrichtenblock. Schockierend dann am Ende, wenn man den blutig geschlagenen Jesus dort in voller Größe sehen muss.
Zu Beginn, wenn alle Darsteller auf der Bühne stehen, erkennt man das Kostümkonzept: Dieses Jahr sind alle in Beigetönen gekleidet (Kostüme: Nicole Panagl).
Zur optisch besseren Unterscheidung, sei es aus der Ferne oder einfach für diejenigen, die die Ensemblemitglieder nicht auseinanderhalten können, sticht Peter heraus durch ein weißes Stirnband. Simon, der Zelot und Revoluzzer trägt eine Lederjacke und ein rotes Halstuch.
Das Ensemble in den beigen Farben wirkt einerseits hell, erleuchtet, wie die Jünger von der guten Seite eben. Andererseits, wenn sie in Simons Lied die Gewehre auspacken, erinnern sie auch ein wenig an die Sturmtruppler von der dunklen Seite der Macht. Das ist so ein bisschen das Spiel mit Gut und Böse, was später in der Figur des Judas dieses Jahr genial fortgeführt wird (siehe unten). Dieser ist zunächst tarnfarben unterwegs. Auffallend sind die wasserstoffblonden Haare. Bei Superstar ist er ganz in schwarz gekleidet und trägt weiße Engelsflügel und eine Sonnenbrille.
Orchester
Jesus Christ Superstar wurde ursprünglich nur als Musikalbum veröffentlicht: Die Musik steht eindeutig im Mittelpunkt. Und so eröffnet Gitarrist Harry Peller mit genialem Intro die Show.
Auf der Bühne finden alle 44 Musiker samt Dirigent Herbert Pichler Platz. Das ist wohl der Fakt, den das Publikum neben der Tatsache, dass Drew Sarich auf der Bühne steht, wohl am meisten honoriert: Die hohe Zahl der Livemusiker und der schöne Umstand, dass man diese in der Fülle auch zu sehen bekommt.
Schlagzeuger Christian Ziegelwanger zum Beispiel ist spielend so eine Wucht, dass es eine Schande wäre, ihn im Orchestergraben zu verstecken. Seine Trommelschläge sind einnehmend auf den Punkt gebracht. Besonders bei Poor Jerusalem hört man das eindrucksvoll: diese kurzen Sequenzen, die er da beisteuert, klingen wie unheilvolle Schläge und nehmen so das Jesus Schicksal vorweg.
Die Gitarrensoli sind rockig, das Schlagwerk perfekt, die Bläser mit den passenden Akzenten, die Streicher mit ungeheurer Dynamik und einnehmenden Klangteppich, wunderbar zart ab Jesus’ Tod am Kreuz.
Dirigent Herbert Pichler hat sein Orchester hammermäßig im Griff und traut sich tatsächlich auch an die Lautstärke. Ich muss es noch einmal betonen: Es ist wirklich außergewöhnlich, ein Orchester auf diesem Niveau in dieser Zahl so auf einer Bühne zu erleben. Herzlichen Dank dafür.
Zur Interpretation und Wirkung
Jesus Christ Superstar wirkt. Wirkt immer anders. Wirkt immer tief. Was mir aber aufgefallen ist: Es macht im Raimundtheater einen wirklich großen Unterschied, von wo aus man das Stück sieht.
Der Platz in der 2. Reihe war da die deutlich schlechtere Wahl. Sicher: Als Fan ist das was besonderes, wenn man die Mimik der Darsteller so genau vor sich hat. Es geht ans Herz, wenn man sieht, wie feucht Nienke Lattens Augen werden, wenn Jesus tot ist.
Doch ist der Gesamteindruck von dort nicht so intensiv, wie er sein könnte. Der Bühnenrand ist immens hoch, so dass man immer nach oben schauen muss. Die Choreographie wirkt überhaupt nicht, es sieht aus wie wildes Durcheinanderlaufen. Man bekommt so viel weniger das Gefühl der Panik vermittelt, wenn Jesus von den Leidenden bedrängt wird: Kurz: die vorderen Plätze nehmen einiges an emotionaler Dynamik raus.
Ich habe vor kurzem eine Kritik gelesen, in der der Rezensent kein rundes Bild der Inszenierung bekommen hat, und ich verstehe sogar, warum. Es bleiben grandiose Darsteller und wahnsinnige Gesangskünste. Aber das große Ganze bleibt weniger intensiv.
Ich habe das Stück vom 2. Rang aus nochmal gesehen: Viel besser. Das war unfassbar, wie anders das Stück von da oben wirkt. Zum erstem Mal in meiner langen JCS-Karriere hab ich bei Gethsemane geweint. Von da oben wirkt das so hart, denn Jesus singt diese innere Auseinandersetzung mit sich selbst ja an Gott gewandt und hat so also immer den Blick nach oben gerichtet.
Auch am Ende, wenn sich das Ensemble um das Grabtuch versammelt, richtet sich der Blick aller noch einmal fragend nach oben und nehmen so Judas Fragen – allerdings eher leidend und nicht aggressiv wieder auf: War es das wert? Hier hat sich für mich das Stück nochmals ganz anders gerundet.
Wenn du dich dadurch im Mittelpunkt des Geschehens wiederfindest, wirkt das um Dimensionen wuchtiger. Die Choreographien bestechen ganz anders und nicht zuletzt: Der Sound ist ganz oben auch noch perfekt. Deshalb: Augen auf beim Ticketkauf, vielleicht eine Anregung für das (hoffentlich) nächste Mal.
Deshalb: für mich war das ein perfektes Erlebnis. Ich war ganz nah an den Darstellern und ihrer Mimik, ihrem Spiel. Und ich konnte alles von oben verfolgen, mir hat sich die Choreographie erschlossen und ich habe ein eindrucksvolles Bild des Gesamten bekommen.
Insgesamt war es mit das Beste, was ich je gesehen habe. Das Ensemble hat großartig zusammengespielt, und das macht es so fabelhaft. Denn das schöne am Musiktheater ist, egal, wie oft du es siehst, es ist immer anders. Jeder Darsteller bringt seine eigene Darstellerseele mit und es ist immer wieder erhebend, zu sehen, wie sich ein Ensemble zusammenspielt zu so etwas großartigem Ganzen:
Die Rollen und ihre Darsteller
Jesus: Drew Sarich
Seien wir ehrlich: Der Grund, warum diese Konzertreihe so beliebt und auch dieses Jahr ausverkauft ist, ist Drew Sarich. Der Darsteller hat eine unnachahmliche Art, diesen Jesus lebendig zu machen in so vielen Facetten. Er formt aus den biblischen Stereotypen, die über Jesus bekannt sind, eine so wunderbare vollständige Persönlichkeit. Drew singt und schreit, er gibt sich ganz der Begeisterung seiner Jünger hin, um postwendend darüber zu verzweifeln. Es ist ein Jesus, der im wahrsten Sinne des Wortes unter den Menschen lebt, bevor er für sie stirbt.
Niemand holt das Publikum so hinein in das Wirken dieses möglicherweise berühmtesten Menschen der Weltgeschichte. Das Publikum liebt Drew Sarich in dieser Rolle und Drew Sarich gibt dem Publikum, was es möchte: Eine rundherum perfekte Darstellung mit Tönen, die vermutlich nur er in dieser Qualität singen kann. Eine Darstellung, die so weit über das übliche Maß an Schauspiel hinausgeht, sondern eher seine besondere, persönliche Hingabe an die Rolle ist. Das ist magisch, dabei zu zusehen. Die stehenden Ovationen nach dem Gethsemane sind schon obligatorisch und Ausdruck dessen, was Drew Sarich im Publikum auslösen kann. Es erfasst die Zuschauer ganzheitlich, das ist offensichtlich und spürbar, wenn man inmitten der Zuschauer sitzt.
Drews Jesus ist ein freundlicher Mann, den Menschen zugetan, wohlwollend. Wenn er predigt, wirkt er nicht belehrend, sondern einnehmend, annehmend. Er ist ganz Mensch, wenn er die Menge betrachtet und still in sich hinein lächelt ob der Begeisterung. Geschickt steigert er das immer weiter, bis er sich schließlich diebisch freut, es gar nicht fassen kann, was er da in Gang gesetzt hat.
Vom kräftigen Gethsemane meist in den Schatten gestellt, gelingt Poor Jerusalem. Da entfaltet sich in ernüchternder Ruhe mit viel Wehmut, viel Schmerz, viel Trauer eine grausam Wahrheit. Es ist das, was spiegelnd dem Gethsemane selbst vorausgeht: die noch fernere und deswegen noch nicht so aufwühlende, wohl aber ähnlich erschreckende Idee dessen, was geschehen muss.
Jesus rückt darin Simons Machtidee gerade und in seinem understand what power isist so viel Milde, so eine Sanftheit. Unbeschreiblich, wie Drew als Jesus diese Idee von einer gewaltlosen Macht/ Kraft vertonen kann und dabei allein stimmlich Macht/ Gewalt in Simons Welt infrage stellt. Das bereitet mir persönlich Gänsehaut.
Sein Gethsemane ist das Beste unter dem Besten, was es im Musiktheaterbereich zu hören und zu sehen gibt. Es ist alles aus einem Guss, Drew singt das nicht, er betet es. Und Gebet ist hier zu verstehen als ein Dialog im Inneren, ein Ausloten seines eigenen Selbst.
Zu Beginn bemerkt man seine tiefe Einsamkeit, weil niemand da ist, der ihm folgen kann oder will. Das korrespondiert mit der Szene mit Maria Magdalena, in der er sie alleine zurücklässt und selbst versteht, dass sie ihm außer gutgemeinten Phrasen nichts bieten kann (siehe Maria Magdalena).
So fragt er: „Will none of you stay awake with me?“ Die drei Namen: Peter, John, James – so leise, so milde, so bittend. Und noch einmal, aber diesmal die Antwort stimmlich mit Wehmut und Schmerz vorwegnehmend. Ab diesem Zeitpunkt ist auf sich allein gestellt und – der Kreis schließt sich – wird auch alleine sterben.
Sein Gethsemane ist leidend und dabei kraftvoll wie immer. Und doch hört es sich auch dieses Jahr anders an.
Der Wendepunkt war in meinem Empfinden das „What you started – I didn’t start it.“
Das war gar nicht so zornig, nicht so nach dem Motto Du bist doch schuld an allem. Ich habe das diesmal anders empfunden. Eher als etwas, was ihm nach der langen inneren Abrechnung mit sich selbst ein wenig Klarheit zurückgibt: Ich hab es nicht angefangen. Ich trage gar nicht die Verantwortung. Ich muss es weder verstehen noch muss ich hier etwas entscheiden. Ich komme von dir, ich gehe zu dir. Ich bin in diese Welt gekommen, weil du es wolltest. Also hast du auch zu sagen, wann und wie ich sie verlasse.
„God, thy will is hard, but you hold every card.“ Du bist der Anfang und das Ende. Dass Jesus selbst niemals eine Karte in diesem Spiel hatte, wird ihm hier klar und so sehr es auch schmerzt, nimmt es ihn doch aus der Verantwortung.
Das war überaus versöhnlich, kräftigend, gibt dem ganzen aber doch auch eine deutlich religiöse Note.
Ich liebe Drew Sarich dafür, dass er jedes Gethsemane zu einem neuen Gebet macht. Dass er alles an Facetten, was dieser Text in sich tragen kann, aufdeckt, altes einreißt, neues entstehen lässt.
Auf dieses innere Leiden folgt das physische, das hier auch wieder mehr als deutlich dargestellt wird. Die Art, wie Drew Jesus am Kreuz sterben lässt, schwer atmend kämpfend, ist für den Zuschauer fast nicht zu ertragen.
Judas: Alex Melcher
Wer kennt die Serie Good Omens? In dieser Serie von 2019 verbünden sich ein Dämon namens Crowley und der Engel Erziraphael miteinander, um die Erde vor der von Gott geplanten Apokalypse zu retten. Ein spannender Plot: Ein Engel, der sich mit einem Dämon zusammentut und sich gegen Gottes Plan stellt?!
Judas Iskariot ist in JCS der Erzähler der Geschichte. Doch wer ist dieser Judas? Ein Erfüller des göttlichen Plans und damit ein Helfer, ein Heilsbringer? Oder ein Dämon, ein fieser Verräter, der, der Gottes Sohn einem qualvollen Tod überantwortet?
Die Geschichte sieht Judas widersprüchlich, und genauso widersprüchlich bleibt sein Auftreten im Musical: zu Anfang möchte er Jesus schützen: „and they’ll hurt you when they think you’ve lied“ – und am Ende ist er verantwortlich dafür, dass das dann auch geschieht. Darüberhinaus verhöhnt er den besten Freund auf dem Weg zum Kreuz: Ist er also Engel oder Teufel? Aus beiden Welten etwas, und so ist auch Judas hier bildlich zum einen Teil der Dämon, zum andern Erzengel.
Und so vereint Alex Melchers Judas beide Figuren der Serie in einer Person: Der Dämon Crowley in der Serie ist dunkelhaarig, dunkel gekleidet und trägt eine runde Sonnenbrille. Erziraphael ist quasi ein Albinoengel: Weiße Haare, weißes Gewand, eindeutig also dem Licht zuzuordnen.
Judas ist Superstar ist eine perfekte Mischung aus beiden: Die Haare wasserstoffblond gefärbte trägt Alex Melcher weiße Flügel zur schwarzen Kleidung und runden Sonnenbrille.
Ich liebe popkulturelle Referenzen in Musicals!
Als Persönlichkeit ist dieser Judas vor allem eines: unzufrieden. Alex Melcher gibt den Verständnislosen wirklich fabelhaft. Man versteht, was er Jesus vorwirft: Dass er nicht stringent die eigene Lehre verkörpert. Wenn aber die Führungsfigur nicht nach den Regeln lebt, wie soll daraus eine ernsthafte Bewegung der Erneuerung entstehen? An wem sollen sich die Menschen orientieren?
Perfekt macht Melcher das in der Szene mit dem Öl: Er hat doch die Idee Jesus verinnerlicht, den Armen zu helfen. Wie kann man dann 300 Silberstücke für Öl ausgeben? Es sind die vermeintlichen Inkonsequenzen Jesu, die Judas so aufregen. Rockig-laut steigert Melcher sich da gekonnt bis hin zum Verrat.
Von dem erhofft er sich, dass Jesus im Verhör mit den Priestern verantworten muss und so gezwungen wird, Farbe zu bekennen, und sich wieder auf die Sache zu besinnen.
Judas ist nicht nur unzufrieden, sondern er hat wirklich Angst. Angst, dass diese Bewegung nicht das halten kann nach außen, was sie verspricht. Dass sie sich ändert, als heilbringende Lehre startet und am Ende wo anders rauskommt. Schön erkennt man das, wenn er wie verloren durch die Jüngerschar läuft und zwischen Unmut, Angst und tiefer Wut schwankt.
Und so stellt Melchers Judas seinen Freund Jesus auf die Probe, fordert ihn unbarmherzig heraus, konfrontiert ihn mit seiner Inkonsequenz. Mit rockig-lauter Stimme tönt er sein Unverständnis heraus, heult er in seiner Verletztheit auf und ringt sich mit erstickender Stimme das Geständnis ab, dass er verantwortlich ist für Jesu’ Tod. Sowohl stimmlich als auch schauspielerisch erstklassig.
Maria Magdalena: Nienke Latten
Nienke stößt aus dem Rebecca-Ensemble, wo sie als „Ich“ allabendlich in der Hauptrolle brilliert, zur JCS-Crew. Ihre Maria Magdalena fällt sehr jung aus, unbedarft und zurückhaltend. Sie passt damit ganz hervorragend zum ebenso jugendlichen Peter. Sie wird nicht von Anfang an als die wichtigste Bezugsperson für Jesus installiert. Vielmehr gehört sie einfach in die Menge, wenn sie sich auch – im Gegensatz zu den Männern – einfach anders um sein Wohlergehen sorgt.
Sie ist eine Anhängerin, begeistert von Jesus. Sie versucht, aufmerksam zu sein. Das bedeutet, sich um ihn zu kümmern, aber auch, seiner Lehre zu folgen.
„Save tomorrow for tomorrow“ – gibt Jesus den Jüngern mit auf den Weg. Und Maria nimmt den Faden auf, wenn es hoch her geht und ermahnt ihn in gleicher Weise: „Try not to get worried“. Sie versucht, ihm nachzufolgen.
Aber Jesus, der sich gerne mit ihr abgibt, ihre Aufmerksamkeit schätzt, merkt dennoch, dass er trotz Marias Nähe am Ende allein bleibt: Wenn er erschöpft von dem Leid der Menschen ist, kann ihm Maria nicht helfen. Zwar versucht sie es:
„Try not to get worried
Try not to get on to problems that upset you“
Jesus nimmt den Faden auf. Es klingt, als würde Jesus sagen: Jaja. ich weiß, was du jetzt sagen willst: „and I think I shall sleep well tonight…let the world turn without you tonight.“
Er singt das als bloße Phrase, die er von Maria kennt, eine Art Beschwichtigung, die ihn in dieser Situation überhaupt nicht mehr erreicht. Das einzige, was klar ist, ist, dass auch sie ihm nicht folgen kann in seinen Gedanken und so verlässt er diesen Ort.
In letzter Konsequenz bleibt Jesus auch beim Tod am Kreuz vollkommen allein. Keiner vermochte es, ihm dahin folgen.
Denn Maria versteht nicht, dass Jesus am Kern des Problems ist, da, wo er nichts mehr ignorieren kann. Es ist nicht mehr nur eins von vielen Problemen. Das eindrückliche Leid der Menschen kann nicht mehr von seiner Rolle als Heiland gelöst werden. Nur noch erlöst.
Lattens Maria ist zunächst ein Jünger unter vielen, eine begeisterte Anhängerin, ohne, dass man ihr von Anfang an die große Verliebtheit unterstellen möchte. Das entwickelt sie ganz sachte und auch überaus stimmig bis zu I don’t know how to love him:
Erst in diesem Lied reflektiert sie, was sie tut, wie sie lebt und wie da jetzt Jesus reinpasst. Mit den größten und erstauntesten Kulleraugen, die ich je gesehen hat, reift in ihr die Erkenntnis: Oh Mann, das ist wohl Liebe. Diese Maria hatte wohl schon Erfahrung mit Männern, aber hat mit Sicherheit noch nie ernst und tief geliebt. Und so überrumpelt sie dieses Gefühl, dass sie einen ganzen Song lang versucht zu fassen, als Erkenntnis dann gewaltig: „I love him so.“
Das ist der Zeitpunkt, ab dem sie sich traut. Von da an tritt sie anders auf, bewusster, egal ob bei Petrus’ Verrat oder in Could we start again please.
Was mir besonders in dieser Inszenierung gefallen hat: Als Jesus stirbt, die Rosenblätter fallen, dann ist da eine so quälend lange Zeit, in der kein Ton zu hören ist. Erst Maria Magdalena, die auf kommt auf die Bühne, bricht diese geschockte Stille mit einem lauten Schmerzenschrei. Sie vertont lauthals das, was dem Zuschauer ebenfalls im Herz brennt: Der ganze Schmerz über das, was da auf der Bühne passiert ist. Ich finde es schön, dass man Maria diesen Moment vergönnt hat.
Nienke Latten gibt ihrer Maria Magdalena eine ganz eigene Note und wandelt das Innere der Figur von unbeschwert über sorgend bis verzweifelt. Diesen Gefühlen verleiht sie auch stimmlich Nachdruck. Eine wirklich tolle Leistung.
Simon: Thomas Hohler
Simon, der Zelot, ist der, der die Meute aufstachelt, sich auf die Seite Jesu zu schlagen, und in Jesus den sieht, der eine Armee formen kann, die die Römer besiegen kann.
Thomas Hohler ist da sehr perfekt gecastet. Er ist die präsenteste Figur, schon allein seine Statur ist so anders als die der jungen Maria und des schmächtigen Petrus. In seiner ganzen Kraft steht er da und gibt sich kämpferisch. Die Choreographie versieht ihn schon im ersten Moment als Anführer, der die ihn umringenden aufstachelt und anheizt.
Da passt es auch wunderbar, dass Jesus in What’s the buzz Simon direkt anspricht: „Why are you obsessed with fighting“. Thomas Hohler singt perfekt und macht seinen Text dabei unheimlich spannend, das hat mir außergewöhnlich gut gefallen.
Zu guter Letzt steht er bei Could we start again please da mit einem Schild in der Hand: „Hands off Jesus“. Ausgerechnet der Simon, der selbst dem Kampf und der Gewalt nicht abgeneigt scheint. Ich mag das, wie die Figur da eine Entwicklung findet, und zumindest hier ein Verstehen angedeutet wird.
Petrus: Raphael Gross
Petrus ist der Jünger mit dem Laptop, quasi der, der Jesus’ Taten aufschreibt und sie nach außen trägt: Sein Sprachrohr, als das er heute noch gesehen wird. Petrus, der Fels, auf dem Jesus seine Kirche baut und als erster Verantwortlicher für die Verbreitung der frohen Botschaft gesehen wird.
In dieser Rolle ist Raphael Gross ein sehr jugendlicher Petrus. Begeistert, naiv und irgendwie hat man von Anfang an das Gefühl, dass er der ganzen Sache nicht so wirklich gewachsen. Eine Nummer zu groß scheint das alles für ihn zu sein und so verwundert es überhaupt nicht, dass Petrus seinen Freund dreimal verleugnet. Das passt alles wunderbar, Raphael Gross fügt sich bestens da hinein in diese Rolle, dank ihm fügt sich diese wichtige Szene stimmig ein in den ganzen großen Plan. Mit Nienke Lattens Maria Magdalena harmoniert er bestens.
Kaiphas: Dennis Kozeluh
Dennis Kozeluh ist ein alter Hase im Kaiphas-Geschäft. Mit einnehmender Präsenz und einer unheilvollen Ruhe hat er seine Priester im Griff, sein Bass tönt voll. Getrieben von Annas behält er trotzdem die Führung und die Oberhand, zum größten Teil aus Kalkül.
Annas: Timo Verse
Dieser Annas ist klein und fies. Mit hinterhältigem Gesichtsausdruck hat man von Anfang an die Idee, Annas geht es deutlich mehr um persönliche Rache als um einen größeren Plan. Verse versieht diesen Annas darüber hinaus mit einem nervösen Zucken im Gesicht, und zusammen mit seiner übrigen Statur – eher gebückt auf einen Stock gestützt – macht ihn das so unfassbar alt, grausam und böse. Dazu die hohe Kopfstimme – ein nahezu perfekter Widersacher.
Pilatus: James Park
James Park hat eine Stimme wie aus dem Paradies. Wahnsinn, so volle warme Töne, sehr klar dabei, bestens artikuliert. Als Person steht sein Pilatus in totalem Kontrast zur italienischen Lässigkeit von Filippo Strocchi von 2019. Hatte man bei dem so die Idee, dass er mit der Verantwortung nicht unbedingt was zu tun haben will und lieber Golf spielt, ist die Szenerie mit Park anders (obwohl gleich choreografiert): Er ist der korrekte Statthalter, einer, der tatsächlich daran zerbricht, dass er hier gezwungen wird, ein Fehlurteil zu fällen.
Sein Traum bleibt nachhaltig im Gedächtnis: Obwohl er mit seinem Angestellten über diesen Traum spricht, bleibt er dabei so entrückt, als wäre er immer noch mitten in diesem Traum. Es wirkt geradezu unheimlich, weil man sieht, wie deutlich Pilatus das alles vor Augen hat, und wie verwirrend und angsteinflößend das sein muss.
Nie zuvor wurde die Parallele seines Traumes zu Jesus’ Poor Jerusalem so deutlich: Zuerst hört man Jesus Vision, wie er mit großem Schmerz in die Zukunft blickt, dann schildert Pilatus ebenfalls seine Vision der Dinge in der exakt gleichen Ruhe, in der gleichen Entrücktheit und mit ähnlichem Entsetzen. Wie schön man da auch die Melodie-Versatzstücke raushört, die einander nachempfunden sind in beiden Liedern. Es war fabelhaft, wie James Park da sein Lied mit Jesus’ verschränkt hat.
Herodes: Christian Rey Marbella
Die Szenerie bleibt denen der vorhergegangen Jahre ähnlich: Der zunächst am Klavier sitzende Herodes, der dann von einer Schar tanzender gleichgeschalteter Damen, die eigentlich mehr Karikatur darstellen, umgeben wird.
Stimmlich kraftvoll, mit einer gewissen Irre im Blick trifft Marbella genau den richtigen Ton. Auf die Leinwand den Las-Vegas-artigen Palast projiziert, stolziert Marbella mit den coolsten Schuhe überhaupt und im gelben Anzug ohne Hemd durch die Szenerie und interessiert sich dabei hauptsächlich eher für sich selbst denn für seinen prominenten Gast.
Ensemble
Die Priester Peter Kratochvil, Florian Resetarits und Kaj-Louis Lucke machen ihre Sache 100% perfekt, ebenso wie die grazilen Soulgirls Veronica Appeddu, Sophia Gorgi und Katharina Gorgi.
Das Ensemble empfand ich als überaus harmonisch und stimmig. Ungeheure Spielfreude war gerade in zahlreichen Details zu erkennen.
Fazit
Dem nahezu alljährlich aufgeführten Jesus Christ Superstar in Wien eilt ein geradezu heiliger Ruf voraus. Auch dieses Jahr wird das Stück unter der Handschrift von Alex Balga diesem Ruf gerecht.
Dabei atmet die Inszenierung stellenweise einen anderen Geist als in den Vorjahren. Die Darsteller bringen ihre Figuren sehr fein nuanciert auf die Bühne und die Regie vermag es, dieses Ensemble in ein perfekt abgestimmtes Ganzes zu gießen. So ist Jesus Christ Superstar durch sein tolles Ensemble, einem bombastischen Orchester und einem Drew Sarich, der nicht von dieser Welt scheint, auch dieses Jahr das Highlight im deutschsprachigen Musicalraum.
Alle nicht anderweitig gekennzeichneten Fotos: Dr. Joachim Schlosser
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