Mata Hari ist eine Auftragsarbeit des Gärtnerplatztheaters, für die Erfolgsautor Marc Schubring und „Hamilton“-Übersetzer Kevin Schroeder gewonnen werden konnten.
Der Name „Mata Hari“ ist vielen Menschen ein Begriff, allerdings hab ich auf Nachfrage in meinem Bekanntenkreis festgestellt, dass außer „Spionin“ und „Nackttänzerin“ nicht vieles, und wenn dann nur Vages bekannt ist.
Aber diese beiden Begriffe allein – Spionin und Nackttänzerin – versprechen ja schon eine Menge, oder?
Mata Hari – auf den Spuren einer Legende
Wer war Mata Hari überhaupt? Begibt man sich auf Spurensuche, dann stellt man fest, dass so gut wie nichts historisch eindeutig belegt ist im Leben dieser Frau.
Fest steht, dass sie 1876 in den Niederlanden als Griet Zelle geboren wurde und am 15. Oktober 1917 wegen Hochverrat in Paris erschossen wurde. Dazwischen gibt es Gewissheit über die Eheschließung mit John McLeod und ihrem Aufenthalt auf Java sowie ihre auf ihre Scheidung und Rückkehr nach Paris folgende Erfolge als frivole Tänzerin. Vieles, was ansonsten überliefert wurde, ist historisch nicht eindeutig, da Mata Hari selbst, im Zuge ihrer Selbstinszenierung, gerne alternative Fakten präsentierte, die sie im Gespräch halten sollten.
Bekannt wurde Griet Zelle unter ihrem Künstlernamen Mata Hari als exzentrische Künstlerin und als frivole Tänzerin. Sie trat ab 1903 in Paris auf und begeisterte das Publikum. Ihr orientalisches Aussehen allein schon erregte Aufsehen. Man war damals vernarrt in alles Exotische. Die Art ihrer Darbietung tat ihr Übriges: Sie gab ihre Tänze als indische Tempeltänze aus. Es waren aber weniger diese Tanzschritte, deren Qualität auch wohl noch nicht mal exzellent war. Vielmehr verstand es Mata Hari, sich während des Tanzens so zu entkleiden, dass hauptsächlich die Männer hin und weg waren. So was hatte man vorher einfach noch nicht gesehen.
Mata Hari wurde berühmt und reich, lebte auf der Sonnenseite des Lebens – allerdings nur für kurze Zeit. Bald erschienen Nachahmerinnen und das Interesse an der nun nicht mehr ganz so neuen Art des Tanzens erlahmte. Auf der Suche nach neuen Einnahmequellen ließ sie sich zuletzt als Spionin der Deutschen akquirieren, schließlich versprach sie sich weiteres finanzielles Entgegenkommen auch von französischer Seite.
Obwohl man sich heute weitgehend einig ist, dass Mata Hari zu keiner Zeit kriegsentscheidende Informationen weitergegeben hat, wurde sie nach ihrer Enttarnung in Frankreich angeklagt und hingerichtet.
Mata Hari – ein Musical von Marc Schubring und Kevin Schroeder
Handlung
Die Autoren beleuchten für dieses Musical die Zeit, in der die 17jährige Griet frisch verheiratet mit ihrem Mann nach Java übersiedelt, bis zu dem Zeitpunkt, als sie ihren Mann verlässt. Es wird also gezeigt, welche Ereignisse überhaupt erst dazu führen, dass Griet sich entschließt, ihrem ursprünglichem Leben zu entfliehen und so als geheimnisvolle Mata Hari weltweite Berühmtheit erlangen wird.
Griet McLeod-Zelle befindet sich mit ihrem Mann Rudolph auf der Überfahrt von den Niederlande nach Sumatra, wo beide nach ihrer Hochzeit ein gemeinsames Leben beginnen. Der 20 Jahre ältere Rudolph ist Soldat und auf Java stationiert. Auf der Schiffsreise wird erkennbar, wie lebenshungrig, neugierig und unkonventionell die junge Frau McLeod ist. Dass sie damit die Gesellschaft auch vor den Kopf stößt, findet sie zu Beginn weniger irritierend, sondern höchst belustigend.
Im trauten Heim angekommen, stellt sich alsbald fürchterliche Langeweile ein. Mit ihrem Charme und ihrer frivolen Art wickelt sie ihren Mann um den Finger, provoziert dabei aber die feine Gesellschaft und die Einheimischen.
Schließlich wird Griet schwanger. Für sie, die freiheitsliebende Frau, eine Horror-Vorstellung. Zudem wird Rudolph nach Sumatra versetzt. Allein in der Gesellschaft von Frauen, die alle eine vollkommen andere Idee von der Rolle der Frau und vom Leben an sich haben, sucht Griet während ihrer Schwangerschaft Abwechslung und findet einen Seelenverwandten in Lieutenant Kuipers.
Sohn Norman wird geboren. Griet kommt mit ihrer Rolle als Mutter gar nicht zurecht und es werden die ersten ernsthaften Risse in der Beziehung offenbar, denn Rudolph MacLeod sieht sich mit der Geburt des Sohnes am Ziel seiner Träume und der Erfüllung seiner gesellschaftlichen Rolle, während Griet immer wieder versucht, genau diese hinter sich zu lassen und ihre persönliche Freiheit propagiert.
Heimlich nimmt sie an Proben für eine Theateraufführung teil. Auf einem Empfang beim General legt sie einen skandalumwitternden Auftritt hin und sie genießt es, wie die Damen der Gesellschaft sich empören, während deren Männer überaus angetan von ihrer Vorstellung sind.
Die Ehe wird zunehmend turbulenter. Rudolph trinkt und hat immer weniger Verständnis für seine junge Frau, während diese es nicht schafft, eine innige Bindung zu ihrem Kind, das von Merbati – dem Hausmädchen versorgt wird – aufzubauen.
Die Theateraufführung ist ein Erfolg, aber eine dadurch mögliche Versöhnung zwischen den Eheleuten wird jäh unterbrochen, als Norman schwer krank wird. Rudolph wirft Griet vor, Schuld zu sein am schlechten Gesundheitszustand des Kindes.
In dem ganzen Drama knüpft Griet vorsichtige Bande des Vertrauens mit Frau van Rheede. Doch dann der Schock: Norman stirbt. Völlig außer sich vor Schmerz gibt Rudolph nun Merbati die Schuld am Tod des Sohnes und erschießt sie in vollkommener Raserei.
Nachdem auch Lieutenant Kuipers auf Sumatra gefallen ist – Rudolph hat ihn aus Eifersucht absichtlich in die Gefahrenzone versetzen lassen – verfällt Griet nun in tiefe Depressionen. Zufällig findet sie Rudolphs Notizbuch. So erfährt sie, dass ihr Mann schon lange an Syphilis leidet und mit Arsen behandelt wird. Die Ursache von Normans Tod scheint gefunden. Mit dieser Aussage konfrontiert, dreht Rudolph durch und Griet kann sich nur retten, indem sie zu Frau van Rheede flieht. Doch Rudolph ist ihr gefolgt, bereit, seine Frau zu erschießen.
Nach Beruhigung der Situation beschließt Griet MacLeod-Zelle, von jetzt an nur doch das zu tun, „was ich bin“ und bricht nach Europa auf, um ihn Paris zur Legende zu werden.
Musik
Hier wollen die Autoren einfach alles. Die Geschichte ist vertont mit musicaltypischen Melodien. Da sind feine Balladen dabei und Uptempo-Nummern, bisweilen hört man Anklänge an die Stummfilmära der 20er Jahre oder Reminiszenzen an Filmmusik a la John Williams. Hin und wieder eine Reprise hält den Zuschauer rein auditiv im Geschehen, ohne, dass ein tatsächlicher Ohrwurm zurückbleibt. Die Figur der Mata Hari Popstar bringt zusätzlich noch eine Fülle an Melodien aus der Popwelt mit. Dabei könnten die meisten Lieder so, wie sie sind, beim ESC ins Rennen geschickt werden. Ein bissl Helene Fischer, ein wenig Sarah Connor, eine James-Bond-Anleihe. Sogar vor rockigen Klängen, die vorsichtig in Richtung Rammstein weisen, schreckt man nicht zurück.
Dieses Sammelsurium passt in manchen Fällen doch ganz gut zueinander. Insgesamt wirkt es aber doch stark überladen.
Der Versuch, alles miteinander zu einem ganz großen Ganzen zu verknüpfen, gelingt durch das grandiose Orchester, der Bühne und der Lichtregie, die geschickt mit Atmosphäre spielt.
Inszenierung
Drei Ebenen
Die Geschichte von Griet Zelle-MacLeod
Die Autoren statten das Musical mit drei unterschiedlichen Ebenen aus: Zum einen die momentane Lebenssituation der Griet MacLeod auf Java. Das ist die Haupthandlung, die der Zuschauer als herkömmliches Musical auf der Bühne verfolgt.
Über Musicalsongs und in Dialogen wird die Geschichte der Griet erzählt, wie sie mit ihrem Mann nach Java kommt, dort immer unzufriedener wird, die Ehe mit ihrem Mann sich dramatisch wandelt und schließlich die Geburt und der Tod ihres Kindes. Im Versuch, mit diesem Schicksal umzugehen, geht Griet zurück nach Europa und wird dort zu dem Phänomen, als das sie auch heute noch Legendenstatus innehat: Mata Hari.
Mata Hari – heute ein Popstar?
In einem Brief Mata Haris an an Pierre Bouchardon, der zuständige Untersuchungsrichter nach ihrer Verhaftung schreibt sie folgendes (Dieser Brief ist auch im – wie immer – höchst informativen und umfangreichen Programmheft abgedruckt.)
Mata Hari schreibt darin:
„Mata Hari und Madame Zelle-MacLeod sind zwei völlig unterschiedliche Frauen…
Was Mata Hari widerfährt, widerfährt Madame Zelle bestimmt nicht. Die Menschen, die sich an die eine wenden, wenden sich nicht an die andere.
Mata Hari und Madame Zelle können nicht auf dieselbe Art und Weise leben und handeln.“
Mata Hari hat von sich als von zwei unterschiedlichen Personen gesprochen und sich offensichtlich auch so wahrgenommen. Folgerichtig erscheint im Musical neben Griet Zelle-MacLeod eine zweite Protagonistin: Mata Hari Popstar.
Diese ist einem Popstar der heutigen Zeit in aller Wandlungsfähigkeit nachempfunden. Die jeweiligen Situationen, in der Griet sich befindet, werden in den Popsongs aufgearbeitet, im Jetzt reflektiert.
Mata Hari war zu ihrer Zeit heiß begehrt, ein It-Girl, freilich, ohne dass es diese Bezeichnung damals schon gab. Und trotzdem: von ihrem frivolen und dann wieder sehr geheimnisvollen Auftreten, von ihrer Idee von Show und Selbstinszenierung ist sie ihrem Zeitgeist entsprechend nicht weit entfernt gewesen von einer Lady Gaga der heutigen Zeit oder eine Madonna der 80er Jahre.
Zeitzeugen und ihre Aussagen im Zuge des Prozesses
Zusätzlich zu diesen beide Ebenen eröffnen auf Leinwand projizierte Zeitzeugen-Aussagen noch eine weitere Dimension, um sich dem Phänomen der Mata Hari zu nähern: Die Fremdwahrnehmung ihrer Person.
In schwarz-weißen Einspielern erzählen Männer innerhalb des Spionageprozesses von ihrer Begegnung mit Mata Hari, geben Einschätzungen und Gerüchte zum besten.
Das Verbinden dieser drei Ebenen ist eine künstlerisch spannende Idee, bricht aber natürlich auch mit der allgemein vorherrschenden Idee eines Musicals, in dem man einer Geschichte stringent von Anfang bis Ende folgt.
Es ist schon eine Herausforderung, diese Ebenen immer im Blick zu behalten und die Unmengen an textlichen Verknüpfungen, Parallelen und künstlerischen Kniffen zu überblicken.
Mata Hari war eine nicht leicht zu fassende Person und ein ebensolches Werk haben Schubring und Schroeder über diese Person kreiert. Aber schauen wir noch genauer hin:
Bühne
Die Bühnenaufbauten von Karl Fehringer und Judith Leikauf werden in jeder Sekunde der vielschichtigen und komplexen Musicalidee gerecht. Der Aufbau an sich ist bombastisch und besteht aus einem drehbaren verkleideten Treppen- und Balustraden-Gewirr, an dessen einen Seite eine geschwungene Leinwand zu finden ist. Mittels Drehbühne kann die Bühne jeden beliebigen Schauplatz darstellen. Zusätzlich gibt es eine nach oben fahrbare Bühne vorderhalb, die Mata Hari Popstar hin und wieder nutzt.
Bühnenaufbauten sind schwer zu beschreiben, vor allem, wenn sie so vielseitig ist wie in diesem Fall. Ich lasse Bilder sprechen:
Kostüm
Perfekt! Da sind zum einen die geradlinig und eindeutigen Kostüme der Protagonisten, die die Geschichte erzählen. Da stechen vor allem die adretten, sittsamen Damen der Teerunde hervor. Alle gleich steht das für Gleichförmigkeit, für Langeweile, für Regelhaftigkeit. Spannend fand ich, dass die Damen im Haar einen Ansatz von „Gestrüpp“ tragen, wie Mata Hari Popstar ihn am Anfang und am Ende als überbordenden Kragen trägt. In jeder Frau sollte doch zumindest das zarte Pflänzchen der Idee „Ich tue nur noch, was ich bin“ sprießen.
Griet selbst ist in ihrer Gestalt so viel farbenfrohe als alle anderen, aber noch der gesellschaftlichen Rolle, die sie einnehmen muss, angemessen.
Das schönste Kostüm unterstreicht Griets orientalisch anmutendes Äußeres:
Richtig austoben durfte sich Kostüm-Chef Alfred Mayerhofer bei singenden und tanzenden Ensemble. Wunderbar, ein wahrer Augenschmaus. Besonders beeindruckend fand ich die blau-goldenen Tempeltänzer. Eine Fülle an Ideen verwandte Mayerhofer für die Tänzerinnen und Tänzer, die Mata Haris Popsongs vertanzten und traf dabei jedesmal den Stil des Songs optimal.
Ann Sophie Dürmeyer erhielt für jeden Song ein anderes Outfit, passend dazu sind immer die Backgroundsängerinnen und der Backgroundsänger gekleidet.
Überbordend, sensationell.
Choreographie
Geht mit der Qualität der Bühne und der Kostüme Hand in Hand. Wunderbare Tanzeinlagen, sowohl klassisch-modern getanzt (ein wunderbares Pas des Deux des Solotanzpaares), in dem die Klasse des Tanzensemble zum Tragen kam, als auch die Pop-Partien: toll choreographiert und exzellent ausgeführt. Mal eher zackig militärisch zu Beginn, dann leidenschaftlich und wild: Alles war dabei und alles griff ineinander: das Tanzensemble hielt auch an den Stellen, an denen das Stück auseinanderzufallen drohte, konsequent zusammen. Wie schön, dass das drei Sparten-Haus am Gärtnerplatz auf so qualitativ wertvolle Tänzerinnen und Tänzer zurückgreifen kann!
Orchester
Gewohnt souverän, die Musiker und Musikerinnen des Gärtnerplatztheaters. Musikalischer Leiter Andreas Partilla führte sein Orchester akzentuiert und mit viel Dynamik durch die verschiedenen Musikstile. Für ein klassisches Theater war die Instrumentierung natürlich eher ungewöhnlich, aber auch die Rammstein-Anklänge verkamen nicht zu einer Parodie ihrer selbst, sondern klangen immer authentisch.
Es ist ähnlich wie mit der Choreographie: Obwohl das Musical inhaltlich immer wieder bricht, bildet das Orchester durchgängig einen wunderbaren Rahmen.
Tonregie
Was leider überhaupt nicht funktioniert hat, was die Regulierung des Tones. Die Popmusik war derart von den Instrumentalisten übertönt, dass ich so gut wie kein Wort verstanden habe, was genau die fabelhafte Ann Sophie Dürmeyer gesungen hat. Und das ist der Knackpunkt meiner Interpretation: Was ich nicht verstehe, kann ich nicht beurteilen. Es ist schon wirklich schade: Da hat man so einen namhaften Autor, einen grenzgenialen Texter und so eine tolle Sängerin. Aber es kommt nicht das zusammen, was muss.
Sicher sind in den Lieder direkte wie indirekte Anspielungen versteckt oder offen zugänglich, könnte man hingebungsvoll Querverweise ziehen und tief eintauchen in das, was Schubring und Schroeder uns servieren: Allein: könnte. So bleibt die Idee, dass das ganz großartig sein könnte.
Wirkung und Interpretation
Rundheraus: Es ist ein großes Werk über diese große Frau. Mata Hari hat einen künstlerisch sehr reizvollen Ansatz (in dem Fall das Musical, nicht die Person ;-)). Aber so richtig gepackt hat es mich das große Ganze dann doch nicht.
Zu lose scheinen die Auftritte von Mata Hari Popstar zu sein (siehe oben: vielleicht fehlt mir auch einfach die textliche Verbindung) und zu normal-dramatisch erscheint das Leben von Griet Zelle im Vergleich zu dem von Mata Hari.
Mir ging es so: Ich sehe die Geschichte, fange an, darin einzutauchen und werde unterbrochen. Von dem was sein könnte (Mata Hari Popstar) und dem, wie Mata Hari wahrgenommen wurde. Da tauchen spannende Details ihres Lebens auf, Teile der Legendenbildung und im Vergleich dazu wirkt die Geschichte der Griet so… normal? Mehrmals dachte ich mir: Oh, erzähl weiter, wenn sich wieder ein Zeitgenossen zu Wort gemeldet hatte.
Ich fühle mich ein wenig erinnert an das große Lady Bess in St. Gallen (dort war letzten Monat erst Derniére): Es wird die Geschichte einer Frau erzählt, die ihrer Zeit voraus war. Aber es wird der Teil erzählt, in dem das zwar sichtbar ist, aber noch nicht zum Tragen kommt. Ich verstehe, dass das ein interessanter Teil sein könnte: Der Moment, auf den etwas großes zurückzuführen ist. Das Beobachten, wie ein Leben auf einen Punkt zusteuert, von dem aus sich etwas ausbreitet und nicht mehr aufzuhalten ist. Theoretisch klingt das nach ganz großem Kino. Ich verstehe die reizvolle Idee dahinter wirklich. Aber ganz ausgereift scheint es nicht, wenn man die Zeugeninterviews spannender findet als den Rest vom Stück.
Pluspunkt 1: Die Ebenen schließen sich zu einem Kreis
Was mir hingegen sehr gut gefallen hat, waren einige Dinge in der Dramaturgie des Stückes.
Das Musical beginnt mit Mata Hari Popstar und wie sie erschossen wird, quasi stirbt. Damit wird Platz gemacht für die große Legende, die sich um das It-Girl aufbaut und die unter anderem durch die Zeitzeugen mitverursacht wird. Danach verfolgt man die Geschichte von Griet Zelle, die ebenfalls damit endet, wie eine Waffe auf sie gerichtet wird. Zwar stirbt sie hier nicht physisch, aber die Griet Zelle, die sie vorher war, stirbt, sprich: gibt es so nicht mehr.
Sie wird zu Mata Hari Popstar und an dieser Stelle begegnen sich auch beide auf der Bühne. Der Kreis schließt sich.
Mir hat das gut gefallen, wie diese drei Ebenen so ihre Verbindung miteinander finden.
Pluspunkt 2: Nana von Emile Zola
Während eines kulturellen Teekränzchens, dem Griet beiwohnt/ beiwohnen muss, soll als kultureller Teil ein Buch besprochen werden. Es handelt sich um Nana von Emile Zola. Diese Buch von 1880 ist der neunte Teil eines 20-teiligen Zyklus über eine Familie im Kaiserreich. Der Inhalt ist höchst interessant für den weiteren Fortgang der Geschichte der Griet:
Inhalt (aus GetAbstract): „Nana kann weder singen, noch hat sie Talent zur Schauspielerin, und trotzdem ist sie der Star am Pariser Theater: Kein Mann kann ihrer erotischen Ausstrahlung widerstehen, sie tanzt bisweilen nackt, nur mit einem durchsichtigen Schleier bekleidet auf der Bühne. Sie lässt sich aushalten, verfällt der Verschwendungssucht, treibt etliche Politiker und Adlige in den Ruin – doch der erhoffte gesellschaftliche Aufstieg bleibt aus.“
Es gefällt, dass die Autoren versuchen, Griet Zelle zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens, in dem sie sich zunehmend Fehl am Platz fühlt, die Vision einer Femme Fatale ins Gedächtnis zu rufen. (Griet selbst sagt, sie habe das Buch im Original gelesen und wollte damals schon sein wie Nana).
Die Damen des Teekränzchens, die Vorfreude ihres Mannes auf das Kind, ihre eigene Schwangerschaft, die sie in ihrer Freiheit beschneidet: Griet wird überall mit der Idee konfrontiert, dass sie wohl eine gesellschaftliche Pflicht zu erfüllen hat. Nana als Vorbild wird ihr dazu verhelfen, nur noch zu tun, „was ich bin“.
Die Rollen und ihre Darsteller
Margaretha Geertruida »Griet« Zelle: Florine Schnitzel
So oft hab ich Florine Schnitzel schon im Ensemble des Gärtnerplatztheaters gesehen, und diesmal steht sie also in vorderster Front: Gott sei Dank!
Florine singt meisterhaft. Ihre Neugier ist zunächst voller jugendlichem Entdeckergeist, ihre leidenschaftlichen Ausbrüche gepaart mit Naivität. Ihre unkonventionelle Art findet sie selbst zunächst spannend, ihr gesundes Körperbewusstsein nutzt sie nicht perfide, sondern amüsant-zielgerichtet.
Diese Frau möchte ihr Leben umarmen! Das ist herrlich anzusehen.
Dann folgt die grandiose „Entblätterung“ Florine Schnitzel schält sich aus der Unbeschwertheit nach und nach heraus und lässt mit jeder Stufe eines zu entdeckenden „Selbst“-bewusstseins mehr und mehr ihre Unsicherheit hervor blitzen. Mit der Erkenntnis, welcher Weg auf sie wartet, steigt Panik in ihr auf: die Rolle, die ihr zugedacht ist, ist nichts, was sie für sich selbst plant. Diese Bewusstwerdung, wer sie ist, was sie sein will und was das bedeutet, ist überaus schmerzhaft, vor allem in Hinblick auf ihren Sohn. Aus Unsicherheit wird Verzweiflung, aus Verzweiflung wird Wut.
Florine Schnitzel spielt und singt ein überaus facettenreiches Porträt einer Frau, die sich und ihre Umwelt dazu zwingt, genau hinzusehen auf eben jene Person Griet Zelle, und was in ihr steckt. Eine Frau, die sich sich selbst und den anderen zumutet.
Mit vollem Körpereinsatz zeichnet sie diese für ihre Zeit überaus mutige Frau.
Mata Hari Popstar: Ann Sophie Dürmeyer
Wow, wow, wow. Umwerfend. Ihre Stimme nimmt den Zuschauer von der ersten Minute gefangen. Wie versteht es phänomenal, sich einen Song zu eigen zu machen, trägt Atmosphäre und Stimmung nach außen. Jedes einzelnes Lied ist ein Erlebnis.
Rudolph »Johnny« MacLeod, Margarethas Ehemann: Armin Kahl
Es ist so herzlich schön anzusehen, wie der Soldat Rudolph zu Beginn immer wieder dem Charme seiner jungen Frau erliegt. Ganz einfach ist der Gesellschaft das Verhalten seiner Frau nicht immer zu erklären, sie macht ihn manchmal verlegen. Und trotzdem: Taucht sie auf, immer das selbe Spiel: Hätte er keine Ohren, würde er im Kreis grinsen: Armin Kahl ist im Zusammenspiel mit Florine Schnitzel einfach wundervoll anzusehen. Er nimmt ihre Leichtigkeit voll auf, lässt sich anstecken. Denn: eigentlich ist nicht ganz so ersichtlich, wie die beiden zusammenpassen, was sie verbindet. Aber die beiden machen das toll: Sie sucht Bewunderung, er schmilzt dahin. Eine Win-Win-Situation.
Allerdings macht er es seiner Frau zunehmend schwer: Ihm gefällt es, wenn sie aus der Rolle fällt, aber er will auch, dass sie prinzipiell die für sie vorgesehene Rolle erfüllt. Was er für ein amüsantes Spiel hält, ist für Griet aber kein Spiel, sondern Teil ihrer Persönlichkeit, den sie braucht, wie die Luft zum Atmen. So wird in der ersten Versöhnung eine Art Hass-Liebe sichtbar: das, was sie anzieht, trennt sie auch gleichzeitig voneinander.
Je mehr sich Griet ihrer Selbst bewusst wird und ihre Freiheit propagiert, desto enger wird Rudolph im Denken. Er verbietet ihr die Schauspielerei und schickt schließlich Kuipers, von dem er weiß, dass er sich mit seiner Frau auf einer Ebene begegnet, die ihm unerreicht bleibt, auf ein Selbstmordkommando.
Alles nur, weil er eine bestimmte Vorstellung seines Lebens um jeden Preis beibehalten will.
Zu Beginn der verliebte Ehemann, der seiner Frau zu Füßen liegt und am Ende der gnadenlose Rächer seiner Träume, der zuerst die Kinderfrau erschießt und schließlich in seiner Raserei auch keine Skrupel mehr hätte, seine Frau zu töten. Armin Kahl liefert passgenau alles, was dazwischenliegt, mit allem, was dazugehört. Auch stimmlich wandelt er sich einwandfrei vom Süßholzraspler bis zum rasenden Amokläufer.
Friga van Rheede, verwitwete Offiziersgattin: Dagmar Hellberg
Dagmar Hellberg bleibt mal wieder unübertroffen. In dem Moment, in dem sie die Bühne betritt, gehört sie ihr. Ich mag ihre so deutliche Artikulation. Zudem gibt sie ihrer Figur die Tiefe, die diese Figur innehat:
Frau von Rheese erscheint so fest verankert in der Gesellschaft, in der Rolle, die „frau“ darin zu füllen hat, dass man fast die Idee hat, es handle sich um eine sehr eindimensionale Figur.
Doch dann offenbart sie Griet ihr Schicksal und ab dieser intimen Begegnung, entwickelt sich zwischen ihnen so etwas wie ein stilles Verständnis darüber, dass das Leben nicht so läuft, wie man es geplant hatte. Und obwohl das Leben beider Frauen wirklich komplett unterschiedliche Auswirkungen hat, erkennt man so etwas wie ein Wärme für die Lebensentscheidung der jeweils anderen.
Sehr sehr intensive Szenen dank Dagmar Hellberg.
Ensemble
Das ganze Ensemble liefert eine wirkliche Glanzleistung. Egal, ob die Damenrunde beim Tee, die Herrenrunde zu Beginn auf dem Schiff, Gunnar Frietsch als Kuipers oder Erwin Windegger als General: Sie alle füllen ihre Rollen passgenau, sowohl solo als auch in der Mehrstimmigkeit.
Die Rolle der Merbati, der Kinderfrau, ist devot angelegt und Xitin Shan spielt das mit Bravour, denn trotz ihrer Unterwürfigkeit gibt sie dieser Person eine ungeheuere Präsenz mit, eine Selbstverständlichkeit.
Die Backgroundsängerinnen Denise Lucia Aquino und Julia Sturzlbaum sowie die männliche Verstärkung Christian Schleinzer unterstützen Ann Sophie Dürmeyer nicht nur stimmlich perfekt, sondern auch tänzerisch.
Überhaupt bringt das Tanzensemble eine einnehmende Eleganz auf die Bühne.
Die Cast ist neben der Bühne der wahre Höhepunkt dieser Inszenierung.
Fazit
Mata Hari von Marc Schubring und Kevin Schroeder ist ein Musical, das alles will: drei verschiedene Ansätze innerhalb einer Geschichte nutzen und dabei noch wie nebenher alles an Musical- und Popmusikstilen unterbringen, was möglich ist.
Die drei Ebenen dieser Geschichte sind künstlerisch eine spannende Idee. Doch die Schwerpunkte der Geschichte um Griet Zelle alias Mata Hari sind meiner Meinung nach nicht passend priorisiert. Das, was der Zuschauer spannend gefunden hätte, wird nur angerissen, aber tragischerweise reichen diese Andeutungen, dass die Hauptgeschichte nicht mehr als wahnsinnig prickelnd wahrgenommen wird. Das macht für mich die Schwäche der Vorlage aus. Zudem hat der Ton es leider nicht geschafft, die Popsongs so abzumischen, dass man den Text gut verstanden hätte. So bleibt möglicherweise einiges an Verbindungen und Vertiefungen, die das Stück auch tatsächlich brauchen würde, im Dunkeln.
Die Inszenierung selbst macht das beste aus dieser Vorlage: Das grandios aufspielenden Ensemble inmitten einer tollen Bühne hält mit dem fabelhaften Orchester die Fäden zusammen und runden das Stück ab, kann aber nicht ganz darüber hinweghelfen, dass Mata Hari einen nicht bis ins tiefste Innere Packt.
Alle Fotos: Dr. Joachim Schlosser Fotografie
Roswitha Ebner
Danke für diese Gedankengänge.Habe die Inszenierung dreimal gesehen,dazu das Premierenfieber zur Einführung und war beim Meet and Greet.Die Gedankengänge haben sehr zu meinen Reflexionen beigetragen.Schön wäre es,wenn viele Kommentare das Ganze noch abrunden und den Gedankengängen beistimmen,sie erweitern oder auch mit anderen Gedanken widersprechen.Nochmals mein Dank!