Bildgewaltig und provokant – so inszeniert Andreas Gergen Andrew Lloyd Webbers Klassiker Jesus Christ Superstar im Staatstheater Nürnberg.
Dieser setzt auf eine moderne Interpretation des Klassikers: Stringent verortet Gergen die Geschichte der letzten sieben Tage Jesu Christi in der Jetztzeit und ändert den Spielort von Jerusalem nach Rom. Dabei überzeugt er mit stimmigen, teils überraschenden Details.
Bühne und Kostüm beeindrucken und hinterlassen vielfältige visuellen Eindrücke. Die Kritik an der neuzeitlichen Kirche, die Gergen ganz explizit thematisiert, rückt in den Mittelpunkt. Leise, intime Momente, die man von dem Stück sonst gewohnt ist, werden voyeuristisch ausgeschlachtet.
Das ist ein großes und rundes Ganzes, in sich stimmig und als Spektakel begeisternd: es ist aktuell und modern, es ist begeisternd und mitreissend, aber auch herausfordernd und provokant, schwer in der Gänze auf einmal zu fassen und einige Szenen in ihrer Intensität nur schwer zu ertragen. Bei dieser neuausgerichteten inhaltlichen Opulenz gerät die gesangliche Glanzleistung der Darsteller fast ein bisschen in den Hintergrund.
Jesus Christ Superstar – das Musical
Handlung
Die letzten sieben Tage im Leben Jesu sind hinlänglich bekannt, da ihnen alljährlich von Christen in der ganzen Welt als Grundlage des Osterfestes, des höchsten christlichen Festes gedacht werden. Zu Palmsonntag zog Jesus Christus mit seinen Anhängern in Jerusalem ein und feierte dort ein letztes Abendmahl, bevor er – von Judas verraten – verhaftet, verurteilt und gekreuzigt wurde.
Das Musical erzählt jene Geschichte aus der Sicht des Jüngers Judas. Als Jesus Best Buddy versteht er zunehmend den Lauf der Dinge nicht: Die Ideale von Jesus wären zu sehr in den Hintergrund geraten, die Glorifizierung der Person Jesu sieht er kritisch, die Beziehung von Jesus zu Maria Magdalena geht ihm entschieden zu weit. Weil die Bewegung tatsächlich zu zerfasern beginnt – die Anhängerschaft teilt sich in eher tumbe Mitläufer und kriegstreiberische Rebellen wie Simon Zelotes – glaubt Judas, Jesus hätte seine eigene Mission nicht mehr im Griff. Als die Hohepriester Annas und Kaiaphas ihn in die Mangel nehmen, verrät Judas Jesus Aufenthaltsort gegen Geld. Die um ihre eigene Macht fürchtenden geistlichen Führer der Juden tun alles dafür, Jesus zu beseitigen. Sie bringen das Volk gegen Jesus auf und zwingen mit Massenprotesten schließlich den Statthalter Pontius Pilatus dazu, dieses Todesurteil zu fällen, nachdem Herodes sich dieser Verantwortung entzogen hat. Jesus Christus stirbt am Kreuz, Judas hat sich schon zuvor aus Scham erhängt.
Musik
Jesus Christ Superstar ist ein Rockmusical, das eigentlich gar kein Musical sein sollte. Es wurde 1970 als Konzeptalbum veröffentlicht und fand erst danach den Weg auf die Bühne. Dementsprechend gitarrenlastig fällt die Musik aus. Das durchkomponierte Werk kommt ohne Sprechszenen aus, wobei hymnenartige Chorstücke das Stück tragen; rockige (Judas) und balladenartige Soli (Maria Magdalena) charakterisieren die Figuren und sorgen für eine abwechslungsreiche Mischung.
Jesus Christ Superstar – Die Inszenierung am Staatstheater Nürnberg von Andreas Gergen
Ort und Zeit
Andreas Gergen verlegt die Handlung in die heutige Zeit und den Spielort nach Rom. Das erscheint mehr als logisch: Das Zentrum der religiösen Macht damals war Jerusalem. Heute geht ebendiese von Rom aus. Gergen verquickt da das Judentum, aus dem Jesus stammt mit dem Christentum, das aus ihm hervorging.
Diese Übertragung wird konsequent beibehalten: Was damals die Hohenpriester waren, sind demnach die Kardinäle mit all den dazugehörigen Insignien, bewacht von der Schweizer Garde des Papstes. Dieser wiederum übernimmt als geistlicher Führer die Rolle des Herodes.
Jesus Anhänger sind ein bunt gemischter Haufen. Menschen jeden Geschlechts und von überall her, ausgeflippt, individuell, bunt, aber auch bieder und langweilig. Es wird augenscheinlich, dass dieser Jesus alle einlädt und keine Unterschiede macht.
Jesus selbst lebt in einem Appartement mit Maria Magdalena und deren Sohn. Das ist ein hübscher und im Verlauf sehr wichtiger Kniff und lässt die ganze Zeit über den Raum für Interpretation offen: Ist es Jesus eigenes Kind, das er mit Maria Magdalena hat? Oder lebt er quasi ein modernes Patchwork-Leben? Da Maria Magdalena in der Bibel als Prostituierte dargestellt wird, ergibt sich auch die Möglichkeit der Interpretation, dass Maria eine Frau mit einer – auch sexuellen – Vergangenheit ist, die von Jesus nicht in Frage gestellt wird oder werden muss, sondern einfach zu ihr gehört. Punkt.
Mise en Scène (Momme Hinrichs)
Jesus bzw. Maria Magdalenas Appartement befindet sich über der Bühne in einer Art Guckkasten-Vorrichtung, die über eine Metalltreppe zu erreichen ist. Es ist schlicht eingerichtet, präsent aber auf alle Fälle die Regenbogenfahne. Diese wird später in der Choreographie des Simon Zelotes wieder aufgegriffen.
Das Appartement lenkt den Blick, es deutet an, dass Jesus über den Dingen schwebt. Die gedankliche Distanz, die zwischen Jesus und den Jüngern herrscht, wird hier immer wieder physisch versinnbildlicht: Gerade zu Beginn, als Judas Jesus vorwirft, er sein nicht mehr bei der Sache, ist das augenscheinlich: Ein Jesus, der sich allein mit Maria Magdalena auf gleicher Ebene befindet und ein Judas, der verzweifelt versucht, ihn zu erreichen – bildlich dargestellt, dass er immer wieder den Weg über die Treppe nach oben sucht.
Der Schauplatz Rom und das Innere des Petersdoms werden wunderschön und in Gänze seiner Pracht auf die bühnenüberspannende Leinwand projiziert. Die Verhörszenen finden in der Sixtinischen Kapelle statt. Der Blick fällt dabei auf das Stirnfresko von Michelangelo mit dem Titel Das jüngste Gericht.
Was ich sehr mag, wenn Texte bildlich umgesetzt werden, hier noch ein wenig metaphorisch:
Wenn Jesus singt you only have to die, dann verhüllt ein schwarzer Vorhang die Bühne und ein Kreuz wird herabgelassen. Jesus selbst setzt seine Kapuze auf und verschwindet so – ganz in schwarz, vor dem schwarzen Vorhang.
Als Pilatus seine Traum singend betet, wird der Text dann aber tatsächlich 1:1 verspielt, denn Jesus steht im Hintergrund und verschwindet auf die Zeile disappeared again.
Beeindruckend und überraschend, weil selten so gesehen, sind die vielen Massenszenen: Die Szene, in der Jesus von den Kranken bedrängt wird, erinnert zunächst an „Hilf den Verstoß’nen“ aus dem Glöckner von Notre Dame, als die eine Hälfte der Kranken mit Kerzen auf die eher dunkle Bühne kommen. Danach erinnert sie an eine Pilgerfahrt nach Lourdes, wo unzählige Menschen in einer Schlange stehen, krank, verletzt, im Rollstuhl, und auf ein Wunder warten.
Wenn Jesus im Gethsemane singt, ist er nur zu Beginn allein. Aus einem intimen Moment voller Emotionen wird durch die Menschenmassen unter dem Balkon ein voyeuristisches Spektakel.
Jesus selbst wird nicht an ein aufrecht stehendes Kreuz geschlagen. Das Kreuz liegt auf dem Boden, die Senkrechte ergibt sich daraus, dass Judas die Szenerie filmt und das auf die senkrechte Leinwand übertragen wird. Zahlreiche Schaulustige wohnen dieser Kreuzigung bei und auch der Zuschauer im Parkett und im Rang wird durch die Übertragung auf die Leinwand in die Rolle eines Gaffers gedrängt. Diese voyeuristische Art, einem Menschen beim Sterben zuzuschauen, ist das wohl beklemmendste an dieser Inszenierung, das wirklich lange nachwirkt.
Kostüm (Aleksandra Kica)
Das Thema Kirche ist das beherrschende Thema. Hier variiert das Kostümdesign und bietet alles auf, was an Geistlichkeit zu bieten ist: Priester, Nonnen, Kardinäle, Bischöfe. Auch Missionarinnen der Nächstenliebe (der Orden, den Mutter Theresa gegründet hat) finden sich dort. Die Kardinäle und der Papst sind originalgetreu gekleidet.
Das Ensemble trägt bei der Herodes-Nummer stilisierte Ministrantengewänder: kurz, sexy und glitzernd, der Papst trägt unter der Soutane Strapse und ein Glitzerkreuz auf der Unterhose.
Im Vatikan ist alles genau vorgeschrieben, wer was zu tragen hat. Kleidung zeigt dort die Stufe der Hierarchie, auf der derjenige steht. Die Kleidung der Jünger hingegen zeigt deren offenes Denken: Die lassen sich in keine Schublade stecken. So bunt wie die Gruppe sind auch die Klamotten. Von Hippiestyle über halbwegs Jeans-normal bis zum Jorge-Gonzales-Verschnitt: Hier herrscht gewollte Individualität.
Jesus dagegen trägt schwarz, am Leib und auch an den Fingernägeln. Er wird so ganz deutlich unterschieden von der Gruppe.
Judas wiederum ist ebenfalls nicht bunt, sondern schwarz gekleidet, was die Nähe zu Jesus zeigt. Allerdings trägt er einen Rock, was ihn rein gedanklich in die offene und rollenauflösenden Ideen der Jünger rückt: Judas steht also irgendwo dazwischen. Und eigentlich gehört er damit nirgends dazu, lässt sich nicht einordnen. Das ist bis heute so geblieben.
Orchester/ Musik (Jürgen Grimm)
Die Jesus-Band macht ihre Sache hervorragend. Nicht ganz so scharf angespielt und nicht ganz so schnell, aber einwandfrei zum Geschehen auf der Bühne passend.
Die Musik nimmt sich darüber hinaus einige wohl eingesetzte Freiheiten. So artet das well done, Judas vor der Pause in einen kirchlichen Choral aus, was unheimlich faszinierend klingt.
Inszenierung
Schon die Ouvertüre, die von allem, was Rom an Klerikalem zu bieten hat, gesungen wird, provoziert: Der friedlicher Singsang artet sogleich in eine wüste Orgie aus, bevor Jesus seinen ersten Auftritt hat.
Durch die Projektion von kritischen Zeitungsartikeln auf die große, bühnenüberspannende Leinwand wird ebenfalls gleich zu Beginn klargemacht, dass es nicht nur eine kleine Anhängerschaft Jesu ist, die Reformen fordern, sondern diese Bewegung einen Nerv trifft. Die Themen, die dieser Anhängerschaft unter den Nägeln brennen, sind die, mit denen man auch konfrontiert wird, wenn man die Zeitung aufschlägt: Gleichberechtigung, das Machtgehabe der Kirchenoberhäupter und ihre Trägheit in Bezug auf Reformen.
Da werden Plakate gepinselt und hochgehoben mit Texten wie Mein Gott diskriminiert nicht, es werden Weiheämter für Frauen gefordert. Beim Gottesdienst mit dem Papst stürmen die Jünger den Altarraum, es kommt zu Handgreiflichkeiten, Plakate werden entrollt. Das größte Plakat aber ist das, was beide Seiten eigentlich versöhnen könnte. Auf ihm steht Gott ist die Liebe.
Jesus derweil konzentriert sich auf sich, seine Gabe, seine Motivation und in einem spannenden, berührenden Moment beobachten wir Jesus, wie er ein Wunder tut: er heilt eine Missionarin der Nächstenliebe: sie, die eben noch im Rollstuhl saß, steht plötzlich auf.
Gleich darauf verheiratet Jesus wie selbstverständlich zwei Frauen. Die tragen in Regenbogenfarben leuchtende, zum Kranz gebundene Leuchtstäbe auf dem Kopf. Was aussieht wie ein moderner Brautkranz, hat bei mir die Assoziation Dornenkrone hervorgerufen.
Gergen stellt hier zwei Aktionen hintereinander, die Jesus in den Augen der Kirche diskreditieren: die eine ist eine in der Bibel beschriebene Situation – Heilung am Sabbat – und die andere – die Hochzeit zweier Frauen – eine moderne Aktion: Beide werden Jesus später zu Fall, zu seiner eigenen Dornenkrone bringen. Sowohl früher als auch heute halten Kirchenoberhäupter an einer Dogmatik fest, die starre Regeln, nicht aber den Mensch in den Mittelpunkt stellt.
Was auffällt, weil man es sich selbst gerade bei der Kreuzigung als Teil dessen empfindet: Der überbordende Voyeurismus. Mehrmals sieht man sich mit Gaffern konfrontiert, die selbst sogar intimste Momente wie Jesus Gethsemane überrollen.
Das Phänomen des Gaffens entspringt möglicherweise dem „unterbewußten Wunsch nach Bestätigung der eigenen Unversehrtheit beim Miterleben des Leides anderer.“[1]
Eine ganz neuartige Idee, Jesus als Mensch zu zeigen, ist sein Zusammenleben mit Maria Magdalena und ihrem Sohn.
Mit diesem Sohn bilden Jesus und Maria Magdalena zusammen eine Dreiergruppe und quasi ein Abbild der heiligen Familie aus Josef, Maria und Jesus, nur transportiert in moderne Zeiten. Außerdem ist die Zahl drei in der Bibel heilig:[2] so besteht nach biblischer Lehre Gott aus der Trinität des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.
Am Ende, als er am Kreuz gestorben ist, steht Jesus in hellem Licht hinten auf der Bühne, während der Sohn nach vorne zwischen die anderen Darsteller tritt.
Die Auferstehung ist der Beginn eines Kreislaufs. Auf ein Neues. Probieren wir es nochmal, ob wir es beim nächsten Mal besser machen: Could we start again, please?!
Fazit der Inszenierung
Ich schätzte Jesus Christ Superstar eher als dichtes, aber intimes Porträt einer Freundschaft. Das ist es hier definitiv nicht. Es hat eher was von einem großen Spektakel.
Gergen macht das konsequent und detailgenau, außerdem überaus kreativ. Er traut sich dabei, einige Dinge zu ändern oder zu vertiefen, auch, wenn er dabei über den Text hinaus geht. Außerdem setzt er den Schwerpunkt anders: Er hat sich extrem auf die Rolle der Kirche konzentriert, die Rolle des Judas wird dabei ein wenig an sie Seite gedrängt.
Als Zuschauer ist man echt total gefordert, weil ständig überall so viel passiert, man vielleicht auch anderes erwartet. Und schon die ständige Konfrontation mit dem, was die Kirchenvertreter sich da minütlich auf der Bühne leisten, macht einen sprachlos. Mit dem Wissen, dass das alles bisweilen sehr nahe an der Realität ist, man ja selbst die Diskussionen um die Ausrichtung der Kirche und ihre Entgleisungen real in den Medien mitverfolgen kann, werden im Zuschauer mannigfaltige Gefühle hervorgerufen.
Und die Kreuzigung, bei der man minutenlang in das Gesicht von Jesus – Lukas Mayer – sehen muss und sein Sterben erlebt, ist echt nichts für schwache Nerven!
Die Inszenierung zieht einen schon extrem in den Bann, andererseits war ich stellenweise auch überfordert. Denn diese – wenn auch kreative – Übertragung geht auf Kosten der schlichten Schönheit einer Geschichte über die komplexe Beziehungen von Judas und Jesus. Hier ist es eher: Das System gegen Jesus Christus.
Ganz ehrlich: ich war fasziniert, ich würde es auch sofort nochmal anschauen. Allein die Kreativität, die Ideen und deren Umsetzung hat mich maßlos begeistert. Aber es ist halt auch wirklich anstrengend. Keine entspannte Wochenend-Abend-Unterhaltung. Aber auf eigene Art brillant!
Darsteller und ihre Rollen
Jesus Christus: Lukas Mayer
Der Jesus, den Lukas Mayer hier präsentiert, ist weniger Gallionsfigur, weniger Aushängeschild einer Bewegung und schon gar kein rebellischer Anführer. Dieser Jesus ist zuallererst einmal fühlender Mensch mit einem guten Gespür für andere. Jemand, der sich reflektiert, der in sich ruht. Er betet nicht traditionell, es ist eher Meditation. Er meditiert, in dem er tief atmet und dann die Hände vor seinem Körper zusammenführt, die eine Hand von unten, die andere von oben kommend, Daumen und Zeigefinger sich berührend, energetisch verbunden. So verbindet er in der Bewegung Himmel und Erde, das Oben und das Unten, um beides vor dem Herz zusammen zu führen.
Jesus war eben kein Aktivist im Gegensatz zu seinen Jüngern, die mit Plakaten und Parolen einen Gottesdienst stürmen. Jesus’ Protest ist ein anderer, er möchte eine Gesinnung weitergeben, keine politischen Ideale.
Aber Jesus ist auch Mensch (he is just a man) und als Mensch eben trotz alle stressanfällig. Lange bleibt er in sich ruhend, auch gegen die Provokationen des Judas bleibt er erstaunlich ruhig. Aber ungefähr ab der Liedzeile „my time is almost through“ macht sich erste Verzweiflung breit: das Bewusstsein seiner Endlichkeit erschreckt ihn.
Im weiteren Verlauf werden die Emotionen ungezügelter, er beginnt, seine Mitte zu verlieren, das, was ihn ausmacht. Erst macht er Randale im Tempel: ganz entgegen seiner eigentlichen Art und nach dem Vorbild seiner Jünger. Dann versucht er, alle Kranken zu heilen und zerbricht daran fast. Nicht lange zuvor hat er Judas noch erklärt:
surely you’re not saying
we have the resources
to save the poor from their lot
Dass er nicht alle Menschen retten kann, das ist gar nicht Teil des Plans. Jetzt fühlt er sich aber dazu gezwungen. Das hat mich wirklich sehr fasziniert, das ist mir auch zum allersten Mal als Gedanke so bewusst geworden.
Lukas Mayer hat eine beeindruckende Präsenz, und ich mag seine Art sich zu bewegen. Es sieht sehr weich aus, harmonisch. Er zeigt auch physisch, dass er auf einem anderen Level denkt, fühlt und lebt als seine Jünger. Sein Look, die weite Hose und das Netzshirt, alles scheint zu fließen und er damit ebenfalls.
Dadurch, dass Jesus Kreuzigung zum Medienspektakel mutiert, ist man als Zuschauer wirklich großformatig und hautnah dran. Lukas Mayer als sterbenden Jesus zuzuschauen ist grausam und nur schwer auszuhalten, so eindrücklich verzerren sich seine Gesichtszüge, so schwer atmet er, so qualvoll leidet er.
Beeindruckend, dieser Lukas Mayer als Jesus.
Judas: Til Ormeloh
Til Ormeloh hat einen schweren Job in dieser Inszenierung: Er ist Darsteller der eigentlichen Hauptperson, aus deren Sicht die ganze Geschichte eigentlich erzählt wird. Und geht doch – aus Inszenierungsgründen – trotz absolut hervorragender darstellerischer und gesanglicher Leistung einfach ein wenig unter.
Andreas Gergen setzt in seiner Inszenierung so sehr auf den Konflikt einer starren Machtkirche gegen Jesus und seine Nächstenliebe, dass Judas intrinsische Motivation fast außen vor bleibt.
Dabei beginnt er kraftvoll, stürmt auf Jesus und Maria ein und muss doch immer wieder feststellen, dass er und Jesus aneinander vorbeireden. Sie beide, die sich eine gleiche Welt für alle wünschen, kommen nicht auf derselben Ebene zueinander. Sehr schön bildlich über die Treppe zum Appartement verdeutlicht.
Als er Jesus verraten will, wird Judas Figur aber sehr viel genommen, als er per Waterboarding dazu gezwungen wird. Aber natürlich geht es darum, die Machtverhältnisse zu visualisieren und zeigt plakativ, mit welchen Methoden vorgegangen wird.
Judas hat so aber nicht mehr die Rolle des Handelnden inne, er wird von der Kirche in die Rolle des Sünders gedrängt. Wenn man sich dies so durch den Kopf gehen lässt, fallen einem schon Parallel zu unserer Realität auf: In dieser macht die Kirche ebenfalls Menschen zu Sündern, die keine sind. Wiederverheiratete zum Beispiel werden von der Kirche in die Rolle der Sündern gedrängt, wenn auch nicht mit Waterboarding.
Interpretation dieser Darstellung ist also möglich, aber für mich persönlich nicht überzeugend und nimmt Judas und auch seine Beziehung zu Jesus die Präsenz.
Dabei hat Til Ormeloh wirklich alles gegeben. Ich war fasziniert von seiner Stimme, die ich als sehr gerade und kraftvoll empfunden habe. Eine tolle Vorstellung, wirklich!
Maria Magdalena: Dorina Garuci
Dorina Garuci habe ich vor zwei Jahren in der gleichen Rolle in der Inszenierung in St. Gallen gesehen. Und damals wie heute: für mich ist sie perfekt in dieser Rolle. Ihre Stimme hat so viel Volumen, sie nimmt sich dadurch so viel Platz ohne dabei beherrschend zu wirken. Ihre Art zu singen lässt Maria Magdalena willensstark klingen, mit Energie: eine Frau der Tat. Ihre kehlige Art kann bestimmend, aber auch sexy klingen.
Das passt einfach alles zusammen: Maria Magdalena ist eine Frau mit Vergangenheit, das manifestiert sich in ihrem Sohn. Dorina Garuci stattet Maria Magdalena mit der Art und Stärke einer Mutter aus, mit der Erfahrung einer Frau, die schon viel erlebt hat, sich oft behaupten musste und versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen.
Und Maria ist die einzige, mit der sich Jesus auf einer Ebene sieht. Sie schreitet ein, als Judas Jesus in seiner Wohnung angeht, sie schmeißt ihn lautstark raus, denn sie lebt in steter Sorge um ihre Sohn und um Jesus:
I don’t know how to love him hat hier für mich eine völlig anderen Dreh bekommen: Es war für mich nicht dir Überlegung, wie sie Jesus lieben kann, wie diese Liebe in ihr Leben trat und wie sie prinzipiell damit umgeht. Ich fand das eher situationsbezogen: Wie soll sie ihn in diesen Zeiten lieben? Ihr Umfeld hat sich verändert, wie es Judas besungen hat, sie spürt Gefahr. Es ist eher ein: wie kann ich ihn unterstützen? Wie wird es weitergehen, was passiert hier: „what’s it all about“ also eher auf die Situation bezogen, die ihr Sorge bereitet.
Wie jedesmal, wenn ich Dorina Garuci gesehen habe, wieder eine ganz starke Leistung.
Pontius Pilatus: Marc Clear
Marc Clears Interpretation des Pilatus war von Anfang bis Ende total überzeugend. Anders, als ich es je vorher in anderen Inszenierungen wahrgenommen hatte, lässt Marc Clear einen Blick auf Pilatus zu, der Parallelen zur Figur Jesus Christus ermöglicht:
Zum ersten Mal betritt Pilatus die Bühne, wenn er über den Traum singt, der das Schicksal Jesu vorwegnimmt. Er erzählt diesen nicht sich selbst oder jemand anderem, sondern legt die Dinge – ganz priesterlich – im Zwiegespräch mit Gott dar. Sehr weich wirkt er da, sucht in sich die Deutung, setzt sich damit auseinander. Er ist offensichtlich ein Mann, in dem Gott tatsächlich eine Rolle spielt.
Auch offenbart sich hier die erste Parallele zu Jesus: Beide sind die eher ruhigen Anführertypen, die einer aktiv vorwärts arbeitende Anhängerschaft/ Priesterschaft voran stehen.
So steht Pilatus zwar den Hohepriestern vor, ist aber nie Teil ihrer Gruppe. Es bleibt eine Distanz spürbar zwischen ihm und den restlichen Klerikalen auf der Bühne, die nicht nur auf der Hierarchie fußt, sondern speziell auf unterschiedliche Gesinnung gründet. Auch beim ersten Verhör, das von Annas und Kaiaphas ersehnt und spürbar erregt verfolgt wird, ist Pilatus zunächst gar nicht in der Kirche, wohin man Jesus gebracht hat, sondern er hält sich davor auf, lässt sich von Annas lediglich die Akte bringen und bleibt auch da eher auf Distanz.
Und diese Idee fortführend, fühlte ich mich bei Pilatus Ausraster „die, if you want to“ an Jesus Gefühlsausbruch im Gethsemane „watch me die“ erinnert. Beide fühlen sich zu ihrer Entscheidung gedrängt.
Jesus: why should I die
Pilatus: but that is not a reason to destroy him
und unter Zwang:
God, thy will is hard
But you hold every cardYou have a duty
To keep the peace, so crucify him!
Ich bin sehr dankbar für diese Darstellung, denn sie hat mir einen neuen Zugang zu den Figuren eröffnet. Das ist immer sehr besonders, wenn das passiert. Marc Clear macht diesen Pilatus, der Jesus ähnlich ist, präsent. Dabei ist er durchweg authentisch. Zunächst ruhig und reflektiert muss er gegen seine innere Überzeugung handeln und Jesus dem Tod überantworten. Das macht er schauspielerisch perfekt.
Gesanglich klar und wunderschön war Marc Clears Pilatus für mich die beste Darstellung des Abends!
Herodes: Hans Kittelmann
Unter der Besetzung der Römer war Herodes Antipas der von den Römern eingesetzte einheimische Regent über Galiläa und damit der Juden. Regent über sämtliche katholischen Christen ist der Papst und so fällt in dieser Darbietung ihm die Rolle des Herodes zu.
Sofort als Papst auf den ersten Blick erkennbar, tanzt und singt er mit seinen Messdienerinnen im knappen glitzernden stilisierten Ministrantengewand und wird dabei ständig von Untergebenen beweihräuchert. Am Ende entblößt er mit seinen Strapsen sich und seine Schwäche nur überdeutlich.
Hans Kittelmann gibt den Herodes als einen sehr verstörenden Herrscher, entrückt von der Realität, der sowieso nicht daran glaubt, dass Jesus der Messias ist. Sehr Gekonnt ist Kittelmann durchweg sehr nah dran am Überdrehen, aber nicht drüber. Herodes macht Spaß und verstört gleichermaßen.
Kaiaphas und Annas: Alexander Alves de Paula und Mark Weigel
Diese beiden sind quasi die Aktivisten der Hohepriester. Sie geben sich beide extrem forsch in ihrer Art, Jesus zu vernichten. Schon zu Beginn sehen wir Annas in allen Szenen von Jesus mit den Jüngern als Paparazzi mit Kamera rumlungern, um Material zu sammeln, das gegen Jesus verwendet werden kann. Er tritt dabei immer so ein bisschen distinguiert auf.
Annas ist per se die treibende Kraft, aber auch Kaiaphas ist stets mittendrin, wiegelt das Volk mit auf, und holt sich tiefe Befriedigung im Tempel, wo er so richtig Geld verdient.
Das sie zu allem fähig sind, beweisen sie auch Judas: Er wird richtiggehend bedrängt, die Szene erinnert an Folter (Waterboarding) und Exorzismus.
Beide sind gesanglich spitze. Während de Paula als Kaiaphas eher geradlinig ist und auch singt, begeistert Mark Weigels dadurch, dass er fies ist. Nicht hinterhältig fies, sondern vehement, seelenlos, ja durchtrieben stattet er Annas aus, legt dabei aber in seine Stimme eine faszinierende Glätte, die gar nicht so kalt klingt, wie sie ist.
Petrus: Samuel Türksoy
Unser Petrus hier ist das Ebenbild von Ned Flanders aus der Serie The Simpsons. Ned Flanders ist der wohl frommste Christ in ganz Springfield. Er verpasst nie die Kirche am Sonntagmorgen und ist im Kirchenalltag fleißig beteiligt und probiert auch in seiner Freizeit, die Menschen von Gott zu überzeugen.
„Andere Menschen von Gott überzeugen“ – mit diesem Motto passt er schon zu den Aktivisten-Jünger, fällt halt nur optisch auf. Das ist schon eine starke Idee, denn die Verleugnung von Jesus durch einen Christ, der so fromm ist, wiegt zumindest gefühlsmäßig doppelt so schwer.
Fazit
Jesus Christ Superstar in der Inszenierung von Andreas Gergen in Nürnberg ist ein bildgewaltiges Spektakel. Es weicht durch viele neue Ideen von den üblichen, eher intimen Inszenierungen ab.
Dabei fühlte ich mich als Zuschauer bisweilen überfordert. Andererseits zieht es einen auch wegen seiner Gewaltigkeit, egal ob visuell oder ideell, in seinen Bann.
Eine schwere, aber außergewöhnliche und bildhafte Aufführung, die sich lohnt, denn auch die Darsteller sind ausnahmslos phantastisch!
Alle Fotos: Pedro Malinowski, Staatstheater Nürnberg
- Spektrum: Lexikon der Psychologie. Schaulust ↩
- Heiligenlexikon. Zahlenmystik ↩
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