Les Miserables am Gärtnerplatztheater in einer Inszenierung von Joseph E. Köpplinger ist die Erfüllung eines Musiktheatertraums: Jeder Song ein Kunstgenuss, jede Szene so schön wie ein Gemälde.
Der Welterfolg Les Miserables in einer Inszenierung von Gärtnerplatz-Intendant Joseph Köpplinger wird in der Spielzeit 2023/24 als Coproduktion der Theater St. Gallen und Gärtnerplatztheater aufgeführt. Die Premiere in St. Gallen war am 9. Dezember 2023, Rezension hier.
Die Premiere in München fand am 22. März im Gärtnerplatztheater statt. Dort musste Valjean-Darsteller Armin Kahl, schon nach kurzer Zeit durch einen Infekt außer Gefecht gesetzt, von Alternativbesetzung Filippo Strocchi ersetzt werden. Im ersten Akt gestaltete dieser die Rolle nur gesanglich aus dem Off, im zweiten Akt übernahm er den Part dann vollständig.
Nach einer also eher ungewöhnlichen Premiere wartete auf dieses besondere Stück in dieser fantastischen Inszenierung und mit Darstellern in Höchstform minutenlanger stehender Applaus.
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Für alle diejenigen, die St. Gallen nicht gesehen haben, steht die Handlung in der Stückbesprechung von St. Gallen beschrieben.
Inszenierung in St. Gallen/ Gärtnerplatztheater (Regie: Josef E. Köpplinger)
Bühne (Rainer Sinell) und Licht (Andreas Enzler)
Das Bühnenbild lässt gerade Solo-Agierenden viel freie Fläche, die ganz auf deren Präsenz setzt und die die Darsteller auf beeindruckende Weise nutzen. Das durchdachten Bühnenbildkonzept aber wirkt auch noch durch Kulissen:
Hohe Häusersilhouetten ragen bisweilen an den Seiten düster auf und umrahmen die Szenerie. Werden sie in die Mitte der Bühne gefahren, beengen sie die Spielszene in beklemmender Weise. Insgesamt ist die Wirkung auf der Bühne gerade im Spielort Paris, als auch insbesondere in den Szenen, in denen Javert auftaucht, eher an das Konzept des Film Noir angelehnt, was ich für ungeheuer stimmig empfinde.
Herzstück der Inszenierung ist die Drehbühne. Sie bringt die Szenen von hinten nach vorne auf die Bühne und erst, wenn die Szenerie nach vorne gedreht ist, erwachen die Protagonisten zum Leben. Danach wird die Szene nach hinten gedreht und verschwindet hinter einem schwarzen Vorhang. So gleiten Szenen geräuschlos ineinander über. Die Drehbühne lässt zum Beispiel auch die Vorderansicht des Wirtshauses der Thenardiers zu sowie auch deren Küche, so dass der Spielort sogar innerhalb eines Liedes gewechselt werden kann.
Eine intensive Szene stützt sich ebenfalls auf die Drehbühne: Am Ende ihres Lebens und Leidens sieht Fantine, auf dem Sterbebett liegend, ihre Tochter als Fantasiebild vor sich. Schließlich stirbt sie, und die Szenerie verschwindet mit der Drehbühne nach hinten, während kleine Cosette nach vorne kommt und über ihre Fantasie einer liebenden Mutter singt, die sich um sie kümmert.
Desweiteren gibt es eine Brückenkonstruktion aus Metall. In der Strafkolonie ist sie der Platz der Aufseher, sie erlaubt es aber Javert auch immer wieder bildlich, sich über die anderen zu erheben. Doch wer hoch steigt, der fällt tief: Es ist eben jene Brücke, von der sich Javert in den Selbstmord stürzt.
Für das Ensemble ist die Brücke Unterschlupf und Präsentierteller für die Huren am Hafen.
Eine umfassend angelegte und durchdachte Lichtregie unterstützt dieses Bühnenbild. Gleich zu Beginn sehen wir die Häftlinge im Straflager im Steinbruch. Die Scheinwerfer symbolisieren die unbarmherzigen Sonnenstrahlen, unter deren Gluthitze die Insassen leiden.
Wie schon vorher ausgeführt, bekommt Javert immer die eher gedrückte Stimmung, allerdings scheinen die Sterne einzeln vor schwarzem Nachthimmel – ebenso übrigens bei Eponine, die nachts einsam ihre Kreise in Paris zieht und fantasiert, Marius wäre bei ihr.
Die toten Studenten erscheinen bei Dunkles Schweigen an den Tischen im Hintergrund im hellsten Licht des Jenseits, die Stimmung in den Abwasserkanälen unter Paris ist gespenstisch.
Ein ganz großes Lob für diese stimmige Bühne und Lichtregie.
Kostüm (Uta Meenen)
Die große Klammer um das Stück, also Anfang und Ende, bestreiten Jean Valjean und Fantine: Valjean begleitet Fantine beim Sterben – am Ende kommt Fantine zurück und begleitet Valjean in den Tod. So grob lässt sich die Beziehung gewissermaßen als ein Idealbild zusammenfassen: ein Geben und ein Nehmen, ein füreinander Dasein. Schon immer drängte sich mir die Vorstellung auf, dass, wäre Fantine nicht gestorben, Valjean und sie das perfekte Paar wären und mit Cosette als Tochter eine liebevolle Familie gebildet hätten.
Dass sich diese Idee mir noch viel deutlicher aufdrängt als sonst, dafür trägt hier die Kostümidee die Verantwortung: Valjean kommt schon zu Beginn im Straflager nicht im gelbbraunem Hemd daher, wie man es aus den meisten Inszenierungen kennt. Er trägt einen graublauen Kittel. Später sieht man Fantine in der Fabrik in einem ähnlichen blau, auch Cosette, die bei den Thenardiers schuften muss, trägt eine ähnliche Farbe (wie alle niederen Arbeiter auch). Mir ist es, als würden hier diese drei Menschen im Stück miteinander verbunden, was ich wunderschön finde, da sie tatsächlich nicht ein einziges Mal miteinander zu dritt sind.
Die große Cosette tritt wiederum in blau auf. Diesmal ist es kein verblichenes graublau, sondern ein strahlendes, tiefes blau. Zum einen hat sie die schäbige Umgebung von früher hinter sich gelassen, andererseits ist blau auch immer beschrieben als Kennzeichen für einen Rückzug ins innere, eher also Introvertiertheit. Das junge Mädchen hat bis dato auch wenig Möglichkeiten, sich nach außen zu öffnen. Mit ihrem hellblau strahlenden Unterkleid präsentiert sich uns Cosette als strahlende, aber schüchterne Unschuld (Blau wird auch von jeher der Jungfrau Maria zugeordnet). Marius übrigens trägt übrigens bei seiner ersten Begegnung mit Cosette ebenfalls blau!
Ihr Vater Jean Valjean dagegen ist in violett gewandet: Es ist das Symbol für Demut, Tugend und Buße und nichts anderes könnte besser zu dieser Figur passen, genauso wie die ebenfalls mit violett assoziierten Attribute Einsicht und Tiefgründigkeit.
Die Studenten sind eher neutral gekleidet, Hauptfarbe ist beige und Brauntöne. Da ist die Assoziation zur Erde nicht weit. Die Studenten sehen sich als die Geerdeten, Vertreter des einfachen Volkes, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen. Zugleich ist Beige assoziiert mit Zeitlosigkeit. Braun ist die Farbe der Kraft und der Reife. Andersherum kann Beige auch schmutzig wirken, so wie die Studenten in den Augen von Javert wohl als der letzte Dreck gelten.
Spannenderweise trägt Enjolras auf den Barrikaden nicht das rote Gilet mit der goldenen Einfassung, mit dem er sonst so gut wie immer abgebildet ist. Er wird so nicht zum militärischen Anführer stilisiert, sondern bleibt auch als Anführer einer unter Gleichgesinnten. Ich fand das sehr stimmig, es bringt das Ansinnen der Gruppe mehr hervor, als wenn das Augenmerk auf einen eher militärisch-fanatischen Enjolras gelenkt wird. Außerdem fehlen den Studenten die tricolore-Accessoires, was das ganze ein wenig weg von Frankreich rückt und in Summe universaler wirkt.
Wie die Studenten als Gruppe präsentieren sich auf den Barrikaden auch die Frauen als Einheit: zu den graublauen Arbeiteroutfits mischt sich auf irgendeine Weise Rot, die Farbe der Leidenschaft, aber eben auch des Blutes.
Bei Javerts Outfit gibt es keine Überraschungen: Er trägt schwarz. Eine schwarze Aura ist für das Gegenüber immer einschüchternd.Doch Schwarz hat auch die Bedeutung von Prestige und von Macht.
Kostüm, Bühnenbild und Lichtregie sind so sorgfältig aufeinander abgestimmt, genau wie die choreographierten Lauf- und Bewegungswege der Darsteller. Zusammen ergibt das eine tief beeindruckende visuelle Schönheit.
Die Gewerke greifen so schön ineinander, dass jedes Szenenbild wie ein Gemälde wirkt. An den folgenden Bildern seht ihr hoffentlich, was ich meine:
Orchester
Welch ein Segen, ein solches Liveorchester wie das des Gärtnerplatztheaters zu hören!
Koen Schoots sagt im Interview, er sei mit der Zeit gelassener geworden, würde nicht mehr alles dem Tempo unterordnen. Das spürt man. Das Stück bekommt eine ganz eigene Dynamik. Er lässt sich an den richtigen Stellen ein wenig mehr Zeit, baut Spannung ein klein wenig anders auf. Es steuert geschickt auf die Höhepunkte zu, um dann in die Vollen zu gehen. Die Les-Mis-Dampflok rollt nicht einfach über alles drüber. Das muss man sich trauen, sagt Koen Schoots auch selber. Und für mich ist es voll aufgegangen.
Das Orchester des Gärtnerplatzes ist an Großartigkeit nicht zu überbieten. Die Tonmeister haben ebenfalls ganze Arbeit geleistet.
Koen Schoots am Dirigierpult ist aber auch ein gewaltiger Dirigent und Arrangeur. Auf der einen Seite achtet das Orchester auf die Zartheit, mit der zum Beispiel einFilippo Strocchi seine Töne ansingen kann oder die Zerbrechlichkeit einer Fantine. Balanciert geschickt es aber dann mit den wachsenden Emotionen von Eponine oder Javert, um dann in waghalsigen Crescendi seine ganze Kraft zu entfalten. Hier spitzen sich die großen Balladen unaufhaltsam zu bis man das Gefühl hat, entweder zerspringe jetzt ich oder der Darsteller auf der Bühne.
Ein absoluter Kunstgenuss und grandioses Beispiel, wie sehr ein Orchester die Spannung für den Zuschauer mittragen und so seine Emotionen mitsteuern kann.
St. Gallen und Gärtnerplatztheater
Ich berichte von meinen eigenen Empfindungen, bei denen im Vordergrund nicht die Bewertung steht, welches Haus was besser oder schlechter gemacht hat. Denn Empfindungen sich subjektiv. Aber Vergleiche veranschaulichen halt eben doch auch, wie und wo Kleinigkeiten anderes bewirken. Deshalb steht hier bewusst kein St. Gallen gegen München, sondern und.
Ein Vergleichsmerkmal ist auf alle Fälle die Bühne: Ich weiß nicht, ob die Bühne in St. Gallen tatsächlich größer ist, sie wirkt auf alle Fälle deutlich größer. Das Zuschauerrund ist viel weitreichender. Im Gärtnerplatztheater sitzt man auf allen Plätzen relativ nah am Geschehen, das auf dem wenigeren Raum kompakter wirkt.
Das macht das Musicalerlebnis zu einem anderen. In St. Gallen ist die Übersicht über das Geschehen faszinierend. So entfaltet sich der Verlauf der Handlung als sehr spannend, wie alles zusammenwirkt und das Tuch der Geschichte webt. Die Hintergrundfiguren wirken lebendiger, weil der Blick des Zuschauers mehr in die Breite geht. So wird man offener für das, was die Nebenfiguren alles so machen.
In München wirken Solonnummern oder Duette intensiv und plastisch. Alles wirkt ein wenig prägnanter, körperlicher, näher, auch ein Stück weit intimer. Der Fokus beim Sehen liegt mehr auf den einzelnen in der jeweiligen Szene aktiven Figuren und deren Innenschau. Man nimmt die Energie auf der Bühne anders wahr, die Körperlichkeit ist deutlicher erlebbar. Es wirkt so mehr wie ein Kammerspiel.
Wenn da ein Stuhl fliegt wie im Duell am Totenbett von Fantine, dann ist das auf der kleineren Bühne schon nochmal eine Nummer krachender – im wahrste Sinne des Wortes. Dass auf den Barrikaden das Blut tatsächlich spritzt, ist mir in St. Gallen so gar nicht aufgefallen, macht aber das Erleben der Barrikadenszene in München noch viel schockierender.
Einen ähnlichen Schockmoment erlebt der Zuschauer schon zu Beginn des Stücks, wo ein Wachmann einen Insassen des Straflagers erschießt. Dies hatte ich so noch in keiner Inszenierung wahrgenommen, es unterstreicht, wie kompromisslos hier gottgefälliges – wertes – von unwertem Leben getrennt wird.
Timing
Es fiel vor allem in München auf, wie gerade die Hauptakteure wunderbar die Szenen ausspielen bis ins letzte Detail, wieviel Zeit man sich manchmal lässt. Das fiel auf, gerade, weil die Inszenierung alles sonst so energetisch vorwärts treibt.
Das Ende der Szene mit dem Bischof von Digne ist da so ein Beispiel: Wie lange Armin Kahl als Valjean und der Bischof sich anblicken, während dieser sich langsam mittels Drehbühne entfernt. Das ist so ein wie oben angesprochener, auskostender Moment. Und das betont wiederum ganz intensiv hier zum Beispiel die Wirkung , die die Tat des Bischofs auf Valjean hat.
Ganz kleine Gänsehaut-Momente, die man mit Sicherheit selten so bewusst wahrnimmt. Was aber für alle bleibt, ist das Gefühl eines grandiosen Timings, einer passenden Geschwindigkeit und so das perfekte Ineinandergreifen von Vorwärtsspielen und Innehalten und Auskosten.
In München hört man so wohl auch das beste Duell eines Valjean versus Javert seit langem. Innerhalb des Stückes geraten die Protagonisten aneinander, gehen wieder auseinander, gibt es ein Atemholen und einen vorerst letzten Schlagabtausch. Dieses Aufeinandertreffen zweier Gewalten, die so universell entgegengesetzt sind, gerät besonders in gleicher Weise überwältigend.
Es wird da schon klar: Es wird erst Ruhe herrschen, wenn eine Seite gewonnen hat, so, wie es Javert auch am Ende vor seinem Selbstmord singt:
Es gibt nichts, was gemeinsam uns wär‘.
Es heißt: Entweder ich – oder er!
Und es sind immer ganz besondere Vorstellungen für mich, wenn irgendwo im Stück – auch textlich – klar wird, was vorher als Gefühl schon wahrgenommen wurde. Da hat Köpplingers Regie wohl ganz klare Ideen und Anweisungen weitergegeben und die Darsteller haben das ganz feinfühlig umgesetzt, so dass in einer durch Mittel der Inszenierung hervorgerufenen Vorahnung später, teilweise viel später, durch den gesungenen Text bestätigt werden.
Darsteller und ihre Rollen
An dieser Stelle gehe ich auf die Ausgestaltung der Rollen ein, so wie ich sie wahrgenommen habe. Das ist alles Interpretation meinerseits, jeder Zuschauer kann das anders wahrnehmen, und an anderen Tagen mit anderer Besetzung kann sich schon wieder eine andere Dynamik entwickeln.
Javert: Daniel Gutmann
Daniel Gutmann spielt seinen Javert streng und militärisch. Javert ist ein Mann, der die Welt aufteilt in eine richtige Seite und ein falsche, beides ist gottgegeben. Er hat sich bewusst für die in seinen Augen richtige entschieden, hat dafür gearbeitet und verfolgt wohl auch deshalb seine Idee dieser Welt gnadenlos und gewaltsam.
werde nicht ruhen, bis das Los sich erfüllt
So schwört er, Valjean zu fassen, um die gottgegebene Ordnung aufrechtzuerhalten.
Gutmanns Javert legt dabei auch stimmlich eine Verbissenheit an den Tag, die sich bis zum Fanatismus steigert.
Mit scharfen, stechenden und dennoch ganz glatten Tönen singt er seine Verachtung auf den Abschaum der Welt herab. Seine Stimme ist so durchdringend, dass man meinen könnte, er spräche die ganze Zeit durch ein Megafon. Soldatisch, eisern, kalt.
Jetzt gibt es Lieder, die jeder kennt, die man immer hören kann und sie auch schon hunderte Male von verschiedenen Interpreten gehört hat. Und manchmal passt genau so ein Lied so auf einen Darsteller, dass du es nie wieder von einem anderen hören möchtest. So ist es mir zum Beispiel gegangen mit „Kalte Sterne“ aus Ludwig2 und Jan Ammann. Unvorstellbar, dass mir das jemand näher bringt als er. So ist es mit Gethsemane und Drew Sarich.
Und so ist es jetzt mit Der Stern und Daniel Gutmann.
Das ist einfach perfekt. Solche Momente vergisst man NIE. Gutmann singt und spielt dieses Stück wie von einem anderen „Stern“.
Er steigert sich da stimmlich gemeinsam mit dem Orchester so rein, wird furioser und lauter bis zum „Tor der Seligkeit“. Dieses Zusammenwirken von Gutmanns Stimme mit dem Orchester, mit dem er es auch mühelos aufnimmt, ist ein phänomenales Erlebnis.
Die Jagd auf Valjean wird zu seiner fanatisch zu verteidigenden Lebensaufgabe. Die Konfrontation zweier Universen nimmt die Auslöschung einer beiden Sichtweisen vorweg. Wie der Schriftzug, der die Aufführung eröffnet, sagt: Jeder Fanatismus endet im Fatalismus.
Daniel Gutmann verkörpert genau das: Diese Kompromisslosigkeit, einen gnadenlosen Schwarz-Weiß-Fanatismus. Man kann förmlich spüren, wie das Adrenalin ihn durchrauscht, als er an der Barrikade gefesselt auf Valjean trifft. In den Abwasserkanälen beim finalen Aufeinandertreffen ficht er hier deshalb seinen Lebenskampf – nicht mit Valjean, sondern mit sich selbst. Er müsste sich Valjean ja nicht unterordnen. Aber er kann persönlich keine andere Lebensweise neben seiner existieren sehen. Das wird ihm bewusst, und ab diesem Zeitpunkt gibt er seinen Kampf verloren.
Er verliert diesen Lebenskampf, ähnlich, wie die Studenten den ihren verlieren. Das ist durchaus parallel gestaltet: Die Studenten kämpfen für ihre Idee von Gerechtigkeit, es ist ihr Lebenskampf und sie sehen ihn schließlich verloren gehen. Aber sie bleiben sich treu:
Lebend kriegen sie uns nicht.
Auch hier wieder der Bezug zum eröffnenden Zitat: Jeder Fanatismus endet im Fatalismus. Interessanterweise fällt Enjolras erschossen über ein Geländer, über ein solches stürzt sich auch Javert in die Seine.
Javerts Sprung ins die Seine ist eindrücklich gelöst: Zunächst quittiert Javert seinen Dienst, indem er seine Uniform und die Zeichen seiner gesetzlichen Macht ablegt. Schließlich öffnet er das Haarband, bis ihm die Strähnen über die Schulter hängen. So sieht er fast aus wie zu Beginn der verhasste Valjean im Straflager. Hier schließt sich der Kreis. Dann springt Javert im Bühnenhintergrund von der Brücke, man sieht nur das Weiß seiner Hemdsärmel in die Tiefe stürzen.
Die Ordnung der Welt versinkt im Schatten
Das macht mir im Nachhinein noch Gänsehaut: Nicht nur die Ordnung versinkt im Schatten, sondern mit diesem Sprung verschwindet auch Javert, der die Verkörperung jener Macht darstellt, im Dunkeln.
Eine tief emotionale Szene.
Valjean: Armin Kahl
Armin Kahl startete schauspielerisch grandios, aber gesanglich war ihm gleich anzumerken, dass etwas nicht stimmt. Innerhalb kürzester Zeit setzte ihn ein Atemwegsinfekt gesanglich Schach matt.
Filippo übernahm stimmlich aus dem Off und Armin Kahl spielte weiter. Das wird hin und wieder so gelöst. Erst in der Woche vorher war Kahl selbst als Einspringer unterwegs gewesen nach Linz, um in genau so einer Situation bei Tootsie der Hauptfigur die Stimme zu leihen, während der Darsteller auf der Bühne nur spielte.
Vom ersten Ton Strocchis habe ich gemerkt, dass die Stimme getauscht hat. Für geübte Hörer ist das nämlich eine wirklich sehr seltsame Sache, den einen zu sehen und den anderen zu hören.
Aber auch ohne Stimme brachte Armin Kahl einen umwerfenden Valjean auf die Bühne. Sein Playback war perfekt (und ich habe wirklich die ganze Zeit darauf geachtet). Wieviel Profi muss man sein, um das alles so reibungslos vonstatten gehen zu lassen, dass viele gar nichts davon merkten?
So ein klares, wundervolle Zusammenspiel der beiden! Und so traurig diese Sache für Armin Kahl auch ist, die eigene Premiere abbrechen zu müssen: Es war für mich als „Vielseher“ eine ganz besondere Vorstellung, gerade weil da zwei Vollprofis mit so viel Gefühl diese eine Figur zu einer Einheit gemacht haben.
Herzerwärmender Applaus für Armin Kahl deshalb in der Pause, in der Intendant und Regisseur des Stückes, Joseph Köpplinger, beide Darsteller auf die Bühne holte und den Sachverhalt klärte.
Lesen Sie mehr über Armin Kahls Darbietung in der Rezension aus St. Gallen.
Valjean: Filippo Strocchi
Auch in St. Gallen schon so gesehen und heute wieder bestätigt: Ein Wahnsinn, dieser Mann. Zunächst mal hat mich gepackt, wie zart er Töne ansingen kann und wie sanft er sie am Ende verklingen lässt. Ich fühl mich da so umarmt vom Ton. Das ist so wohlig, so einladend und vor allem in den Tiefen voll und warm.
Filippo Strocchi hat da mit der kleinen Cosette so eine herzerwärmende Szene, als er sie im Wald aufgabelt. Da singen die beide ein kurzes Duett ohne Text, das auf Cosettes In meinem Schloss beruht. So behutsam, wie er sie anfasst, so behutsam, wie er sie ansieht, so behutsam und liebevoll singt er auch. Der großen Cosette gegenüber muss er Strenge zeigen, die auch konsequent, aber ebenfalls von einer großen Zartheit.
Ganz wunderbar hat er bis dahin die Figur schon entwickelt: Vom hassenden, die Welt ablehnenden Verurteilten zum Wohltäter, der sich zunächst um finanzielle Sicherheit kümmert, später dann auch um Seelen.
Und ich geleite sie ins Licht
Valjeans Leben, von dem er am Anfang nur weiß, dass er es zum Guten ändern möchte, bekommt mit Cosette endlich den passenden Lebensinhalt, um diese Aufgabe zu erfüllen und er macht das mit Herz.
So, wie der Bischof sang:
Und ich kauf für Gott dein Herz.
Genau dieses Herz ist ständig spürbar bei Strocchis Valjean.
Valejan altert nicht nur optisch sichtbar, sondern er wird zunehmend vorsorgender. Strocchi ändert seine Haltung, seine Statur strahlt zunehmend Verantwortungsbewusstsein aus. Es zeigt sich, wie er an seiner Lebensaufgabe wächst. Diesen dienende Teil des Charakters zeichnet Strocchis Valjean aus, ohne, dass er dabei andere Facetten vernachlässigt.
Denn wenn es darum geht, diese Lebensaufgabe zu verteidigen, tut er es körperlich und stimmlich klar: Wenn er am Totenbett von Fantine Stühle schmeißt und am Ende Javert in seine Schranken weist, um Marius zu retten. Da nimmt seine Stimme die Lautstärke Javerts an.
Wie vorhin schon beschrieben ergreift es mich, wenn Textzeilen aus verschiedenen Szenen des Stückes plötzlich ineinadergreifen, wie man es vorher vielleicht noch nicht zusammengebracht hat. Das liegt ja am Zuhören. Und egal, wer singt, man hört es ja immer ein wenig anders. Diesmal habe ich für mich begriffen, dass Marius in seinem Brief an Cosette schon schreibt:
wird Gott mir gnädig sein
…bring mich heim
Und Filippo Strocchi hat das so gesungen, dass man das bring ihn heim natürlich mit dem später folgenden Textzeile im bekannten Showstopper in Verbindung bringen muss. Er ist der Verantwortliche für die beiden jungen Menschen. Er nimmt sich ihrer an, ihrer Idee, ihrer Leben.
„Bring ihn heim“ ist als Gebet angelegt, hier aber eine sanfte Darlegung inneren Gefühle. Am Ende wird das flehender. Man hört ein innere Sehnsucht, einen ganz tief gehegten Wunsch: Er hat Cosette immer beschützt und jetzt liegt deren Lebensglück, für das Valjean sich verantwortlich fühlt, nicht mehr in seinen Händen. Es ist ein sehr sanftes „sich einer höheren Macht anvertrauen“.
Ich liebe diese Darstellung, die Ausgestaltung der Rolle, die Stimme. Filippo Strocchi ist ein wirklich besonderer Valjean.
Eponine: Katia Bischoff
Sie fühlt ihren Traum vom Glück mit Marius. Wenn Katia Bischoff ihre Augen schließt und von ihrem Lebensglück singt, das sie an Marius geknüpft hat, dann fühle ich ihren Traum vom Glück bis in den Zuschauerraum. Genau das braucht es für die Rolle der Eponine, dann wird ihre Geschichte zur tragischen emotionalen Achterbahnfahrt. Denn wie sonst soll man einen Mensch verstehen, der sich bereitwillig in die Schusslinie begibt mit den Worten: „Mein Platz ist neben dir.“
Katia Bischoffs Eponine versteht man da vollkommen. Sie gibt sich ihrem Marius gegenüber selbstbewusst-keck und das ist sie in seiner Gegenwart ja auch. Dann ist sie lebendig, dann hat sie eine Idee vom Leben, dann hat ihr Leben einen Wert.
Eponine gibt es nur mit Marius zusammen. Ohne Marius gibt es für Eponine keine Zukunft:
Er fehlt mir, die Welt verliert die Farben
Die Bäume kahl, die Menschen fahl, die Straßen voller Narben
Und Eponine geht diesen Weg konsequent: Sie stirbt, aber für sie ist das eben das notwenige Opfer. Es ist eine sehr sanfte Art eines Fanatismus, der in den Untergang führt.
Sie kann ihren Marius eh nicht haben. Und ihr Tod beschert ihr einen letzten Moment mit ihm. Hier verliert die Welt für sie augenscheinlich ihre Farbe: Sie verliert Blut, sie verliert ihre Farbe.
Katia Bischoff ist so eine zarte Person, die so gar nicht in die raue Welt der Straßen von Paris passt. Als Kind im Gegensatz zu Cosette behütet, hat sich Eponine die Zartheit dieses kleinen Mädchens behalten.
So träumt die erwachsene Eponine von einem anderen Leben, so wie einst die kleine Cosette und beneidet diese auch offen.
Thenardier: Alexander Franzen
Dieses Inszenierung hat ja für mich viele Matchwinner. Alle ausnahmslos grandios, einige mit einer Leistung, die jeden Preis wert wäre, zum Beispiel Wietske van Tongeren. Und dann rumpelt da nach einer halben Stunden noch Alexander Franzen auf die Bühne!
Ich tu‘ mich mit dem Thenardier immer ein bisschen schwer, weil der schlecht zu fassen ist. Aber das ist ja auch gut so, denn so ist die Figur wohl auch kreiert. Tatsächlich eröffnet das einen immensen Spielraum, wie die Figur angelegt werden kann.
Jogi Kaiser hat dem Wirt eine Schäbigkeit verpasst, die seinesgleichen sucht. Bei ihm hatte ich das Gefühl, der ist so richtiger Abschaum, ganz tief gesunken (siehe St. Gallen).
Alexander Franzen nimmt Thenardier diese Abgerissene ein wenig und setzt an diese Stelle – gerade bei Herr im Haus – auf eine gewollte, leichte Showman-Attitüde. Gewollt deswegen, weil er seine Gäste lächerlich findet und sie verachtet. Aber sie auch braucht. Da wird er dann zum Abzocker. Nicht wie Jogi Kaiser als Abschaum. Sondern gewollt und auch ein Stück fordernder, aggressiver. Die Abzockerhaltung ist laut und skrupellos, entwickelt sich aber von der Art her eher von aggressiver Bauernschläue zur offenen Bereitschaft für Verbrechen.
Die Stimmfarbe von Alexander Franzens Stimme ist einmalig. Eine Stimme, die so raumgreifend klingt, gibts nicht oft.
Manchmal spielen die Thenardier-Darsteller mit der Stimme absichtlich den Abgerissenen, klingen ein wenig versoffen, kehlig. Im Vergleich dazu wirkt Franzen klar und laut. Er wirkt damit erschreckend penetrant, was der Figur dieses Unangenehme verleiht. Ein furchtbarer Typ, dieser Thenardier – aber auf der anderen Seite doch irgendwie faszinierend, wie er sich so durchs Leben gaunert.
Franzens gestaltet zum voluminösen Gesang seine Figur mit Mimik und großer Gestik und wirkt damit absolut einnehmend. Ich kann das nur schlecht beschreiben, aber dieser Thenardier ist so präsent, so da. Das passt so gut, denn tatsächlich taucht diese Figur immer wieder auf, an allen möglichen Plätzen in Frankreich und allen Stellen Valjeans Leben.
Das Leben hat Thenardier an den Rand gedrückt und er ist frech und zunehmend aggressiv genug, sich seinen Platz zurückzuerobern auf Kosten anderer.
Im Zusammenspiel mit der herrlich prolletig agierenden Dagmar Hellberg ergibt das einen Genuss erster Güte. Für mich verhält sich dieser Thenardier wie mit Gutmanns Javert: Ich will nie mehr einen anderen hören!
Madame Thenardier: Dagmar Hellberg
Dagmar Hellberg spielt eine einfache Frau, die das Leben in diese ordinäre Rolle gezwungen hat. So ist sie genervt und frustriert von Allem und Allen.
Dagmar Hellberg ist eine Urgewalt – bissig, scharf, selbstbewusst und wunderbar ordinär. Ihre Stimme lässt sie so klingen wie Madame Therandier eben ist: nervig, maulig, laut, manchmal nölend, manchmal verachtend. Aber irgendwie klingt sie immer positiv. Sie ist auch der Teil des Ehepaares Thenardier, die sich vor Lachen ausschütten kann: ordinär und schadenfroh.
Köpplinger und das Kreativteam haben da ein sehr perfektes Paar gecastet!
Marius: Florian Peters
Zuerst gesehen habe ich ihn als Einspringer in St. Gallen und war sofort begeistert; nun durfte ich Peters bei der Premiere in München erleben. Florian Peters ist wohl der Marius, der von allen dreien am jugendlichsten wirkt. Der zunächst eher ruhige und ernsthaftere des Studentenduos Enjolras und Marius überrascht im Liebesreigen mit Cosette, wo er den Kopf verliert.
Ich weiß nicht, ob ich schon jemals einen Menschen so strahlen gesehen habe wie Florian Peters, wenn er seine Cosette ansieht! Er sorgt für greifbares Herzklopfen.
Man nimmt ihm seine Textzeile sofort ab, in der er singt, Cosette sei …
Wie ein Ausbruch von Licht.
Ja, genau das spiegelt Florian Peters wieder: Bis ins Mark ist er getroffen, überwältigt, gepackt, „erleuchtet“. Und über Peters Spiel an dieser Stelle assoziiere ich an dieser Stelle auch gleich Valjeans Zeile, wie er Fantine verspricht: Ich führe sie ans Licht.
Peters ist ein spontanverliebter, unbedarfter junger Mann. So ernsthaft, wie er seine Aufgabe auf der Barrikade angeht, so ernsthaft verliebt er sich in Cosette.
Gerade Eponine gegenüber ist er deshalb nicht sehr feinfühlig. Tragischerweise versteht er das erst, als Eponine in seinen Armen stirbt. In tiefer Ernsthaftigkeit begleitet er sie in den Tod, ein wirklich wunderbar harmonisches Sterbeduett erklingt da auf den Barrikaden.
Enjolras: Merlin Fargel
Enjolras ist einer der Studenten, die gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu Felde ziehen.
So eine tolle Rolle und so ein toller Merlin Fargel.
Tut sich zunächst zwar als Anführer hervor, aber mehr als gleicher unter gleichen, und sticht nicht durch sein Outfit hervor. Möglicherweise wird hier gegen das Stereotyp eines fanatischen Anführers gearbeitet. Es geht mehr um die identitätsstiftende Bewegung einer ganzen Gruppe, was ich überaus sinnig finde und den ganzen Barrikadenkampf in Richtung eines tiefen kollektiven Wunsches nach Veränderung rückt.
Er ist aber hier in München in meinen Augen auch ein bisschen vehementer in dem, was er will und was er von anderen verlangt. Sein Art des Anführens ist weniger von Heldentum geprägt als von Verantwortungsbewusstsein. Er fühlt eine Verantwortung, die ungerechten sozialen Verhältnisse der damaligen Zeit zu ändern. Er ist nicht der kopflose Rebell, der Spaß am Kampf hat. Und dennoch sieht er diesem zwar nicht freudig, aber erwartungsfroh entgegen: so, wie Valjean seine Lebensaufgabe durch Cosette erfüllt sieht, so sieht Enjolras seine Lebensaufgabe durch die Barrikade erfüllt.
Als Eponine zusammenbricht, wenden sich Merlin Fargels Enjolras ebenso wie die Gruppe ab, um Eponine einen intimen Moment des Abschieds von Marius zu geben. In seinem Gesicht spiegelt sich die Schwere wider, diese grausame Begegnung mit der Realität auszuhalten.
Aber er geht seinen weg konsequent zu Ende und als er als letzter auf der Barrikade stirbt, assoziierte ich das auch sofort mit „Ein Kapitän verlässt das sinkende Schiff als letzter.“
Fantine: Wietske van Tongeren
Wietske van Tongeren ist mein persönlicher Matchwinner – insofern man in so einer tollen Cast diesen überhaupt ausmachen kann!
Fantine ist Arbeiterin in der Fabrik von Valjean. Als ihre Kolleginnen dahinter kommen, dass sie ein uneheliches Kind hat, das bei Wirtsleuten aufwächst und für das sie finanziell aufkommt, wendet sich die ganze Horde der Arbeiterinnen gegen sie und schwärzen sie beim Vorarbeiter an. Der wirft sie daraufhin hinaus. Die ohnehin in ärmlichsten Verhältnissen lebende Fantine wird daraufhin völlig mittellos. Aber aus Liebe zu ihrem Kind verlangt sie sich alles ab: zunächst verkauft sie ihr letztes Hab und Gut, schließlich ihre Haare und schlussendlich auch ihren Körper. Zwar kann Valjean sie nach einer Auseinandersetzung mit einem Freier vor dem Gefängnis bewahren, aber Fantine stirbt abgemagert, krank und geschwächt im Krankenhaus, ihre letzten Gedanken gelten ihrem Kind.
Ich hab geträumt – gesungen von Fantine – ist neben Bring ihn heim das bekannteste Lied aus Les Miserables. Fantine besingt darin die Träume ihrer Jugend, und wie sich das reale Leben gegen sie und diese Träume wendete. Es beschreibt ein Schicksal, für das sie nichts kann, und das sie annehmen musste. Mir fällt hier das Wort „ergeben“ ein. Sie ergibt sich ihn ihr Schicksal, vermag nur zaghaft, sich dagegen zu stellen und auch nur, wenn es um ihre Tochter geht.
Wietske van Tongeren singt diesen Song so voller liebevoller Erinnerung in stiller Freude und voller Nostalgie und moduliert dann ihre Stimme von jugendlicher Sanftheit bis zu der Stimme einer realistischen Frau, die weiß, dass ihr das Leben nur mehr wenig Chance bieten wird, dass sie endgültig auf der falschen Seite steht. Fantine ist ein armes Mädchen, ein schicksalsergebene Frau und eine Löwin, wenn es um ihre Tochter geht.
Im weiteren Verlauf zeichnet Wietske die Figur in ihrem körperlichen und psychischen Verfall so erbarmenswert nachvollziehbar, dass man einen Kloß im Hals bekommt: Zuerst schwindet das Glück aus ihrem Leben, und dann, mit dem Vertrauen in die Menschen weicht auch die Zuversicht. Schließlich lässt die körperliche Kraft nach, man sieht förmlich die zunehmende Zerbrechlichkeit – quasi wie Fantine am Schicksal zerbricht. Wenn sie im Krankenbett fantasiert, ihre Tochter wäre bei ihr, schwindet zunehmend ihr Bewusstsein für die Realität, weiter der Rest ihrer Kräfte bis schließlich das Leben als Ganzes aus ihr weicht.
Wie fein Wietske da agiert, sowohl stimmlich als auch körperlich, ist oscarreifes Kino. Sie erzeugt so viel Betroffenheit beim Zuschauer, weil sie so real und authentisch diese Stufen des Verfalls ineinander gleiten lässt. Am Ende habe ich da nur noch Tränen für Fantine.
Doch wenn Wietske am Ende zurückkommt, lässt sie mich als Zuschauer zutiefst befriedigt zurück. Träumte sie zu Beginn einen Traum von Liebe und Unsterblichkeit, erscheint sie vollkommen versöhnt am Ende und begleitet Jean Valjean in die Ewigkeit, wo sie von eben jener Liebe und Unsterblichkeit umgeben ist, die sie sich für ihr irdisches Leben wünschte. Taschentuchalarm!
Und dann gibt es da noch die Szene, in der Wietske van Tongeren nur da steht, nicht sagt, nur schaut:
Wie Wietske beim einfach nur still Dastehen über ihre Haltung und Mimik so viel Inbrunst und Liebe und Güte ausstrahlt, ist große Kunst.
Fantine steht dem sterbenden Valjean zur Seite und betrachtet ihn. Als Cosette und Marius dazukommen, gilt ihre ganze Aufmerksamkeit diesem jungen Mann, der der nächste sein wird, der ihre Tochter weiter durchs Leben begleitet. Diese Güte, die sie in ihr Gesicht legt! Wie Wietske beim einfach nur still Dastehen über ihre Haltung und Mimik so viel Inbrunst und Liebe und Güte ausstrahlt, ist große Kunst.
Tiefste Dankbarkeit meinerseits für diese Darstellung an Wietske.
Cosette: Julia Sturzlbaum
Cosette ist aufgrund ihrer Lebenssituation – ihr Vater muss immer seine Enttarnung fürchten, wovon sie aber nichts weiß – eine schüchterne, introvertierte brave Frau, die sich schockverliebt.
Aufgeregt und trotzdem zart besingt sie in einem inneren Monolog mit einem wunderschönen Sopran ihre erste Liebe! Man merkt ihr direkt an, wie da etwas in ihr aufbricht, was immer schon da war, und jetzt endlich raus darf: So herzerfrischend, wie sie dem werbenden Marius die Blumen aus der Hand reißt, um ihn zu küssen! Da geht Julia Sturzlbaums Cosette ganz schön aus sich heraus. Mitreißend!
Trivia
Im exzellenten und umfangreichen Programmheft gibt es eine Sparte „Nutzloses Wissen zum Schluss“, und entsprechend gibt’s das hier in der Rezension auch:
Daniel Gutman als Javert jagt hier einen Sträfling mit Tätowierung auf der Brust. In Tootsie singt Gutmann selbst mit einer Brust-Tätowierung von Dorothy auf einem Stuhl stehend.
Fazit
Les Mis ist ein episches Werk und nicht ohne Grund das am längsten laufende Musical am Londoner Westend, und Köpplinger bringt diese Wucht in München aber sowas von amtlich auf die Bühne.
Les Mis ist gewaltig, detailreich, emotional, fordernd, und das alles auf einmal, und aufgrund dieser Vielschichtigkeit kein Selbstläufer, weil alle diese Facetten ja bedient werden müssen.
Diese Inszenierung spielt unter den vielen wirklich brillanten Stücken, die das Gärtnerplatztheater umgesetzt hat (Priscilla, Tootsie, Drei Männer im Schnee, …), nochmal in einer anderen Liga.
Die Inszenierung besticht durch ihre tiefe Emotionalität, die das bis in die letzte Rolle fabelhaft besetzte Ensemble sowohl gesanglich als auch darstellerisch brillant transportiert. Angeführt von zwei hervorragenden Valjeans Armin Kahl und Filippo Strocchi, einem stimmlich einzigartigen Javert Daniel Gutmann, einer herzzerreißenden Fantine – Wietske van Tongeren und komplettiert von Alexander Franzens umwerfenden Thenardier.
Zu Recht an allen Terminen ausverkauft ist Köpplingers Les Miserables ein Highlight, das im deutschsprachigen Raum seinesgleichen sucht. Bei diesem Ensemble ist jeder Ton ein Genuss, jede Szene ein Gemälde: Die Qualität dieser High-End-Produktion wird mit Sicherheit auf Jahre hinaus unerreicht bleiben.
Schlussapplausfotos: Julia Stöhr-Schlosser, Szenenfotos: Dr. Joachim Schlosser
Imber Regina
Wieder eine dermaßen intensive Rezension von Julia Stöhr Schlosser, die einen sprachlos macht.
Als wäre man dabei gewesen!
Großes Dankeschön! 🥰
Julia Stöhr-Schlosser
Oooohhhhh! Danke, Regina! 😍