Welch ein Jahresabschluss! Das letzte Musical 2023 für Die Frau schaut hin war doch tatsächlich das Musical schlechthin: Les Miserables. Entstanden nach dem Roman Les Miserables, ist es nicht weniger episch, elegisch und energisch als der Weltbestseller von Victor Hugo und von je her wegweisend für das europäische Musiktheater.
Les Mis ist über weiter Strecken perfekt: Wie eine Geschichte in die andere fließt, wie Schicksale sich verknüpfen, durch die grandiose Musik ihre Verbindung finden und in einem grandiosen Finale gipfelt! Herrlich und wirklich viel zu selten im deutschsprachigen Raum gespielt.
Handlung
Les Miserables beginnt mit einem Prolog. Im Jahr 1815 befindet sich Jean Valjean als Sträfling mit der Nummer 24601 seit 19 Jahren in einer Strafkolonie, weil er einst einen Laib Brot für seinen hungernden Neffen gestohlen hat.
Als er auf Bewährung freigelassen wird, warnt ihn der Aufseher Javert, er würde immer ein Auge auf Valjean haben. In Javerts Augen wird ein Verbrecher ewig ein Verbrecher bleiben.
Zwar hat Valjean durch seine Vorgeschichte wenig Möglichkeiten, ein ehrbarer Mensch zu werden. Aber durch den Schwindel und die mildtätige Fürsprache eines Bischofs wird Valjean nach einem weiteren Diebstahl vor dem Gefängnis bewahrt. Dieser Akt der Menschlichkeit seitens des Bischofs bringt Valjean dazu, sein Leben komplett zu ändern.
1823: Valjean ist mittlerweile Bürgermeister von Montreuil und mildtätiger Fabrikbesitzer, allerdings unter falschem Namen. Sein Bewährungszeugnis von damals hat er vernichtet.
Als eine Mitarbeiterin seiner Fabrik – Fantine – ohne sein Wissen aufgrund der Tatsache, dass sie ein uneheliches Kind hat, entlassen wird und auf der sozialen Leiter immer weiter abrutscht, bewahrt Valjean sie vor ihrer Verhaftung durch Javert und gibt später der Sterbenden das Versprechen, sie um ihr Kind zu kümmern. Javert unterdessen konnte Valjean enttarnen. Am Totenbett von Fantine entspinnt sich ein Zweikampf, Javert kriegt Valjean jedoch nicht fassen.
Valjean kauft Fantines Tochter, die kleine Cosette, der Wirtsfamilie Thenardier – in Wirklichkeit skrupellose Verbrecher – ab, bei der Fantine sie untergebracht hat und wo sie unter schlimmsten Bedingungen lebte. Er geht mit ihr nach Paris und zieht sie als seine Tochter groß.
1832 begegnet die mittlerweile erwachsene Cosette auf einer Almosentour mit ihrem Vater dem jungen Studenten Marius. Beide verlieben sich augenblicklich ineinander. Marius gehört einer Gruppe Studenten an, die gegen die herrschenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse protestieren. Sie planen einen Barrikadenkampf. Allerdings ist sich der verliebte Marius seiner Sache nicht mehr ganz so sicher.
Im Getümmel von Paris trifft man auch die ehemalige Wirtsfamilie Thenardier wieder, die sich mit Gaunereinen über Wasser hält. Ihre Tochter Eponine, die Cosette von früher kennt, ist ebenfalls in Marius verliebt, blitzt aber regelmäßig bei ihm ab, während sich ihr kleiner Bruder Gavroche im Umfeld der Studenten wohl fühlt.
Obwohl Valjean weiß, dass Javert ihm immer auf den Fersen war und seine Enttarnung möglicherweise kurz bevorsteht, bricht er sein Vorhaben, außer Landes zu fliehen, ab, als er erkennt, dass Cosette in Marius verliebt ist und dieser auf der Barrikade gegen das Regime kämpfen will. Er schließt sich inkognito den Studenten an, um auf Marius aufzupassen, damit Cosette ihre große Liebe nicht im Kampf verliert.
Beim Angriff auf die Barrikaden verlieren zunächst Eponine und später auch Gavroche ihr Leben, während Javert, der sich als Spion eingeschlichen hat, enttarnt wird. Valjean sorgt dafür, dass er ungestraft davonkommt. Im abschließenden Kampf fallen fast alle Studenten, Valjean jedoch kann Marius schwer verletzt retten, indem er den Bewusstlosen durch die Abwasserkanäle der Stadt trägt. Dort trifft er erneut auf Javert.
Valjean bittet Javert um Aufschub, um Marius zu retten, anschließend würde er sich ihm ergeben. Javert lässt ihr laufen. Die Einsicht, dass Valjean kein gewissenloser Verbrecher ist, der nur auf seinen Vorteil bedacht ist, stürzt Javert in tiefste Selbstzweifel. Seine zutiefst verinnerlichte Idee von Gut und Böse zerfällt, Javert wird haltlos und springt verzweifelt in den Fluss.
Der genesene Marius und Cosette heiraten. Auf der Feier, der Valjean fern bleibt, tauchen die Thenardiers als Hochstapler auf. Marius, der nicht weiß, wer ihn damals von den Barrikaden gerettet hat, wird von Thenardier darüber aufgeklärt und Cosette und Marius stürzen zu Valjean, der allein und geschwächt seinem Ende entgegen geht.
Valjean übergibt Cosette und Marius seine Lebensaufzeichnungen und stirbt, wobei er von Cosettes Mutter, der längst verstorbenen Fantine, ins Jenseits geholt wird.
Inszenierung in St. Gallen/ Gärtnerplatztheater (Regie: Josef E. Köpplinger)
Bühne (Rainer Sinell) und Licht (Andreas Enzler)
Das Bühnenbild lässt den Agierenden viel freie Fläche, die sie auf beeindruckende Weise nutzen. Doch nicht immer bleibt das Bühnenbild derart reduziert. Hohe Häusersilhouetten ragen bisweilen an den Seiten düster auf. Werden sie in die Mitte der Bühne gefahren, beengen sie die Spielszene in beklemmender Weise. Insgesamt ist die Wirkung auf der Bühne gerade im Spielort Paris, als auch insbesondere in den Szenen, in denen Javert auftaucht, eher an das Konzept des Film Noir angelehnt, was ich für ungeheuer stimmig empfinde.
Die zweifelhaften Persönlichkeiten in diesem Filmgenre, ihr pessimistische Menschenbild, Helden, die eigentlich Antihelden sind… diese Kennzeichen des Film noir passen nur zu gut zu Javert und die Bühne stützt diese Ausgestaltung der Person sehr.
Eben jenes Javerts Weltbild bricht zusammen, nachdem er Valjean auf dessen Bitten hin mit Marius aus der Kanalisation hat entkommen lassen. Er, der immer auf der Seite seiner Gerechtigkeit gestanden hat, muss feststellen, dass auch Valjean, der ihm stets moralisch verhasst war, gut ist. Alles ihn ihm ist durcheinander, seinen eigenen Gedanken umkreisen ihn, hüllen ihn in ein Dickicht, dass er nicht mehr durchbrechen kann. Und so dreht sich auch die Drehbühne und die darauf installierte Stahlbrücke, ebenso die Häuserfassaden. Sie umkreisen ihn, lassen ihm keinen Ausweg mehr. Perfekt gemacht.
Die Drehbühne ist sowieso das Herzstück der Inszenierung. Sie bringt die Szenen von hinten nach vorne auf die Bühne und erst, wenn die Szenerie nach vorne gedreht ist, erwachen die Protagonisten zum Leben. Dann wird die Szene nach hinten gedreht und verschwindet hinter einem schwarzen Vorhang. So gleiten Szenen geräuschlos ineinander über. Die Drehbühne lässt zum Beispiel auch die Vorderansicht des Wirtshauses der Thenardiers zu wie auch deren Küche, so dass der Spielort sogar innerhalb eines Liedes gewechselt werden kann.
Eine intensive Szene stützt sich ebenfalls auf die Drehbühne: Am Ende ihres Lebens und Leidens sieht Fantine, auf dem Sterbebett liegend, ihre Tochter als Fantasiebild vor sich. Schließlich stirbt sie, und die Szenerie verschwindet mit der Drehbühne nach hinten, während kleine Cosette nach vorne kommt und über die wohlwollenden Fantasien für ihr Leben singt.
Eine ebenfalls große Rolle – nicht ausschließlich, aber auch durch die Drehbühne genutzt – spielt eine Brückenkonstruktion aus Metall. In der Strafkolonie ist sie der Platz der Aufseher, sie erlaubt es aber Javert auch bildlich, sich über die anderen zu erheben, ist aber auch gleichzeitig sein Untergang, indem er sich von dieser Brücke in die Seine stürzt. Für das Ensemble ist die Brücke Unterschlupf und Präsentierteller für die Huren am Hafen.
Eine spannende Lichtregie unterstützt das stimmige Bühnenbild. Gleich zu Beginn sehen wir die Häftlinge im Straflager im Steinbruch. Die Scheinwerfer symbolisieren die unbarmherzigen Sonnenstrahlen, unter deren Gluthitze die Insassen leiden.
Wie schon vorher ausgeführt, bekommt Javert immer die eher gedrückte Stimmung, allerdings scheinen die Sterne einzeln vor schwarzem Nachthimmel – ebenso übrigens bei Eponine, die nachts einsam ihre Kreise in Paris zieht und fantasiert, Marius wäre bei ihr.
Die toten Studenten erscheinen bei Dunkles Schweigen an den Tischen im Hintergrund im hellsten Licht des Jenseits, die Stimmung in den Abwasserkanälen unter Paris ist gespenstisch.
Ein großes Lob für diese stimmige Bühne und Lichtregie.
Kostüm (Uta Meenen)
Die große Klammer um das Stück, also Anfang und Ende, bestreiten Jean Valjean und Fantine: Valjean begleitet Fantine beim Sterben – am Ende kommt Fantine zurück und begleitet Valjean in den Tod. So grob lässt sich die Beziehung gewissermaßen als ein Idealbild zusammenfassen: ein Geben und ein Nehmen, ein füreinander Dasein. Schon immer drängte sich mir die Vorstellung auf, dass, wäre Fantine nicht gestorben, Valjean und sie das perfekte Paar wären und mit Cosette als Tochter eine liebevolle Familie gebildet hätten.
Dass sich diese Idee mir noch viel deutlicher aufdrängt als sonst, dafür trägt hier die Kostümidee die Verantwortung: Valjean kommt schon zu Beginn im Straflager nicht im gelbbraunem Hemd daher, wie man es aus den meisten Inszenierungen kennt. Er trägt einen graublauen Kittel. Später sieht man Fantine in der Fabrik in einem ähnlichen blau, auch Cosette, die bei den Thenardiers schuften muss, trägt eine ähnliche Farbe (wie alle niederen Arbeiter auch). Mir ist es, als würden hier diese drei Menschen im Stück miteinander verbunden, was ich wunderschön finde, da sie tatsächlich nicht ein einziges Mal miteinander zu dritt sind.
Die große Cosette tritt wiederum in blau auf. Diesmal ist es kein verblichenes graublau, sondern ein strahlendes, tiefes blau. Zum einen hat sie die schäbige Umgebung von früher hinter sich gelassen, andererseits ist blau auch immer beschrieben als Kennzeichen für einen Rückzug ins innere, eher also Introvertiertheit. Das junge Mädchen hat bis dato auch wenig Möglichkeiten, sich nach außen zu öffnen. Mit ihrem hellblau strahlenden Unterkleid präsentiert sich uns Cosette als strahlende, aber schüchterne Unschuld (Blau wird auch von jeher der Jungfrau Maria zugeordnet).
Marius übrigens trägt übrigens bei seiner ersten Begegnung mit Cosette ebenfalls blau!
Ihr Vater Jean Valjean dagegen ist in violett gewandet: Es ist das Symbol für Demut, Tugend und Buße und nichts anderes könnte besser zu dieser Figur passen, genauso wie die ebenfalls mit violett assoziierten Attribute Einsicht und Tiefgründigkeit.
Die Studenten sind eher neutral gekleidet, Hauptfarbe ist beige und Brauntöne. Da ist die Assoziation zur Erde nicht weit. Die Studenten sehen sich als die Geerdeten, Vertreter des einfachen Volkes, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen. Zugleich ist Beige assoziiert mit Zeitlosigkeit. Braun ist die Farbe der Kraft und der Reife. Andersherum kann Beige auch schmutzig wirken, so wie die Studenten in den Augen von Javert wohl als der letzte Dreck gelten.
Spannenderweise trägt Enjolras auf den Barrikaden nicht das rote Gilet mit der goldenen Einfassung, mit dem er sonst so gut wie immer abgebildet ist. Er wird so nicht zum militärischen Anführer stilisiert, sondern bleibt auch als Anführer einer unter Gleichgesinnten. Ich fand das sehr stimmig, es bringt das Ansinnen der Gruppe mehr hervor, als wenn das Augenmerk auf einen eher militärisch-fanatischen Enjolras gelenkt wird. Außerdem fehlen den Studenten die tricolore-Accessoires, was das ganze ein wenig weg von Frankreich rückt und in Summe universaler wirkt.
Wie die Studenten als Gruppe präsentieren sich auf den Barrikaden auch die Frauen als Einheit: zu den graublauen Arbeiteroutfits mischt sich auf irgendeine Weise Rot, die Farbe der Leidenschaft, aber halt auch des Blutes.
Bei Javerts Outfit gibt es keine Überraschungen: Er trägt schwarz. Eine schwarze Aura ist für das Gegenüber immer einschüchternd.Doch Schwarz hat auch die Bedeutung von Prestige und von Macht.
Orchester
Welch ein Segen, ein Orchester in so großer Besetzung zu hören. Das sind wirklich immer sehr besonderer Produktionen, die sich diese Orchestergröße erlauben können und es auch tun. Das Liveorchester verdichtet die Emotionen noch viel stärker.
Zu Beginn dachte ich mir noch kurz, dass mir ein bissl eine stärkere Akzentuierung fehlen würde. Aber das war natürlich der Erwartung geschuldet, es immer so zu hören wie auf den CDs. Insgesamt ist wirkt es – trotz ausreichender Lautstärke – ein wenig ruhiger und nicht ganz so treibend. Koen Schoots sagt im Interview, er sei mit der Zeit gelassener geworden, würde nicht mehr alles dem Tempo unterordnen. Das spürt man. Das Stück bekommt eine ganz eigene Dynamik. Das Timing ist ein wenig anders, aber wirklich toll: Es lässt sich an den richtigen Stellen ein wenig mehr Zeit, baut Spannung ein klein wenig anders auf. Es steuert geschickt auf die Höhepunkte zu, um dann in die Vollen zu gehen. Die Les-Mis-Dampflok rollt nicht einfach über alles drüber. Das muss man sich trauen, sagt Koen Schoots auch selber. Und für mich ist es voll aufgegangen, auch unter dem St. Gallener Dirigent Stéphane Fromageot.
Wirkung der Inszenierung 1: Das Spielzeitmotto „Identität“
Les Mis ist ja der bekannte bunte Hund der Musical-Welt, denn als „longest running musical on west-end“ mit über 14.100 Vorstellungen wird wohl jeder Musical-Interessierte mal darüber gestolpert sein. Das macht es nicht unbedingt einfach, es auf die Bühne zu bringen, weil an diese alten Dinosaurier des Musiktheaters halt auch immer Zuschauer-Erwartungen geknüpft sind.
Wie üblich wacht auch hier Cameron Mackintosh als Rechteinhaber über die Produktion. Darum bleibt das meiste in dieser Inszenierung gleich und doch gibt es zarte Veränderungen, die das Stück ein wenig anders interpretierbar machen. Ich mochte alles an dieser Inszenierung.
Widmen wir uns aber zunächst der grundsätzlichen Idee: Das große Thema am Theater St. Gallen lautet diese Spielzeit: „Identitäten“ und ja, Les Mis spielt auf dieser Klaviatur intensiv. Zunächst muss sich Valjean erst seiner selbst bewusst werden, dann seine wahre Identität verschleiern und dann doch preisgeben, um sie für sich zu bewahren. Javert hat die moralische Integrität und das, was er dafür hält, so sehr mit sich verbunden, dass er sich umbringt, als dieses Konstrukt und damit seine Identität zerfällt.
Was mir aber auffällt: In dieser Inszenierung tragen die Protagonisten ihre Identität nicht so sehr medienwirksam nach außen. Insgesamt kann man sehr deutlich nach innen in die Figuren blicken und mir war so, als würden gerade deswegen allzu stereotype Äußerlichkeiten ein wenig zurückgenommen.
Javert erscheint mir weniger aggressiv nach außen seine Idee zu verteidigen. Nur im Duell an Fantines Sterbebett spürt man tatsächliche Wut und Aggression. Sonst erhebt sich Javert eher mit einer spöttischen Arroganz, ja fast Nonchalance über seine Widersacher.
Valjean erscheint nicht so gottergeben: so fehlen am Ende, als er stirbt, auch die beiden Kerzenleuchter an seiner Seite, die ihn Zeit seines Lebens an den Bischof und dessen Mission, die seine eigene geworden ist, erinnern sollen. Das wiederum passt zu der von Regisseur Köpplinger verfochtenen Idee, dass Gott/ Glaube/ Religion im Stück keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen solle. Dazu unten noch ein Gedanke von mir.
Und schließlich Enjolras: Sehr auffallend reiht er sich mehr ein in die Gruppe der Studenten, sticht nicht durch sein Outfit hervor. Möglicherweise wird hier gegen das Stereotyp eines fanatischen Anführers gearbeitet. Es geht mehr um die identitätsstiftende Bewegung einer ganzen Gruppe, was ich überaus sinnig finde und den ganzen Barrikadenkampf ein wenig weg von einer Jugendrevolte in Richtung eines tiefen kollektiven Wunsches nach Veränderung rückt.
Die Symbole, die Frankreich widerspiegeln, fehlen völlig. Für mich eine großartige Idee, denn diese Freiheitsbewegungen gibt es überall auf der Welt und müssen deshalb im Musical nicht zwingend in ein Land verortet werden.
In meinem Empfinden ist das Spiel mit den Identitäten also hier eines, das sich stärker im Innenren der Figuren verortet. Die Akteure sind alle nicht so ganz krass nach außen gezeichnet, nicht so akzentuiert, nicht so laut. Es nimmt die Schärfe. Es entschärft die Gräben, die die Figuren voneinander trennen.
Und doch kommt die Geschichte nicht etwa zahnloser daher als sonst. Im Gegenteil: Auf mich wirkt sie stark und klar. Die Inszenierung scheut sich so auch nicht vor expliziten Momenten: Die erste Begegnung von Fantine mit einem Freier findet auf der Bühne statt. Javerts Selbstmord ist die eindrücklichste Szene überhaupt: Zunächst quittiert Javert seinen Dienst, indem er seine Uniform und die Zeichen seiner gesetzlichen Macht ablegt. Schließlich – für mich wirklich ein unfassbar guter Kniff – öffnet er das Haarband, bis ihm die Strähnen über die Schulter hängen. So sieht er fast aus wie Valjean zu Beginn. Hier schließt sich der Kreis. Und dann springt Javert auch tatsächlich von der Brücke. Eine tief emotionale Szene.
Wirkung der Inszenierung 2: Fanatismus, Fatalismus und der Glaube
Im Programmheft bin ich über die Aussage von Josef Köpplinger gestolpert: „Für mich ist Les Mis kein Werk über Gott oder über irgendeine göttliche Macht. Je älter ich werde, desto obsoleter wird für mich die Religions- oder Glaubensfrage, vor allem im Hinblick auf den Missbrauch von Glauben für Kriegszwecke und Ausbeutung.“
Die Romanvorlage von Victor Hugo ist stark christlich geprägt. Der Bischof von Digne ist es, der Valjean „bekehrt“, Valjean betet zu Gott, Marius zu beschützen, am Ende erwartet ihn die verstorbene Fantine, um ihn ins ewige Leben zu holen. Gott taucht hier an allen Ecken und Enden auf, von daher finde ich den Ansatz, den Köpplinger da hat, spannend.
Für mich braucht es da eine Unterscheidung zwischen Glaube und Religion: Das Wort Glaube kommt aus dem Indogermanischen und heißt „begehren“ oder „lieb haben“. Das bedeutet auch auf etwas zu vertrauen und es für wahr zu halten.
Insofern sind die Protagonisten unseres Stückes wahre Gläubige: Javert glaubt an Recht, Gesetz und Moral, Valjean an das Gute, Eponine glaubt an die Liebe zu Marius. Die Studenten glauben an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Thenardiers glauben an den eigenen Vorteil.
Natürlich kann man die ganze Geschichte von der Idee eines christlichen Gottes abrücken. Les Miserables ist für mich ein Stück über Glauben und was der Glaube imstande ist, mit Menschen zu tun – ganz gleich, ob es ein Gott ist, an den die Figur glaubt oder das Universum oder nur seinem eigenen Gewissen folgt.Insofern ist das Stück vielleicht keines über Gott, aber über das, was verschiedene Menschen dafür halten beziehungsweise ihm zuschreiben.
Die Diskussion, ob religiöse Interpretation oder nicht, ist schlussendlich aber eine müßige. Es gibt sie auch über Jesus Christ Superstar, und genauso gut kann man auch über den Glöckner von Notre Dame führen.
Aber schön, wie Köpplinger seine Idee in der Inszenierung stringent verfolgt: Gerade bei Valjean hat man tatsächlich nie das Gefühl, er würde aus Gottesfürchtigkeit agieren. Das Handeln der Personen kommt spürbar aus ihrem Inneren, weniger von einem „Gott“ um sie herum. Insofern hat er das Stück da ein wenig rausgeholt aus der religiösen Ecke, in die man es schieben könnte – die Vorlage gibt das ja eindeutig her. Und genau deshalb stehen da am Ende eben nicht die Leuchter des Bischofs.
Die Figuren und ihre Darsteller
Jean Valjean: Armin Kahl
Unglaublich beeindruckend, wie Armin Kahl die ganze Spanne eines so eindrücklichen und langen Lebens stimmlich und darstellerisch auf die Bühne bringt.
Ich sitze immer mit Schreibblock im Musical und notiere mir ganz intuitiv Dinge, die für mich entscheidend sind. Hier war es ein Satz in Valjeans Reflexion, nachdem ihm der Bischof von Digne mit Wohlwollen begegnet ist:
auf meine Seele käm‘ es an.
Armin Kahl hat offensichtlich diese Textzeile derart intensiv gestaltet, dass sie mir im Gedächtnis geblieben ist. Und damit gleichzeitig den Satz, der Valjeans Wandlung einleitet:
Auch auf seine Seele kommt es an! Er – auch er – kann den Unterschied machen. Er ist es wert – genauso wie jeder andere auch!
Dieses Menschenbild prägt das weitere Leben von Valjean, er macht keinen Unterschied zwischen den Menschen, egal ob jung oder alt, und egal, auf welcher Seite des Gesetztes oder der Moral man steht. Das stellt Armin Kahl vortrefflich heraus, formt den Charakter um diesen Kern drumrum. Für mich als Zuschauer ist das im wahrsten Sinne des Wortes „belebend“. Er bringt die Figur ins Leben, auf eine Weise, die anrührt, berührt und ich als Zuschauer mit„lebe“.
Stimmlich wunderschön, in der Tiefe noch schöner als in der Höhe, berührt er aber mit Bring ihn heim unheimlich. Er singt es weniger offen nach außen als Gebet (siehe die Regieidee), es ist vielmehr eine innerliche Reflexion seines Wunsches, eines Traumes, in dem für die Zukunft Marius an der Seite von Cosette sieht.
Kahl vermag es, das Leben von Jean Valjean in seiner ganzen Länge und Intensität, glaubhaft auszubreiten: da ist zunächst der Straftäter, der nur Ungerechtigkeit kennt. Ganz intensiv hier die Modulation in der Stimme, in der man die Hinterhältigkeit geradezu hört, die ihn die Gelegenheit zum Diebstahl nutzen lässt. Richtig gefährlich klingt er da. Die innere Zerrissenheit, die Wandlung. Und auch das ehrliche Entsetzen, was Menschen in ihrer Idee von Gut und Böse anrichten können am Beispiel von Fantine. Hier merkt man auch, dass dieses Entsetzen durchaus auch seiner eigenen Person gilt. Bis hin zum alten Mann, der – wie so oft vorher schon – am Ende seines Lebens eben dieses reflektiert.
Armin Kahl ist ein herausragender Valjean in allen Facetten, die diese Rolle mit sich bringt: von jung zu alt, von sklavisch geknechtet zu freigiebig, vom einsamen Wolf zum liebenden Vater, von Aug-um-Aug zum selbstlosen Helfer. Das alles vermag er stimmlich und darstellerisch authentisch und intensiv auf die Bühne zu bringen.
Ich bin tief beeindruckt.
Fantine: Wietske van Tongeren
Wietske van Tongeren ist mein persönlicher Matchwinner – insofern man in so einer tollen Cast diesen überhaupt ausmachen kann!
Fantine ist Arbeiterin in der Fabrik von Valjean. Als ihre Kolleginnen dahinter kommen, dass sie ein uneheliches Kind hat, das bei Wirtsleuten aufwächst und für das sie finanziell aufkommt, wendet sich die ganze Horde der Arbeiterinnen gegen sie und schwärzen sie beim Vorarbeiter an. Der wirft sie daraufhin hinaus. Die ohnehin in ärmlichsten Verhältnissen lebende Fantine wird daraufhin völlig mittellos. Aber aus Liebe zu ihrem Kind verlangt sie sich alles ab: zunächst verkauft sie ihr letztes Hab und Gut, schließlich ihre Haare und schlussendlich auch ihren Körper. Zwar kann Valjean sie nach einer Auseinandersetzung mit einem Freier vor dem Gefängnis bewahren, aber Fantine stirbt abgemagert, krank und geschwächt im Krankenhaus, ihre letzten Gedanken gelten ihrem Kind.
Ich hab geträumt – gesungen von Fantine – ist neben Bring ihn heim das bekannteste Lied aus Les Miserables. Fantine besingt darin die Träume ihrer Jugend, und wie sich das reale Leben gegen sie und diese Träume wendete. Es beschreibt ein Schicksal, für das sie nichts kann, und das sie annehmen musste. Mir fällt hier das Wort ergeben ein. Sie ergibt sich ihn ihr Schicksal, vermag nur zaghaft, sich dagegen zu stellen und auch nur, wenn es um ihre Tochter geht.
Wietske van Tongeren singt diesen Song so voller liebevoller Erinnerung in stiller Freude und voller Nostalgie und moduliert dann ihre Stimme von jugendlicher Sanftheit bis zu der Stimme einer realistischen Frau, die weiß, dass ihr das Leben nur mehr wenig Chance bieten wird, dass sie endgültig auf der falschen Seite steht. Fantine ist ein armes Mädchen, ein schicksalsergebene Frau und eine Löwin, wenn es um ihre Tochter geht.
Im weiteren Verlauf zeichnet Wietske die Figur in ihrem körperlichen und psychischen Verfall so erbarmenswert nachvollziehbar, dass man einen Kloß im Hals bekommt:
Zuerst schwindet das Glück aus ihrem Leben, und dann, mit dem Vertrauen in die Menschen weicht auch die Zuversicht. Schließlich lässt die körperliche Kraft nach, man sieht förmlich die zunehmende Zerbrechlichkeit – quasi wie Fantine am Schicksal zerbricht. Wenn sie im Krankenbett fantasiert, ihre Tochter wäre bei ihr, schwindet zunehmend ihr Bewusstsein für die Realität, weiter der Rest ihrer Kräfte bis schließlich das Leben als Ganzes aus ihr weicht.
Wie fein Wietske da agiert, sowohl stimmlich als auch körperlich, ist oscarreifes Kino. Sie erzeugt so viel Betroffenheit beim Zuschauer, weil sie so real und authentisch diese Stufen des Verfalls ineinander gleiten lässt. Am Ende habe ich da nur noch Tränen für Fantine.
Doch wenn Wietske am Ende zurückkommt, lässt sie mich als Zuschauer zutiefst befriedigt zurück. Träumte sie zu Beginn einen Traum von Liebe und Unsterblichkeit, erscheint sie vollkommen versöhnt am Ende und begleitet Jean Valjean in die Ewigkeit, wo sie von eben jener Liebe und Unsterblichkeit umgeben ist, die sie sich für ihr irdisches Leben wünschte. Taschentuchalarm!
Tiefste Dankbarkeit meinerseits für diese Darstellung an Wietske.
Javert: Filippo Strocchi
Für mich die spannendste Darstellung: Filippo Strocchi ist für mich in dieser Rolle Weltklasse, weil er noch mehr rausholt, als ich bisher darin gesehen habe.
So war Javert für mich immer ein sehr akzentuierter, kantiger Alphamann, der seine Moral immer wahnsinnig stark vor sich herträgt und sich so quasi sowohl nach außen als auch nach innen immer wieder selbst bestätigt.
In Strocchis Interpretation kommt meines Erachtens dieses Alphamännchen-Gehabe gar nicht so sehr zum Tragen. Strocchis Javert wird getragen von einer tief gelebten Idee der Moral, die aber vielmehr aus dem Inneren gespeist wird als sonst.
Javert ist selbst im Gefängnis aufgewachsen, und hat sich zu einem Mann entwickelt, der eine ganz klare Vorstellung von Recht und Ordnung hat. Er wird Polizist, aber man merkt Strocchis Javert an, dass er das nicht wurde, um anderen Verfehlungen zu ahnden. Da ist gar nicht so viel Hass auf andere, sondern eine klare Idee der Welt und seiner selbst darin. Javert IST so, völlig unabhängig von seiner Uniform. Für ihn gibt es nur die eine Gerechtigkeit, die eine Moral und alles andere ist in seinen Augen geradezu lächerlich.
Er handelt in meinen Augen viel mehr als der Mensch, der er ist, denn als Polizist. Deshalb wird der Selbstmord auch durch und durch verständlich und überaus tragisch. Er singt zwar, dass er seinen Dienst quittiert, aber das wahrhaft tragische daran ist, dass sein ganzes Menschsein nicht mehr möglich ist. Es reicht eben nicht, die Uniform abzulegen, wie er es tut. Es ist nicht die Ordnung des Gesetzes, die Javert leitet, sondern sein Inneres.
Ich habe die Tragik der Figur des Javerts selten so intensiv miterlebt. Als er schließlich auch tatsächlich in die Seine gesprungen ist, wär mir fast das Herz stehengeblieben. Das hat mich richtig mitgenommen.
Strocchi trägt weniger Wut und Aggression vor sich her, eher mit Arroganz. Über weite Strecken ist sein Javert so gefestigt, dass er sich eine ganz lässige Nonchalance erlauben kann. Er ist so überzeugt von seiner Moral, erhebt er sich nicht wütend über die anderen, sondern verachtet sie hochmütig. So auch auf den Barrikaden: Nachdem er als Spion enttarnt wurde, steht er da, im Lager der „Feinde“, überwältigt und gefesselt, aber eher genervt, lässig, als Valjean auftaucht. Dieser Gesichtsausdruck war einzigartig. Da verdreht er die Augen und sein Mund verzieht sich zu einem spöttischen Lachen. Für ihn ist die Situation so grotesk, so lächerlich und doch vollkommen verständlich: Natürlich ist bei all den Verbrechern Valjean nicht weit. Es ist für ihn weniger Ärgernis als klare Folge, genauso wie die Idee, dass die Revoluzzer nicht weit kommen werden. Das ist nämlich in seinem Verständnis überhaupt nicht vorgesehen.
Großes Dramatik in Gestik und Mimik gelinget ihm in Sterne. Als er in die Knie geht, um zu schwören, ergibt er sich ganz seiner Idee von Gerechtigkeit, dass er für universell hält. Er verschmilzt geradezu mit dem Universum. Wow, das habe ich selten so intensiv gesehen.
Ich werde mir Filippos Darstellung sicher nochmal sehen, denn Strocchi hat ein Charisma, dem man sich (ich mich) nicht entziehen kann.
In der deutschen Version hat Filippo Strocchi so wahnsinnig viele Silben auf wenig Melodie zu singen und es ist durch und durch bewundernswert, wie er das meistert. Darum, liebe Tontechnik: Mischt bitte bitte diesen unglaublichen Darsteller besser ab. Er war im Gegensatz zu den anderen zu leise.
Filippo Strocchi ist ein durch und durch überzeugter und den Zuschauer überzeugender Javert. Die innere Einstellung, die er auf die Bühne bringt, ist raumgreifend und absolut einnehmend und überzeugend, sein Handeln und Schicksal dramatisch nachvollziehbar. Zusammen mit seiner stimmlichen Brillanz einfach nur absolut begeisternd!
Enjolras: Merlin Fargel
Merlin Fargel hat mir ausnehmend gut gefallen. Ich hab ja vorhin schon erwähnt, dass das Orchester ein ganz besonders gutes Gespür für das Tempo vom Dirigenten mitgenommen hat. Merlin Fargel nimmt das grandios auf: Dieses Timing, das Warten, das Strecken, die Betonung… Ich bin so begeistert, wie er das auskostet, wie er seine Geschichte damit gestaltet.
Enjolras ist einer der Studenten, die gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu Felde ziehen. Im Allgemeinen wird er als Anführer gesehen, wie oben erwähnt auch immer deutlich abgegrenzt durch sein rotes Gilet. Da er das in dieser Inszenierung nicht trägt, reiht er sich ein wenig mehr ein in die ganze Gruppe. Er ist sicher der Wortführer, aber nicht, weil er fanatischer wäre oder leidenschaftlicher, sondern weil eine Gruppe einen Anführer braucht. So steht nicht so sehr das Einzelschicksal im Fokus, sondern die Idee der ganzen Studentenschaft und ihr vergeblicher Kampf. Zumindest hab ich das so wahrgenommen. Das tut dem Stück sehr gut, das auch mit wirklich phantastischen Mitstudenten aufwarten kann.
Ich mochte Fargels Art, sein Timing, seinen Gesang. Sein Minenspiel, als er miterleben muss, wie Eponine in Marius Armen stirbt, ist herzzerreißend. Er muss die Fassung bewahren und ringt doch sichtbar mit ihr. TOP!
Marius: Matteo Ivan Rašić
Oh, Matteo Rašić war ein umwerfender Marius. Manche Darstellungen bleiben einem einfach im Gedächtnis, weil sie anders waren und doch so gut. Einst ging es mir mit Rob Houchens Darstellung des Marius so, und so geht es mir jetzt mit der von Matteo Ivan Rašić.
Marius ist Student und Mitglied der Gruppe um Enjolras, bereit zum Barrikadenkampf, als er unverhofft in Cosette rumpelt. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Und das bringt einiges durcheinander: Er muss diese Liebe erst mal mit sich selbst ausmachen, und dann muss er sie vor den anderen Studenten verantworten und schließlich diese Liebe auch mit Leben füllen. Das macht Rašić herrlich und unbedarft! Auch dieser Marius ist eher introvertiert, genauso wie seine Angebetete Cosette. Gemeinsam geben sie ein herzerwärmendes Paar. Ich mochte seine Stimme, finde sie wirklich herausragend und das Zusammenspiel mit Julia Sturzlbaum wunderschön!
Als Eponine in seinen Armen stirbt, nimmt er sich ihrer in ehrlich Zuneigung an und die Zartheit und Harmonie, mit der beide Eponines letzte Zeilen singen, sind überwältigend.
Auch Dunkle Schweigen an den Tischen – Das Stück für jeden Marius: exzellent und herzschmerzig.
Eponine: Barbara Obermeier
Ich mag Eponine und ich mochte im Speziellen diese Eponine von Barbara Obermeier. Sie ist in diesem Elend, in der Gosse und mit diesen Eltern prädestiniert für Trostlosigkeit, aber Eponine ist lebenslustig, lebensbejahend. Ein Lichtblick. Denn Eponine hat sich die Fähigkeit zu Lieben bewahrt. Und Eponine liebt von Herzen: Marius. Sie tut buchstäblich alles für ihn, um schließlich in seinen Armen zu sterben. Und selbst im Sterben erkennt sie noch den Wert der letzten Augenblicke mit ihm.
Barbara Obermeier schenkt den Zuschauern eine junge Frau, die lebt und liebt und trotz aller widriger Umstände mitten im Leben steht und daran und an der Liebe festhält. Sie erzeugt da ganz viel positive Vibes. Man möchte Eponine zur Freundin haben.
Nur für mich ist parallel zu Fantines Ich hab geträumtgeführt: Sie fantasiert davon, dass Marius sie liebt, muss sich aber am Ende der Realität stellen, dass sich dieser Traum nicht erfüllen wird. Wunderschön!
Cosette: Julia Sturzlbaum
Cosette ist aufgrund ihrer Lebenssituation – ihr Vater muss immer seine Enttarnung fürchten, wovon sie aber nichts weiß – eine schüchterne, introvertierte brave Frau, die sich schockverliebt.
Aufgeregt und trotzdem zart besingt sie in einem inneren Monolog mit einem wunderschönen Sopran ihre erste Liebe! Man merkt ihr direkt an, wie da etwas in ihr aufbricht, was immer schon da war, und jetzt endlich raus darf: So herzerfrischend, wie sie dem werbenden Marius die Blumen aus der Hand reißt, um ihn zu küssen! Da geht Julia Sturzlbaums Cosette ganz schön aus sich heraus. Mitreißend!
Monsieur Thenardier/ Madame Thenardier: Jogi Kaiser/ Carin Filipčić
Das Ehepaar Thenardier sind die moralischen Gegenspieler zu Valjean: verkommen, nur auf den eigenen Vorteil aus, ohne jegliche Moral. Sie sind Hehler, Lügner und Betrüger, Schmarotzer und Ausbeuter, die die ganze Bandbreite an Gaunereien und Verbrechen drauf haben. Und das tragische an der Geschichte: Außer Marius und Cosette sind diese beiden die einzigen, die überleben.
Wenn ich über Thenardiers nachdenke, kommt mir unweigerlich das von Thomas Hobbes weitergegebene Zitat „homo homini lupus (est)“ in den Sinn: Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf.
Thenardier betrügt unverhohlen die Leute in seinem Gasthaus und schlägt aus allem Kapital. Die Betreuung von Cosette ist für sie ein gefundenes Fressen, bekommen sie so doch Geld von Fantine und eine billige Arbeitskraft durch das Mädchen selbst. Im Laufe des Stückes werden beide von betrügerischen Wirtsleuten zu Verbrechern auf offener Straße, schließlich landen sie als Hochstapler auf der Hochzeit von Marius und Cosette.
Sie sind ein Team, doch auch hier wird klar, dass jeder in dieser Beziehung seinen Vorteil sucht. War zu Beginn des Stückes diese Leben vielleicht die einzige Option, wird immer wieder deutlich, dass es für beide immer mehr zu selbst gewählten und stimmigen Option wird.
Jogi Kaiser installiert den Thenardier als dreckigen Schwindler ohne Gewissen, der seine wahren Absichten gar nicht so arg verbergen mag. Eher skrupellos als hinterlistig geht er seinem Geschäft nach. Qua seiner Rolle hat er komödiantische Szenen, die er aber nicht gar so vordergründig laut gestaltet. Eher sind es die grotesken Lebensumstände, und der Umgang damit, die einen zum Lachen bringen. Er ist nicht so der Greatest Inkeeper-Showman wie ein Matt Lucas. Er ist der, der sich zur rechten Zeit ducken kann und deshalb einfach durchkommt.
Carin Filipčić ist als Madame noch unverhohlen unverschämter, bei uns würde man sagen „gscherter“ und außerdem der weitaus pfiffigere Part! Ihre Madame Thenardier kauft ihrem Ehemann in jeder Szene den Schneid ab, sie besticht durch perfekt getimte Situationskomik und stimmliche Brillanz wie eh und je.
Ensemble/ Chor
Ganz exzellent gesungen sind die Chorstücke: Am Ende vom Tag, das ABC Cafe und das Lied des Volkes, wie natürlich auch Morgen schon… Jedes einzelne für mich Gänsehaut-würdig und deshalb geht hier meine tiefe Bewunderung an das gesamte Ensemble.
Fazit
Die Inszenierung von Les Miserables unter der Regie von Josef E. Köpplinger, die als Kooperation zwischen dem Theater St. Gallen und dem Gärtnerplatztheater München geschaffen wurde, bringt alles, was Les Miserables ausmacht, grandios zu Geltung: Große Emotionen, Dramatik und starke Charaktere, die durch absolut Weltklasse-Darsteller entwickelt werden. Die Inszenierung lässt auch ein wenig Spielraum für neue Interpretationen und bricht hie und da ein Stereotyp auf. Dirigent Stéphane Fromageot treibt sein Orchester mit viel Gespür für Timing voran, ohne zu Hetzen, das Ensemble besticht durch perfekte Chorstücke. Ein Hochgenuss für Auge, Ohr und Gemüt.
Ich hoffe sehr, dass ich es auch noch in anderer Besetzung sehen kann, um mir ein noch umfassenderes Bild zu machen. Und das solltet ihr unbedingt auch, dieses Musical ist einfach ein Muss.
P.S.: Dieser Artikel wird erweitert werden, sobald ich die Alternativbesetzungen in ihrer Rolle gesehen habe. Also: dranbleiben lohnt sich!
Schlussapplausfotos: Dr. Joachim Schlosser
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