Chess, ein Musical mit der Musik der beiden männlichen ABBA-Mitglieder, Benny Andersson und Björn Ulvaeus, sowie Texten von Tim Rice, ist das letzte Musical in Baden, dass unter der Intendanz von Michael Lakner aufgeführt wird. Inszeniert wird es von seinem designierten Nachfolger Andreas Gergen, der dafür die Crème de la Crème der Musicalstars rekrutiert, die, unterstützt von großartiger Bühne und fabelhaften Kostümen etwas auf die Bühne, bringen, was sich als „große Kunst“ umschreiben lässt. Chess begeistert – mit einem deutlichen Abstrich.
Das Musical
Handlung
Wie Jesus Christ Superstar war Chess zunächst als Konzeptalbum aufgenommen. Allerdings erlaubt die Art der Geschichte, dass die Liederreihenfolge umgestellt werden kann, die grobe Handlung aber gleich bleibt. Es gibt deshalb mehrere Bühnenfassungen.
Dieser Fassung geht ein Prolog voraus. 1956 herrscht in Ungarn Volksaufstand. Inmitten der Kampfeswirren sehen wir ein Schachspiel zwischen dem kleinen Mädchen – Florence Vassy – und ihrem Vater. Dieser wird schließlich ebenfalls in die Kampfhandlungen gezogen und es ist das letzte Mal, dass Florence ihren Vater sieht.

In den 1980er Jahren treffen zwei Schachspieler, der US-Amerikaner Frederick „Freddie“ Trumper und der Russe Anatoly Sergievsky in Meran beim Endspiel um die Schachweltmeisterschaft aufeinander. Mit im Gepäck haben beide ihre Delegationen, bei Freddie gehört dazu seine Lebensgefährtin und Managerin Florence Vassy. Die Presse stürzt sich auf den Showman Trumper, während Sergievsky weitgehend unbeachtet bleibt.

Während der Russe schwer greifbar bleibt, ruhig, eher genervt, zurückhaltend, versäumt der extravertierte Freddie es nicht, überall seine Abneigung gegen die Sowjets kund zu tun. Er ist hier, um Geld zu verdienen und jeder Skandal, jede Aufmerksamkeit der Presse ist für ihn eine Wertsteigerung. Genüsslich amüsieren Florence und er sich über die erschienenen Zeitungsartikel. Die Pressekonferenz wird zu einer Freddie Trumper-Show.
Beim Spiel provoziert Trumper dann erneut einen Skandal, als er, kurz vor einer Niederlage stehend, impulsiv die Figuren auf dem Schachbrett umwirft und wutentbrannt den Saal verlässt. Natürlich versucht Florence, ihn zu beruhigen, es kommt zum Streit.
Um die Wogen zu glätten und zwischen Freddie Trumper und Anatoly Sergievsky zu vermitteln, initiiert sie ein Treffen. Dort taucht Trumper zunächst nicht auf, und so entspinnt sich aus einer eher unangenehmen Situation ein Gespräch zwischen Florence und Sergievsky, sie nähern sich an. Schließlich taucht Trumper doch noch auf und erklärt sein Verhalten: Durch den Skandal hat er es geschafft, für beide Spieler die Gage zu erhöhen.
Am Ende des ersten Aktes gewinnt Sergievsky den Weltmeistertitel gegen Trumper, der ans Schachbrett zurückgekehrt ist. Florence allerdings verlässt Freddie und sie und Anatoly werden ein Paar. Sergievsky nutzt diese Gelegenheit und bleibt im Westen, um dort Asyl zu beantragen. Provoziert mit kritischen Fragen zu seiner Entscheidung versichert er sich in einem ruhigen Moment seiner Vaterlandsliebe.
Im zweiten Akt befinden sich Sergievsky und Florence in Bangkok, Sergievsky soll seinen Titel gegen einen Sowjet namens Leonid Viingad verteidigen. Auch Trumper ist vor Ort als offizieller Kommentator.

Florence und Anatoly sehen dem ganzen mit gemischten Gefühlen entgegen. Zum einen ist Freddies Anwesenheit ein Unsicherheitsfaktor, zum anderen wurde angekündigt, dass Anatolys Frau aus der Sowjetunion eingeflogen werden soll, um Anatoly zur Rückkehr zu bewegen. Beides bedroht die Beziehung der beiden.
Auf Geheiß von Walter de Courcey, früherer Chef-Delegierter von Trumper, nun zuständig für Sergievsky, nutzt Trumper seine offizielle Stellung als Reporter und provoziert seinen ehemaligen Kontrahenten in einem Interview mit Fragen zu seiner eigentlichen Familie, Frau und zwei Kinder, in der Sowjetunion. Dieser bricht das Interview daraufhin ab.
Die Vorsitzenden der Delegationen habe sich derweil auf ein Ziel verständigt und versuchen jeder mit seinen eigenen Mitteln, Einfluss auf den Ausgang des Spiels zu nehmen:
De Courcey will einen Skandal provozieren. Außerdem wurde ihm versprochen, dass die Sowjetunion amerikanische Agenten freilassen würde, wenn Anatoly das Spiel um die Weltmeisterschaft verliert. Dementsprechend wirkt er auf ihn ein.
Der sowjetische Chefdelegierte Alexander Molokov wiederum gibt Florence zu verstehen, dass sie ihren Vater, den Florence tot glaubte, wieder in die Arme schließen könne. Er würde freigelassen werden, der Preis wäre aber, dass Sergievsky das Spiel verliert. Sie möge doch dementsprechend auf ihren Partner einwirken.
Svetlana – Anatolys russische Ehefrau – und Florence treffen aufeinander. Obwohl beide unterschiedliche Interessen haben, finden sie dennoch eine gemeinsame Ebene in der Liebe zu Anatoly. Schließlich gibt Florence zu, dass es das beste ist für Anatoly wäre, mit seiner Familie zurückzukehren. Svetlana wiederum weiß, dass die Liebe seitens Anatoly gar nicht mehr existiert.

Kurz vor Beginn des Spiels verabredet sich Freddie mit Anatoly. Er reicht ihm die Hand und versichert, dass er alles persönliche hinter sich lassen möchte, da es ihm nur das Spiel geht. Er weist ihn auf einen Fehler in Viingads Strategie hin.
Anatoly steht vor der Entscheidung: Möchte er sein Können nutzen und zeigen und Schachweltmeister werden? Oder verlieren, damit Florence die Chance erhält, ihren Vater wieder zu treffen. Obwohl seine Beziehung zu Florence dabei zerbrechen wird, entscheidet sich Anatoly für das Spiel und gewinnt die Weltmeisterschaft. Mit seiner Frau und den Kindern geht er zurück nach Russland. Während Florence allein zurückbleibt, gibt ihr Walter de Courcey zu verstehen, dass keiner weiß, ob ihr Vater überhaupt noch lebt.

Florence war nur eine Figur in einem Spiel und endet als Bauernopfer ohne Freddie, ohne Anatoly und ohne Vater.
Interpretation des Stückes selbst
Die Story von Chess ist auf den ersten Blick leicht überschaubar, wird aber gen Schluss deutlich komplexer. Zunächst wird das Duell zweier Schachgiganten um die Weltmeisterschaft im Schach thematisiert.
Die beiden Spieler wären in einem echten Spiel gleichzusetzen mit den Türmen.
Die Türme gehören zusammen mit der Dame zu den Schwerfiguren. Sie dürfen sich waagrecht und horizontal bewegen, quasi „linientreu“. In den Ursprüngen des Spiels in Persien waren die Türme wohl Kampfwagen (also Kämpfer, Gegner).
Florence heißt mit Nachnamen Vassy. Im persischen, das dem Spiel den Namen gab (Schah = König; das königliche Spiel), heißt die Figur der Dame „Berater“ = Wesir, lautmalerisch als Vassy. Wikipedia sagt, die Figur sei „unter sonst gleichen Voraussetzungen fast so stark wie zwei Türme zusammen.“
Da der eine Spieler Russe ist und der andere Amerikaner ist, bewegen sich beide im Spannungsfeld des Kalten Krieges und damit im Konfliktfeld zweier gegensätzlicher Ideologien, innerhalb derer Grenzen sie sich ihre persönliche Strategie zurecht gelegt haben.
Die Verlagerung auf die weltpolitische Ebene ist deutlich hervorgehoben:
die Welt schaut uns zu, wir sind nicht nur Sportler
Um diesen Konflikt zu verdeutlichen, sind die Chefs der Delegationen zuständig: Es geht um Agentenaustausch und das Zurückholen eines Abtrünnigen. Darüber hinaus bleibt dieser Konflikt nicht Schwarz-Weiß: schlussendlich verständigen sich die Gegner Walter und Molokov auf eine gemeinsame Strategie. Bei diesen Persönlichkeiten spielt Eitelkeit eine Rolle, Geld und Macht sowie Prestige.
Auch die beiden Spieler ziehen am Ende am gleichen Strang. Ausdrücklich möchte Trumper um des Schachspiel willens Sergievsky siegen sehen und gibt ihm den entscheidenden Tipp. Weil das Spiel frei von Manipulation sein muss. Und weil nur die Spieler das Spiel zu dem machen, was es ist. Solange die Spieler integer sind, bleibt das Spiel integer.
Zum den bestehenden „Duellen“ kommt dazu noch das romantische Dreieck der Hauptpersonen: Die Lebensgefährtin und Managerin von Trumper, Florence Vassy, verliebt sich in dessen Gegner und somit ist ein weiterer Duellschauplatz eröffnet.
Am Ende steht fest: jeder war selbst nur Spielfigur in einem größeren Spiel, welches von ganz anderen Menschen/ Institutionen gespielt und manipuliert wird, denn:
Dieses Spiel ist größer als seine Spieler.
Musik
Auch für jemanden, der schon lange Musical schaut, ist Chess eine musikalische Offenbarung. In vielen der Lieder herrscht eine musikalische Komplexität und Vielschichtigkeit, die ihresgleichen sucht.

Die Kompositionen von Benny Andersson und Björn Ulvaeus verbinden anspruchsvolle harmonische Strukturen, die bisweilen durchaus an den ABBA-Sound erinnern, mit einem ausgeprägten polyphonen Satz, der einem in der Musicalwelt selten in dieser Intensität begegnet. Besonders auffällig sind die häufigen Wechsel zwischen unterschiedlichen musikalischen Stilen und Tempi innerhalb einzelner Stücke. Chorpassagen, kontrapunktische Linienführung – also mehrere Melodien übereinander gelagert – und komplexe rhythmische Strukturen mit häufigen Taktwechseln sorgen Gänsehautmomente, wenn sich verschiedene Stimmen und Instrumentengruppen verweben. Musikalisch ist das hier ganz großes Kino, wenn in ein und demselben Stück vier Melodien, vier Texte ineinander, übereinander laufen, in unterschiedlichen Tempi, mit unterschiedlichen Pausen, wie wenn in einer Diskussion alle durcheinander Reden, und sich dennoch ein großes Ganzes ergibt.
Inszenierung
Die Inszenierung von Andreas Gergen arbeitet zunächst einmal auf die Gegensätze der beiden Kontrahenten und – da sie ja ihr Land repräsentieren – auch die Gegensätze der beiden Großmächte heraus:
Freddie Trumper ist ein typischer US-Showman. Er ist laut und groß in der Gestik, er kaut beständig Kaugummi, und gibt sich selbstsicher. Seine kapitalistische Idee stellt er beständig zur Schau, dass er kokst, ist sicher ein Hinweis auf die Dekadenz des Westens wie auch schon ein Fingerzeig auf seine nicht offen sichtbare fragile Persönlichkeit. Beim Schachspiel selbst sitzt er immer verkehrt herum auf dem Stuhl. Er macht sich die Welt, wie sie für ihn sein soll: Ohne große Regeln oder wenn dann, mit Regeln, die ihm egal sind. Alles in allem verkörpert er die Freiheit in allen Facetten, in den richtigen und wichtigen (persönliche Freiheit, siehe seine Kleidung), wie auch den eher schwierigen Facetten der Freiheit: gerade bei der Pressekonferenz verhält sich Freddie größenwahnsinnig, verhöhnt den Gegner.

Im Gegensatz zu Freddie ist Anatoly Sergievsky eher ein Nerd. Er ist ruhig und abwartend und maximal genervt von dem Hype um seinen Gegner. Er ist nur da, um Schach zu spielen, denn das ist seine Mission.
Dementsprechend sitzt er da im schwarzen Anzug und tut das, was von ihm erwartet wird: er spielt und gewinnt. Man merkt dem von Mark Seibert hervorragend verkörperten Anatoly genau das an: Er ist Profi durch und durch. Er legt ebenfalls eine Selbstsicherheit an den Tag, aber eine völlig andere als Trumper. Es geht ihm um das Spiel, von dem er weiß, dass er es beherrscht und dementsprechend kann er ruhig und strategisch agieren. Beim Spiel selbst sitzt er aufrecht korrekt und mit Notizbuch da, um das Spiel zu notieren. Es zeigt die Ernsthaftigkeit seines Ansinnens. Die Schachweltmeisterschaft ist sowohl seine Leidenschaft als auch seine Pflicht, er erfüllt diese mehr als ordentlich.
Anatoly verliebt sich in Florence, die Lebensgefährtin und Managerin von Freddie. Nach seinem Sieg im Schachduell gegen Freddie gewinnt er auch den Kampf um das Herz von Florence, bleibt bei ihr im Westen und wendet sich somit allem zu, was auch Freddie hatte: Florence und persönliche Freiheit. Auf die provokanten Fragen hin muss er sich allerdings sich selbst stellen: Verrät er sich und sein Heimatland damit? In einem berührenden Anthem gibt er Auskunft über seine Vaterlandsliebe, die besteht, auch wenn eben dieses Vaterland einem nicht immer das geben kann, was man sich wünscht. Er wendet sich mit seiner Flucht mitnichten gegen sein Land, das er immer im Herzen trägt.
Das ganze Stück wird ja immer beworben als Schachduell oder als Duell des Kalten Krieges. Damit wird man der Geschichte aber nicht gerecht. Denn, und das zeigen sowohl prinzipiell die Gesangsanteile wie auch die Schlussapplaus-Ordnung dieser Inszenierung: der eigentliche Hauptstrang der Handlung dreht sich um Florence und ihr Schicksal.
Durch den Prolog wird sie an den Anfang der Geschichte gestellt, ihr Schicksal bildet das Ende der Geschichte. Für mich ist das eine sehr stimmige Wahl. Die Wichtigkeit ihrer Person wird schon in folgendem Zitat deutlich:
Gewinnen sie die Frau, dann gewinnen sie das Spiel.
Hier wird ein Schachzitat minimal verändert: Gewinn die Dame, dann hast du das Spiel für dich entschieden. Das Schachspiel wird hiermit auf die persönliche Geschichte der Spieler übertragen und stellt Florence in den Mittelpunkt.
Eine schöne Idee darüber hinaus, dass Reinwald Kranner sowohl den Schiedsrichter als auch Florence Vater spielt. Der Schiedsrichter leitet das Spiel, der Vater hat sicherlich das kleine Mädchen angeleitet, sowohl im Schach als auch im Leben.
Bühne
Hauptbestandteil der genialen Bühne (Momme Hinrichs) ist eine Mauer aus Steinen grau in grau, die aber durch unterschiedliche Schattierungen das Thema Schach als Muster aufgreift. Diese Mauer ist waagrecht teilbar, aber nicht in einem glatten Schnitt, sondern unregelmäßig, so wie sich die beiden Lager auch nicht einwandfrei glatt trennen lassen. Mal wirkt sie trennend und mal öffnet sie sich verbindend. Sie gibt Blicke frei, und verwandelt sich für Freddie mehrere Stufen, was ein bisschen an ein römisches Amphietheater erinnert. Der Referee erklimmt die Mauer, um seine übergeordnete Stellung zu betonen. Beständig beobachtet er von dort aus das Geschehen. Eine überaus kluge und gut umgesetzte Idee.

Unterstützt wird der Fortgang der Geschichte, Ortswechsel und die Atmosphäre insgesamt durch großflächige Videoprojektionen.

Kostüm
Es stehen sich im Musical Chess also gegenüber:
- Freddie und Anatoly als Gegner im Spiel und später in der Liebe
- USA und Russland im Kalten Krieg
- Florence und Svetlana als zwei, die durch ihr Interesse an der Person Anatoly getrennt werden, über ihn aber auch eine Ebene finden.
Die Kostüme (Conny Leders) sind alle, bis auf den Schiedsrichter, in schwarz. Dieser erscheint optisch entgegengesetzt in weiß.

Verlässt man sich auf das Thema Schach, heißt es: schwarz gegen weiß. Also alle gegen den Schiedsrichter. Und genau so verhält es sich. Der Schiedsrichter auf der einen Seite steht für die Regeln. Er mahnt mehrmals an, dass er die oberste Instanz ist, dass er aufpasst, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Auf der anderen Seite alle anderen in Schwarz, also die Gegner des Schiedsrichters: Alle gegen die Regeln.
Jeder bricht Regeln. Freddie sowieso, Spielregeln und die Regeln des guten Geschmacks für Geld, Anatoly entflieht seinem System, Florence wechselt zum Gegner, die Delegierten manipulieren, was das Zeug hält.
Und: alle sind Ausführende. Sie sind alle gleich, obgleich eine individuelle Note gerade den Egozentriker Trumper herausstechen lässt: Ebenfalls schwarz gekleidet, trägt er lässige Chucks und eine Röhrenjeans im Gegensatz zu allen anderen Anzugträgern. Dennoch sind alle schwarz gekleidet, sitzen alle im gleichen Boot, da alle Teil eines Systems sind, was nur bedingt Individualität erlaubt. Und das schöne ist hier, dass nicht einer Seite schwarz und der anderen Seite weiß zugeordnet wird, sondern dem Blick auf alle durch das Kostüm eine neutrale Sicht auf alle erlaubt. Es ist ja viel zu komplex, wer zu wem aufgrund auch immer hält. Am Ende, das singt Florence, kämpft jeder sowieso für sich selbst allein.
Einen sehr hübschen Farbakzent setzt jeweils das Ballett: In Meran huldigt es der großen Show des Amis: In knallrote Pseudo-Plastik-Tracht gekleidet verballhornen sie das Alpenklischee. In Bangkok dann fehlen dann nur die Dirndlröcke und schon wird ein Rotlicht-Latex-Kostüm daraus: jedem Volk sein Klischee.


Ansonsten tritt das Ballett als Schachfiguren auf, ebenfalls nur schwarze Schachfiguren, ihren menschlichen Vorbildern gleich.
Darsteller und ihre Rollen
Femke Soetenga als Florence Vassy
Florence ist, das zeigt der Prolog, eine Entwurzelte, die die Schrecken des Krieges als Kind kennengelernt hat und im ungarischen Volksaufstand den Vater verloren hat. In dem zum Ostblock zugehörenden Ungarn geboren, lebt sie zunächst bei Freddie in den USA. Hier begegnet sie den täglichen Tiraden, die Freddie gegen die Sowjets loslässt, fühlt sich dabei aber unbehaglich, sucht beständig den Ausgleich. Schließlich lässt sie sich auf Anatoly ein, sie wechselt quasi die Seiten. Während er im Westen bleibt und somit von Ost nach West wechselt, wechselt sie quasi vom US-Amerikaner Freddie auf die sowjetische Seite zu Anatoly.


Am Ende bleibt Florence, die von Anfang an Entwurzelte, alleine, egal, wohin sie sich in ihrem Leben auch gewendet hat. Sie wurde zwischen den Ideologien und Interessen der großen Mächte zerrieben und benutzt. Sowohl im Schach auch in der Weltpolitik muss taktisch manchmal eine Figur/ Person geopfert werden.
Femke Soetenga ist eine umwerfende Florence. Man merkt ihr an, dass sie diese Partie schon oft gesungen hat. Souverän meistert sie alle ihr Songs eindringlich und legt bisweilen eine meisterhafte Intensität an den Tag. Von gefühlvoll bis full Power in jeder Höhe bleibt ihre Darstellung makellos. Ihre Präsenz zwischen den zwei großen Stars Mark Seibert und Drew Sarich, mit denen auf den Plakaten geworben wurde, ist atemberaubend.
Drew Sarich als Frederick Trumper
Drew Sarich ist famos als Freddie Trumper. Er macht diesen Charakter zunächst ganz groß, laut und impulsiv. Dieser Extravertiertheit gibt er allen Raum und kombiniert diese mit einer überbordende Lässigkeit. Drew Sarich reizt das alles, wie man ihn kennt, genussvoll bis zum äußersten aus. Bis ganz nah an die Überzeichnung treibt er seinen Freddie und macht ihn beileibe nicht zum „guten“ Amerikaner. Lässig, laut, impulsiv, selbstsicher baut er diese Charakter auf, sorgfältig in allen Facetten, um dann im Song Pity the Child vollkommen zu zerfallen. Das ist eine große Kunst, und Pity the Child gehört zu den Momenten im Musical-Zuschauer-Leben, in denen man gefühlt fünf Minuten den Atem anhält, um nichts zu verpassen, weil man nicht weiß, ob man so etwas in dieser Intensität, dieser Qualität, dieser Wucht noch mal zu hören bekommt.

In diesem Lied offenbart Freddie seine emotionalen Wunden. Seine Sehnsucht nach elterlicher Anerkennung, seine Unsicherheit und seine Einsamkeit als Kind lasten schwer auf ihm. In diesen fünf Minuten zerstört er in einem inneren Monolog seinen Schutzpanzer aus Selbstsicherheit und Arroganz. Und Drew Sarich zerstört darin nicht nur seine Fassade, er stellt sich einem unvorstellbaren Schmerz in einer Intensität, die auch vom Zuschauer nur schwer auszuhalten ist und darin gipfelt, dass er sich mehrfach, rasend und wie von Sinnen mit einer Scherbe auf seinen Unterarm einsticht.
Es ist wirklich fantastisch, wie Drew Sarich seine Stimme so unter Kontrolle haben kann, während er spielt, wie er seine emotionale Kontrolle verliert. Das ist so Weltklasse! Am Ende hat sich Freddie „gemittelt“. Er findet seinen Frieden mit der Situation, dass er Sergievsky mit dem entscheidenden Tipp zum Sieg verhilft und somit trotz zweier Niederlagen (Spiel und Frau) integer bleibt.
Mark Seibert als Anatoly Sergievsky

Mark Seibert ist wunderbar besetzt als Anatoly Sergievsky. Er bleibt zunächst unnahbar. Glatt, nicht so recht greifbar, und damit „unangreifbar“. Beinahe emotionslos, im Gegensatz zu Freddie, denn Emotionen beeinträchtigen das Spiel. Nach und nach aber schält Seibert langsam und behutsam die Fassade ab vom nüchternen Schachspieler und gibt in seinen eher langsamen Songs ebenfalls einen Einblick in sein Seelenleben. Wunderschön gesungen. Ihm ist es wichtig, innerhalb seiner Möglichkeiten authentisch zu bleiben.
Reinwald Kranner als Schiedrichter
Leider war Reinwald Kranner einer der am stärksten Betroffene der dürftigen Tontechnik und war deshalb rein textlich kaum zu verstehen. Was aber auch ohne Text überdeutlich wurde, war, dass er seinen Part perfekt schultert. Er hebt sich optisch durch seine weiße Kleidung deutlich ab. Dadurch hat man ihn ständig im Blick und er füllt die entstandene Sonderrolle bestens aus. Oft auf den Schach-Mauern stehend beobachtet er immer konzentriert, das Geschehen auf der Bühne und vereint dabei bisweilen rockige Lässigkeit a la Trumper mit kritischer Pflichterfüllung wie Serievsky. Dabei ist er sowohl Schiedsrichter im Spiel als auch im übertragenen Sinne der Schiedsrichter im Kampf zweier Nationen, quasi die moralische Instanz, ein Gewissen.
Das macht er wunderbar. Stimmlich perfekt, mahnend, treibend, sehr energetisch.
Boris Pfeifer als Walter de Courcey
Walter de Courcey ist der Chef der Delegation um Freddie Trumper. Im zweiten Akt dann steht er an der Seite von Sergievsky. Allerdings nur scheinbar. Er handelt mit dem russischen Delegierten aus, das Spiel so zu manipulieren, dass Sergievsky verliert. Er handelt damit also gegen den eigenen Mann.

Boris Pfeifer stattet den Macher Walter mit großer Souveränität aus. Über die Stimme moduliert er eine selbstsichere Lässigkeit, so eine typisch amerikanisch-unverbindliche Vehemenz. Die stimmt er da perfekt auf Drew Sarich ab, der genauso ist, nur alles hundertmal intensiver. Beide gehören ins selbe System, das ist offensichtlich. Zusätzlich wirkt er hinter der Hand aber immer so, als müsse man vor ihm auf der Hut sein. In meinen Augen wirklich gesanglich und darstellerisch bravourös gelöst und ein würdiger Gegenspieler von seinem sowjetischen Kollegen.
Georgij Makazaria als Alexander Molokov
Wow, Georgij Makazarias Molokov hat mich umgehauen. Genauso wie Walter und Trumper in ihrer Art zusammenpassen, so ist auch Molokov Sergievsky ähnlich: Extrem ruhig, hat aber alles im Blick. Der zieht die Fäden mit Bedacht, aber dafür umso gewissenhafter. Er strahlt eine Unerschütterlichkeit aus, mit genau der gleichen Selbstsicherheit wie Sergievsky weiß er, dass er ein Meister ist in seinem Spiel. Ihn umgibt eine verdeckte Bedrohlichkeit.

So eine imposante Stimme, die einem da begegnet und so eine starke, bühnenfüllende Präsenz. Chapeau!
Pop-Chor
Extra hervorzuheben sind die drei fulminanten Stimmen und der großartige Zusammenklang von Anetta Szabo, Marjeta Urch und Michael Konicek. So präzise, so nuanciert in ganz vielen Stücken macht ihr Gesang das Musical zu einem echten Hochgenuss.

Kritik
Chess ist mit Sicherheit schwer auf die Bühne zu bringen, da es inhaltlich bisweilen eine größere Freiheit erlaubt. Andreas Gergen hat hier vor allem mit Bühnenmauer und den Kostümen einen sehr klugen interpretatorischen Ansatz gewählt. Aber zu perfekten 100% geht der nicht auf.
Der wichtigstes Kritikpunkt ist ein technischer: Die Tontechnik war miserabel. Jeder einzelne Sänger hat ordentlich Gas gegeben, aber angekommen ist im Publikum – bei mir auf alle Fälle – deutlich zu wenig. Das Orchester (Leitung: Victor Petrov) selbst war hinreichend aufeinander abgestimmt und spielte mit der Lautstärke, die ein Stück wie dieses braucht. Da war prinzipiell viel Mut dabei und hat die Vielschichtigkeit der Musik perfekt transportiert. Die Solisten hingegen waren viel zu wenig verstärkt, dass sogar ein Drew Sarich fast (aber nur fast) unterging. Dem sieht man zu wie er sich die Seele aus dem Leib singt und man wird wütend, weil so wenig davon ankommt. Bei allen anderen ähnlich. Bei einem so tollen und souveränen Sänger wie Reinwald Kranner als Schiedsrichter war so gut wie keinen Text zu verstehen. Da war Mark Seibert besser dran, der oftmals die ruhigeren Parts hatte, die waren deutlich besser verständlich. Ein echtes Ärgernis, da große Teile der Handlung verschwinden. So wirkt dann manches, was auf der Bühne passiert, eher zufällig. Schade um diese sonst wirklich tolle Inszenierung.
Zweiter, kleinerer Kritikpunkt: Fast wirkt es ein wenig so, als habe sich Gergen zu sehr auf die Musik und die Brillanz seiner Sänger und Sängerinnen verlassen und zu sehr ein Konzeptalbum verwirklicht. Für die Bühne hätten die Figuren aber meiner Meinung nach ein bisschen stärker geführt werden dürfen in Richtung Interaktion. Sie sind sehr plastisch herausgearbeitet, stehen aber am Ende doch sehr für sich allein, was ja auch dem Interpretationsansatz in die Hände spielt, dass am Ende sowieso jeder allein für sich kämpft.
Aber ein wenig mehr Beziehungsarbeit hätte dem ganzen schon gut getan. Die Liebesgeschichte zwischen Florence und Anatoly entsteht für den Zuschauer relativ unvermittelt (vor allem, wenn man keinen Text versteht), wie aus dem nichts. Sehr wenig Knistern vorhanden, aber auch tatsächlich sehr wenig Möglichkeiten, es auch knistern zu lassen. So dass ich mich schon frage: was wollen die eigentlich voneinander?
Selbst wenn es absichtlich so gewählt wurde, dass die Beziehung zwischen Anatoly und Florence für beide eher Zweck- denn Liebesgemeinschaft ist (sie will weg von Freddie, für ihn ist es anfangs vielleicht Sieg über genau diesen), bleibt die Figurenführung auch hier zu undeutlich.
Darum fühlt man am Ende gar nicht so mit, wenn sie das Ende ihrer Beziehung besingen. So wirklich waren die in Zuschaueraugen gar nicht zusammen. Insgesamt lassen einen die Figuren doch relativ kalt, es bleiben eher Einzelszenen im Gedächtnis, zum Beispiel Pity the Child, als ein entwickeltes Schicksal.
So ist Chess, inszeniert von Andreas Gergen für die Bühne Baden vor allem eines: ein Kunstgenuss der besonderen Art. Jeder Solist singt wirklich auf Weltklasse-Niveau. Die Quartette, Oktette und alle Chorsequenzen: himmlisch, wenn auch aufgrund der schlechten Tontechnik textlich nicht in vollem Umfang zu genießen. Für mich hat aber die innere Gänsehaut, die Anteilnahme, die einen vollends für eine Inszenierung einnimmt, nur stellenweise eingestellt.
Nichtsdestotrotz hat man das Gefühl, Teil etwas sehr großen, opulenten, kunstvollen gewesen zu sein. Wirklich großes Kino und wenn man es in konzertanter Fassung gesehen hätte (und der Ton besser abgemischt gewesen wäre), wäre es eine 10 von 10 gewesen. So bleibt es für mich eine immer noch fantastische 8,5 und die Empfehlung, es unbedingt zu sehen. Ein Erlebnis ist es aufgrund der herausragenden Darsteller und Darstellerinnen allemal.
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